Der Sonntag begann kühl, aber sonnig, und noch bevor es ganz hell war, hatte Clara bereits ihre Staffelei geschultert, beinahe im Laufschritt auf den Hügel am Johannesfeld getragen und genau dort aufgebaut, wo sie im Frühlingsgras die gestrigen Spuren der Staffelei des unbekannten Malers gefunden hatte. Ihre Wangen waren gerötet von der Morgenluft und der hinter ihr liegenden Anstrengung, als sie zügig begann, die unter ihr liegende Stadt mit einem Graphitstift auf die Leinwand zu skizzieren. Sie hörte allerdings gleich wieder damit auf, da sie noch ein wenig von der Anstrengung zitterte, setzte sich auf einen Stein und atmete erst einmal tief durch. Zu spät bemerkte sie, dass sie nicht mehr allein auf dem Hügel war.
»Ah, Madame Malerin sind aber schnell müde! Das waren doch erst zwei Striche. Ist der Stift zu schwer? Oder war die Nacht zu kurz?«
Vor ihr stand ein junger, schlanker Mann mit dunklen Haaren und einem Schnurrbart, der sie spöttisch anlächelte. Auffallend war vor allem, dass nicht nur sein Mund, sondern auch seine grünen Augen irgendwie lächelten, sie leuchteten Clara entgegen, und diese konnte sich gar nicht auf eine passende Antwort konzentrieren. Er trug einen auffallenden breitkrempigen Hut mit Feder, einen weißen Hemdkragen, einen breiten Gürtel, ein Gewehr, ein Schwert, ein Messer, Stiefel, die bis übers Knie reichten und seine Staffelei.
Er verbeugte sich kurz und zog den Hut.
»Gestatten, Georg Matthäus Vischer aus Tirol. Es ist doch erlaubt, dass ich meine Staffelei ebenfalls auf diesem schönen Hügel aufbaue, Madame Malerin?«
Clara lachte laut auf, er hatte so einen eigenartigen Akzent, das Tirolerische hatte sie schon einmal auf dem Paulimarkt gehört. Wegen des Lachens würde ihr die geplante gespielte Empörung ohnehin nicht mehr gelingen, also beschloss sie, sich freundlich zu geben.
»Ich bin Clara Hanff. Was macht ein Mann aus Tirol bei uns in Freistadt?«
»Ich helfe mit, unser Land zu verteidigen, sieht man das nicht? Die Schweden sind im nördlichen Land unter der Enns, die wiederholte Bedrohung des Mühl und Machlandviertels durch in Böhmen operierende schwedische Heere macht starke Verteidigungsmaßnahmen erforderlich und damit meine Anwesenheit in Freistadt.«
Er lächelte dabei so charmant, dass Clara einfach zurücklächeln musste. So eine geschraubte Ausdrucksweise und noch dazu auf Tirolerisch hatte sie nie zuvor gehört, vor allem nicht von so einem Burschen. Überhaupt war ihr noch niemals jemand begegnet, der so von sich eingenommen war und dabei nicht unsympathisch.
»Clara, ein schöner Name, er passt zu euch. Was macht ihr am Sonntag zu so früher Stunde hier heroben? Wart das nicht ihr gestern da unten mit dem anderen Mädchen?«
Ohne auf eine Entgegnung zu warten, zog er aus seiner Mappe eine Skizze hervor, die er gestern von ihnen beiden gezeichnet haben musste. Clara hätte schwören können, dass er sie nicht einmal wahrgenommen hatte, doch da hatte sie sich wohl geirrt. Auf dem Papierbogen waren Martha und sie in der Ferne vom Hügel aus zu sehen, wie sie auf dem Baumstamm saßen und miteinander plauderten, dahinter die Stadt. Die Zeichnung war recht gut gelungen, wenngleich an der Perspektive so manches verrutscht war, aber dieser Georg Matthäus Vischer hatte zweifellos Talent, und er wusste es.
»Ja, das ist Martha, meine Freundin. Wir hatten ein ernstes Gespräch unter Frauen über unsere Zukunft, eure Zeichnung zeigt eher eine belanglose Plauderei unter Mädchen, trotzdem ist sie sehr gelungen. Ihr seid also im Krieg, um zu zeichnen? Wozu braucht ihr dann die vielen Waffen?«
»Clara, na na, ihr habt ja keine Ahnung. Hinter jedem Busch könnte ein Schwede auf mich lauern, mir zum Beispiel diese wertvolle Zeichnung entreißen, oder ich müsste euch verteidigen, was ich natürlich mit all meinen Möglichkeiten tun würde.« Wieder dieses charmante Lächeln, das Clara einfach erwidern musste.
Der halbe Vormittag verging damit, dass Georg Matthäus Vischer und Clara Hanff sich gegenseitig so einiges über sich erzählten und zum vertrauten »Du« übergingen.
Clara erfuhr, dass Georg in Wenns in Tirol geboren war und dass sein Vater Bauer und Verwalter des Getreidespeichers des Zisterzienserstiftes Stams, aber schon seit zehn Jahren verstorben war. Er selbst hatte im Stiftsgymnasium die Schule besucht. Seine Mutter hatte gerade wieder geheiratet, einen Mann, den er noch gar nicht kannte, weil er ja als Söldner unterwegs war.
»Das Stiftsgymnasium war interessant, es gibt dort wunderschöne Atlanten und Globen – du nickst, also weißt du auch, was das ist. Als ich fünfzehn wurde, habe ich mich heimlich aus dem Kloster weggeschlichen und bei den Soldaten gemeldet. Zuerst waren wir im Schwarzwald im Raum Schwäbische Alb unterwegs, dort habe ich mich einer Reitereinheit angeschlossen. Ich habe sehr viel gelernt in diesen zwei Jahren, mir mathematische und kartografische Grundkenntnisse angeeignet. Ich möchte später einmal eine Landkarte meiner Reisen zeichnen. Und deshalb fange ich jetzt einmal damit an, Freistadt zu zeichnen und eine seiner hübschen Bewohnerinnen. Darf ich dich porträtieren?«
Clara nickte gottergeben, denn er hatte längst angefangen – noch während er redete – sie zu zeichnen. Sie strich sich die Locken aus der Stirn und befragte ihn näher zur Technik des Landkartenzeichnens.
Der Tag verging schnell und überaus spannend. Clara brachte ihre Zeichnung der Stadt zu Ende und Georg beobachtete und zeichnete. Er fand die junge Frau bemerkenswert, die so gut mit dem Graphitstift umgehen konnte. Die beiden verstanden sich gut und Georg hatte nach kurzer Zeit auch seine Natürlichkeit wiedergefunden. Er merkte, dass sich Clara für ihn interessierte, auch ohne dass er sie auf übertriebene Weise beeindrucken musste. Dennoch blieb etwas Neckendes zwischen den beiden bestehen.
Michaela Swoboda
Auszug aus dem Roman: Vischers Vermessenheit, Salzburg, Pustet, 2013
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