Schnee

Es schneit. Seit Tagen fallen, mal größere, mal kleinere, mal schnell, mal langsam, Schneeflocken vom Himmel herab. Am Anfang bildete sich nicht mehr als eine dünne, weiße Schicht am Boden, die in den kurzen Pausen des Schneefalls innerhalb weniger Minuten wieder verschwunden war. Nasse Straßen, wie nach leichtem Regen, waren das Einzige, was zurückblieb. Das ist allerdings schon eine Weile her. Mittlerweile schmilzt der Schnee nicht mehr. Stellenweise liegt er sogar einen Meter hoch. Das ist ungewöhnlich. Jahrelang gab es nicht mehr einen derart starken Wintereinbruch. Zumindest nicht in dem kleinen Dorf im Nordosten Niederösterreichs. Natürlich ist die Gemeinde auf diese Schneemassen nicht vorbereitet, was zur Folge hat, dass die Straßen nicht ordentlich geräumt werden können, was wiederum die Einwohner in ihrer Mobilität sehr einschränkt. Vor allem sind jene Menschen betroffen, die in höher gelegenen Teilen des Dorfes leben, da ein Auto hier noch weniger zu gebrauchen ist, falls man es denn überhaupt schafft, es freizuschaufeln.

Wie auch immer. In diesem Dorf, auf eben einem dieser höheren Plätze, wohnt eine kleine Familie. Sie waren mal zu fünft, also Mutter, Vater und ihre Kinder, aber jetzt sind es nur noch drei Personen, deren Lebensmittelpunkt hier verankert ist. Die beiden Töchter und der Sohn sind nach und nach ausgezogen, vor vier Jahren wurde dann die letzte Kiste aus dem Haus ins Auto gehievt. Jetzt sind nur noch die Eltern übrig. Plus der Vater der Mutter, der nicht mehr alleine leben kann. Alfred ist 86, klein und stämmig gebaut und leidet an zunehmender Demenz. Seit seine Frau vor drei Jahren verstorben ist, geht es immer schneller bergab. Deshalb hat seine Tochter ihn kurz nach dem Tod seiner Gattin zu sich geholt, in den kleinen Ort nahe der tschechischen Grenze. Er fühlt sich wohl. Er muss sich um nichts kümmern, kann einen sorgenfreien Lebensabend bei seiner Familie verbringen. So gut es geht, versucht er niemanden zu stören, hilft, wo er kann, und bemüht sich in eigentlich allen Dingen, die er tut. Trotzdem ist es nicht immer einfach, zum Beispiel ist die Mülltrennung immer wieder ein großes Problem, genauso wie die Rücksicht auf die zahlreichen Haustiere. Nicht nur einmal sind die zwei Hunde aus dem Tor gelaufen, weil Alfred es offen gelassen hat, oder ist eines der Meerschweinchen verloren gegangen und wurde von einer der fünf Katzen als Spielmaus verwendet. Auch sind die Gesprächsthemen nichts für jedermann, schon gar nicht während des Mittagessens. Zu hören, wie gut oder schlecht sein Stuhlgang im Moment läuft, während man eine extra große Portion Gulasch essen möchte, ist nicht gerade ein Genuss. Zusehen zu müssen, wie er sein Essen hineinschlingt und ihm die Hälfte wieder aus dem Mund herausfällt, ist allerdings auch nicht besser.

Jedenfalls ist der Hausherr mit seiner Frau für die nächsten drei Wochen auf Reisen. Indien. Schon der sechseinhalbstündige Hinflug war eine Katastrophe. Der Snack, der serviert wurde, hat nicht geschmeckt, die Stewardess war unfreundlich, die Toilette schmutzig und der Inder neben ihnen hat sich permanent im Schritt gekratzt (eine Eigenheit der Kultur, die für Außenstehende zu Beginn für Befremden sorgt). Während also Vater und Mutter den Subkontinent erkunden und da Alfred das Haus alleine nicht bewirtschaften kann, muss noch jemand auf den alten Mann und den Rest aufpassen. Das Los traf Marie, die mittlere Tochter. Die beiden Geschwister haben leider zu viel mit dem Studium oder der Arbeit zu tun. Marie nimmt das Studium und die Arbeit ein bisschen lockerer, schaut nur vorbei, wenn es unbedingt sein muss. Die Eltern wissen das natürlich nicht, sie denken Marie pendelt jetzt vier Mal in der Woche und ist auf dem besten Weg, Ärztin zu werden. Dass sie schon vor zwei Jahren das Medizinstudium abgebrochen hat, um Germanistik zu studieren, wissen sie nicht. Es scheint sie auch nicht besonders zu interessieren. Dennoch wollte sie ihren Eltern einen Gefallen tun, packte das Notwendigste in ihre Reisetasche, setzte sich ins Auto, das sie sich von ihrem Bruder ausgeliehen hatte und fuhr aufs Land.
Nach fünfzigminütiger Fahrt war Marie nur noch wenige Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Von der Landstraße aus konnte man schon die üppige Kirche sehen, die über dem Dorf auf dem Kirchberg thront, als wollte sie die kleine Gemeinde zu jeder Zeit daran erinnern, dass Gott zusieht.

Kurz abgelenkt von dem Anblick der Kirche bemerkte Marie nicht, dass von den Feldern neben der Straße ein Sprung Rehe, es waren ungefähr vier oder fünf, gerade dabei war, ihren Weg zu kreuzen. Es war fast zu spät, als sie die Tiere endlich sah. Sie bremste scharf ab, nicht zu stark, um einen Schleudervorgang zu vermeiden, denn man wusste ja nie, wie das Auto bei solchen Temperaturen, es hatte schließlich elf Grad unter null, reagieren würde. Nacheinander hopste das Wild über die Straße. Eines der Rehe blieb stehen und blickte in Richtung der Lenkerin. Nur noch wenige Meter bis zum Aufprall. Marie schloss die Augen. Sie erwartete den dumpfen Knall. Nichts geschah. Als sie die Lider wieder aufschlug, war das Reh verschwunden. Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Sie drehte den Kopf nach links und da war es. Lebendig. Frisch-fröhlich lief es zu seiner Gruppe, die sich im Windschutzgürtel am Ende des Feldes versammelt hatte. Glücklich darüber, dass dem Tier und dem Auto nichts passiert war, trat sie aufs Gas und erreichte bald die Ortseinfahrt.

Die Strecke von der Hauptstraße zum Wohnhaus war schwieriger als gedacht, die Seitenstraßen waren vollkommen vereist, vor allem der Weg den kleinen Berg hinauf gestaltete sich äußerst riskant. Marie ist es allerdings gewohnt, hierher zu fahren, schließlich verbrachte sie achtzehn Jahre ihres Lebens an diesem Ort und kennt die Verhältnisse zu dieser Jahreszeit. Mit mehr oder weniger gewagten Manövern bugsierte sie den Wagen ans Ende der Straße, wo ihr ehemaliges Zuhause aufragte wie eine Burg.

Als Marie ankam, waren ihre Eltern schon weg. Drei Wochen allein mit einem demenzkranken Mann. Nicht gerade die ultimative Auszeit von Arbeit und Studium, aber immerhin würde sie ein bisschen an ihrem Roman schreiben können. Sie parkte das Auto mitten auf der Garageneinfahrt, da jetzt sowieso niemand hinein- oder hinausfahren würde, und steigt aus. Der kalte Wind nahm ihr fast den Atem, ihre Augen begannen zu tränen. Schnell holte sie das Gepäck aus dem Kofferraum, gleichzeitig kramte sie in ihrer Jackentasche nach dem Hausschlüssel. Nachdem sie den Wagen abgeschlossen und das auch noch einmal kontrolliert hatte, machte sie sich durch den Vorgarten auf zum Eingang, wobei sie sich ein bisschen ärgerte, da die Tür im Gartenzaun offen war. Wahrscheinlich hatte ihr Großvater vergessen, sie wieder zu schließen, als er nach den Mülltonnen sehen wollte. Für Marie war das unbegreiflich, warum musste er auch hinausgehen? Wozu muss er immer Dinge kontrollieren, die keine Kontrolle brauchten? Bestimmt war auch das Tor in den großen Garten offen und die Hunde längst über alle Berge. Das wäre typisch. Marie packte den Schlüssel zurück in ihre Jacke und machte sich auf, um von der anderen Seite in das Haus zu gelangen, da sie durch diesen kleinen Umweg sehen konnte, ob wenigstens diese Tür verschlossen war. Sie war nicht offen. Also kein Grund zur Sorge, nichts passiert. Insgeheim hätte sich Marie das Gegenteil gewünscht, nur um sich noch mehr über ihn aufregen zu können. Zähneknirschend umrundete sie also den kleinen Palast, der für ihre Eltern mittlerweile viel zu groß war. Nach wenigen Metern kam ihr schon die Hundestaffel, alle mit wedelndem Schwanz, entgegen. Eine kurze Begrüßung musste natürlich sein, danach ging es weiter zur hinteren Tür, die in die Küche führte.

Alfred begrüßte sie als wäre sie erst heute Morgen aus dem Haus gegangen, obwohl sie sich seit zwei Monaten nicht mehr gesehen hatten. Seelenruhig blätterte er in seiner Tageszeitung von gestern, vermutlich nicht zum ersten Mal, und nickte Marie kurz zu, dann wollte er noch wissen, ob sie denn etwas zu Essen mitgebracht hätte. Das war alles.

Das ist jetzt zwei Wochen her. Heute ist ein grauer Dienstagnachmittag. Wenn man aus dem Fenster sieht, kann man beobachten, wie die Schneeflocken langsam zu Boden rieseln. Dicke Flocken, die es beinahe unmöglich machen, irgendetwas anderes als eine einzige weiße Wand wahrzunehmen. Marie und Alfred sitzen im Esszimmer. Vor Marie steht ein Laptop, vor Alfred liegt eine Tageszeitung. Seit zwei Stunden sitzen sie sich gegenüber und sind beide in ihre eigene Arbeit vertieft. Weitere zehn Minuten später ist Alfred mit der letzten Seite des letzten Artikels fertig. Er lehnt sich zurück. Ein Blick auf seine Armbanduhr, auf sein aufklappbares Pensionistentelefon, dann aus dem Fenster. Nichts davon kann ihn länger als vier Sekunden unterhalten. Er sieht seine Enkelin an, deren Augen starr auf den Bildschirm vor ihr gerichtet sind.

„Schlimm, das mit dem Schnee“, Alfred spricht den ersten Gedanken aus, der ihm in den Sinn kommt.
„Hmmm“, Marie hat ihm nicht zugehört.
„Was schreibst du? Zum Studieren was?“
Marie antwortet nicht. Alfred hakt nach: „Schreibst sicher was für den Doktor.“
„Hmmm?“, Marie sieht auf.
„Was du schreibst?“, wiederholt er.
„Was für mich.“
„Nichts fürs Studieren?“
„Nein, Opa, ich bin ja schon fertig“, Fragen über das Studium beantwortet Marie immer ein bisschen sarkastisch. Sie mag es nicht, von Familie, Verwandten und Bekannten in die Schublade der „perfekten Studentin“ gepackt zu werden, so wie ihre Geschwister.
„Achso, jaja“, Alfred tut so, als würde er wissen, wovon sie spricht. Müde schlägt er seine Zeitung zu und betrachtet die Titelseite. Ist das Blatt von heute oder von gestern? Er ist sich nicht sicher. Ein weiteres Mal öffnet er es und beginnt zu lesen. Marie kann es kaum fassen.

Sie widmet sich wieder ihrem Romanversuch. Erst hätte es nur eine Kurzgeschichte werden sollen, drei, vielleicht vier Seiten, ist aber mittlerweile auf das Dreißigfache herangewachsen. Jeden Tag zwei. Mehr nicht. Thomas Glavinic macht das auch so, wenn er ein Buch schreibt. Nicht zu viel, sonst verliert man die Lust. Jetzt hat Marie den Faden verloren. Das Gespräch mit Alfred und die Gedanken an Thomas Glavinic haben sie aus dem Konzept gebracht. Sie liest den letzten Absatz. Gar nicht so schlecht. Aber wie geht es weiter? Sie atmet tief ein, hält kurz die Luft an und stößt sie wieder heraus. Ein Espresso. Das wird helfen.

„Magst du auch einen Kaffee?“, fragt sie, als sie vor der Nespresso-Maschine steht, die sie ihrem Vater vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt hat.
„Aber ja“, gleichgültig blättert Alfred weiter. Sieht sich vermutlich das arme Mädchen auf Seite sechs an, kommt es Marie in den Sinn. Johannistrieb nennt man das. Also das Bedürfnis älterer Männer oder Frauen nach sexuellen Beziehungen oder besser gesagt, das bloße Reden davon. So hat ihr das zumindest ihr Vater erklärt. Genauso ist es auch bei Alfred. Seit Jahren gibt es für ihn kein anderes Thema, alles erinnert ihn an das Eine. Sogar Marie und ihre ältere Schwester. Sätze wie „Wenn ich dich seh, könnt‘ mir was einfallen“, sind noch von der harmlosen Variante. Natürlich meint er nicht wirklich, was er sagt, oder vielleicht schon, aber er weiß eben nicht mehr so genau, was er von sich gibt und wie schmal der Grat zwischen Humor und Perversion in diesem Fall ist.

Marie serviert den Kaffee. Für Alfred mit Milch und Süßstoff, für sich selbst kurz und schwarz. Sie widmet sich wieder dem unvollendeten Satz. Immer noch weiß sie nicht, wie es weitergehen soll. Ohne aufzusehen nimmt sie einen Schluck von ihrem Espresso. Sie verzieht das Gesicht. Zu bitter. Wie sie es am liebsten hat.

„Hast einen Freund?“, fragt Alfred, wie aus dem Nichts.
„Bitte?“ Sie hat ihn schon verstanden, ihr ist aber nicht klar, warum er das schon wieder wissen möchte. Erst gestern hat er sie nach ihrem Liebesleben gefragt.
„Na, einen Mann? Einen Liebhaber?“, er spezifiziert seine Formulierung, falls Marie ihn wirklich nicht verstanden hat, „Oder hast du keine Zeit für sowas?“
„Nein, Opa, ich hab keinen“, genervt hämmert sie auf ihre Tastatur ein, ohne wirklich Worte zu produzieren, nur um Alfreds Fragerei aus dem Weg zu gehen. Leider versteht er einen solchen Wink nicht und spricht ungeniert weiter: „Du musst dir schon Zeit nehmen für die Liebe, sonst verkommst!“
„Das seh ich nicht so.“

Alfred zuckt mit den Schultern, nimmt einen letzten Schluck von seinem großen Braunen, steht auf und geht ins Wohnzimmer, wahrscheinlich um ein bisschen fernzusehen. Marie ist erleichtert. Trotzdem muss sie ihm schnell folgen, denn Alfred kann den Fernseher nicht alleine einschalten, das heißt, er würde sich in seinen Sessel setzen, die Beine hochlegen und in den ausgeschalteten Apparat starren, auch ein paar Stunden, wenn es sein muss. Als Marie das zum ersten Mal sah, fand sie das unglaublich traurig. Als sie ihn fragte, warum er denn nicht Bescheid gebe, es wäre schließlich kein Problem für sie, den Fernseher anzumachen, meinte er bloß: „Ach, ich wollte dich nicht belästigen.“ Der Gedanke, dass dieser alte Mann einfach ins Leere blickt, nur um sie nicht zu stören, zerriss ihr beinahe das Herz. Marie nimmt dieses kleine Ereignis als den Beweis für die Gutmütigkeit ihres Großvaters. Es hilft ihr ein bisschen, über die zahlreichen Ärgernisse hinwegzusehen, mit denen sie tagtäglich konfrontiert wird. Er tut sein Bestes, dafür sollte man ihn nicht bestrafen.

Ohne ein Wort tut sie ihm den Gefallen, schaltet den Fernseher ein und stellt sogar Alfreds Lieblingssender ein: ORF 2. Alfred nickt ihr dankend zu. Nachdem Marie wieder im Esszimmer verschwunden ist, schließt er die Augen. Eine Weile hört er noch, wie Wolfram Pirchner irgendeinen Sportler interviewt – Alfred kennt ihn nicht – bevor er endgültig in einen tiefen Schlaf versinkt. Die meiste Zeit, die er vor dem Fernseher zubringt, schläft er. Sein einziges Interesse gilt den Nachrichten oder alten Filmen, die allerdings nur an Sonntagen und Feiertagen laufen. Er würde Marie gerne sagen, dass er nur ins Wohnzimmer geht, um ein kleines Nickerchen einzulegen, also eigentlich seine Ruhe haben möchte, aber er befürchtet, sie könnte es falsch verstehen und wütend oder gar traurig werden. Sie will ihm doch nur helfen. Alfred weiß das zu schätzen, daher wird er wohl weiterhin den Lärm ertragen.

Marie steht im Esszimmer und sieht aus dem Fenster. Sie denkt an ihren Exfreund. Warum hatten sie sich nochmal getrennt? Es wurde ihm zu ernst. Nach sechs Monaten hat er sie verlassen. Einfach so. Sie wollten Freunde bleiben, aber es funktionierte nicht lange. Seit fünf Wochen haben sie sich nicht mehr gesehen, voneinander gehört oder gelesen. Am Anfang war es für Marie schwer, ihm nicht zu schreiben oder ihn anzurufen. Aber mit jedem Tag wurde es leichter. Heute würde sie sich gerne bei ihm melden, nur um zu fragen, wie es ihm denn geht, was er so tut, warum er nichts von sich hören lässt. Letzteres möchte sie nicht wissen. Vielleicht hat er eine andere. Das wäre unerträglich für sie. Was ist, wenn er eine Neue hat? „Please don't be in love with someone else“, eine Zeile aus einem Song, allerdings weiß sie nicht aus welchem. Große Worte, die sie selbst gerne gesagt hätte, aber es eben nicht getan hat. Bevor die Gedanken zu tief gehen, wankt Marie in die Küche und macht sich noch einen Espresso. Sie versucht, nicht zu weinen, es gelingt nicht ganz, ein paar Tränen laufen doch herab. Um sich wieder zu beruhigen, setzt sie sich zurück an den Tisch und macht da weiter, wo sie vor wenigen Minuten aufgehört hat. Die Tasse Kaffee stellt sie neben die, die sie vorhin schon gemacht hat.

Während die beiden ihren Nachmittagsbeschäftigungen nachgehen, wird das Schneetreiben immer heftiger. Irgendwo, weit hinten im Garten, rollt sich der Husky der Familie auf dem zugefrorenen Teich zusammen und lässt sich von den größer werdenden Flocken einschneien. Die Schnauze tief im buschigen Schweif vergraben, genießt die zehn Jahre alte Hündin die Kälte. Langsam erscheint auch der Mond am Himmel. Erst nur schemenhaft, man kann ihn nur erahnen, aber mit jeder verstreichenden Minute wird er deutlicher. Es ist Vollmond. Innerhalb von fünfundzwanzig Minuten ist es stockdunkel geworden. Auf dem Teich sieht man nur noch eine beinah ebene Fläche, mit einer kleinen Erhebung in der Mitte. Plötzlich bewegt sich das weiße Etwas, steht auf, streckt sich ausgiebig, schüttelt den Schnee ab und läuft schnellen Schrittes zum Haus. Zurück bleibt nur ein aufgewühlter Haufen gefrorenes Wasser. Auch dieser wird bald verschwunden sein.

Marie hat das Schreiben für heute aufgegeben. Auf Youtube hat sie eine ziemlich gute Aufnahme von Johnny Cash Live at Folsom Prison gefunden. Sie wollte sich schon längst die Platte kaufen, allerdings hat sie noch keinen Plattenspieler, beides muss warten, bis sie wieder mehr Geld auf dem Konto hat. Nummer vierzehn dieses Auftritts von Cash ist ein Duett mit June Carter: „Jackson“. Zu dieser Zeit waren sie noch gar nicht verheiratet. Marie schmunzelt. Sie findet die Geschichte von Johnny und June sehr romantisch. Sie gemeinsam singen zu hören, macht die junge Frau immer wieder glücklich. Ihr Exfreund hat nie verstanden, warum sie die Liebesgeschichte zweier Menschen, die sie nicht kennt und die mittlerweile seit über zehn Jahren tot sind, so fasziniert. Es gibt eben nicht für alles eine Erklärung, war Maries Standpunkt. Sie hätte wahrscheinlich selbst gern eine solche Geschichte. So einen Mann. So ein Leben.

Im Zimmer nebenan schläft Alfred immer noch. Sein Kinn ruht auf seiner Brust, auf seinem Schoß hat es sich eine der Hauskatzen gemütlich gemacht. Er träumt von seiner Frau. Es gibt keinen Traum ohne sie. Diesmal sitzen sie gemeinsam in ihrem alten Haus im Wohnzimmer und sehen fern. Sie löst nebenbei ein Kreuzworträtsel, er beobachtet sie dabei. Er spricht mit ihr, aber sie ignoriert ihn, versucht sich weiter an dem Rätsel. Alfred steht auf und schreit sie an. Keine Reaktion. Nach einer Weile blickt sie auf, sieht ihm direkt in die Augen. Alfred dreht sich um und geht aus dem Zimmer in den Garten. Einen Moment bleibt er in der Sonne, es ist warm. Ein Knall. Alfred wacht auf. Im Fernsehen läuft ein Bericht über eine Jagd. Der rote Kater auf ihm zwinkert ihm zu, auch er ist durch den Schuss erschrocken. Alfred streicht ihm über den Kopf. Müde rollt sich das Tier wieder zusammen. Durch das Fenster sieht der alte Mann die Schneemassen. Jemand sollte die Terrasse freiräumen, fällt ihm ein. Vielleicht kann er das morgen machen. Oder Marie. Von hinten kommt gerade der Husky gelaufen. Alfred fragt sich, was der Hund wohl alleine am anderen Ende des Gartens getan hat. Während er darüber nachdenkt, fallen ihm langsam die Augen zu.

Marie hört immer noch Musik. Im Moment ist es „Knocked Up“ von Kings of Leon, eines ihrer Lieblingslieder. Es war sogar im Repertoire ihrer Band, die sich vor fünf Jahren aufgelöst hat. Was der Rest der Gruppe jetzt macht? Schon vor einer Weile hat sie den Kontakt zu ihnen verloren. Zwei von ihnen haben eine neue Band, aber ob es die noch gibt? Ein Blick auf die Uhr verrät Marie, dass es schon längst Zeit für das Abendessen ist. Ihr Großvater ist bestimmt schon hungrig. Schnell geht sie in die Küche und macht ihm einen Schinken-Käse-Toast. Für sich selbst schneidet sie ein bisschen Obst in das Naturjoghurt, das sie im Kühlschrank gefunden hat.

Wieder sitzen sich der alte Mann und die junge Frau gegenüber. Schweigend essen sie, was Marie zubereitet hat. „Schmeckt‘s dir?“, fragt sie, als Alfred fast fertig ist. Er nickt. Ohne aufzublicken isst er weiter. Zwischendurch nimmt er einen Schluck von seinem weißen Spritzer. Marie schmunzelt, seine Tischmanieren sind wirklich mehr als dürftig. In ein paar Tagen ist es endlich vorbei. Sie sieht aus dem Fenster. Es dauert einen Moment, bis sie merkt, dass es aufgehört hat zu schneien.

Anna Bartl

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 16018

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Ein Gedanke zu „Schnee

  1. Michael

    Guten Tag, ich möchte Frau Anna Bartl gerne herzlich zu ihrer Geschichte gratulieren! Von der "Ouvertüre" bis zum "Finale" habe ich Ihre Zeilen voller Spannung aufgesogen. Diese Dame hat wirklich Talent! Es wäre schön, alsbald wieder eine Geschichte von ihr zu lesen.
    Mit den besten Grüßen, Michael M.

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