Ein Skarabäus nach dem anderen läuft über meinen Bauch. Ich spüre sie an meinen Beinen hochlaufen; versuche, ruhig zu atmen und nicht zu schreien. Ein Skarabäus steht für ein langes und fruchtbares Leben, hat deine Mutter immer gesagt. Die Luft riecht nach Regen; es wäre eine Erleichterung nach der Hitze der vergangenen Wochen, gäbe es jetzt ein heftiges Gewitter. Ich rieche Flieder, Rosen und Zitrusfrüchte sowie einen Hauch Lavendel. Es ist der Garten deiner Eltern, ich stehe im Arkadenhof. In seiner Mitte wachsen Lavendel, Flieder und ein Zitronenbaum. Die Auffahrt wird von Wildrosen umzäunt. Ein leichter Wind bringt eine frische Meeresbrise mit sich.
Für gewöhnlich setze ich mich zum Brunnen und lasse mir von deiner Großmutter aus dem Kaffeesatz lesen. Sie sagt mir immer ein langes Leben voraus; auf meine Frage, ob es auch ein glückliches wird, lächelt sie nur wissend. Die Enden des schwarzen Schals, den sie sich locker über die Haare gelegt hat, wehen sanft im Wind. Trotz ihrer neunzig Jahre ist ihr Gesicht noch immer schön und ausdrucksstark. Der Blick ihrer noch immer tiefschwarzen Augen bestechend klar; manchmal ist es unmöglich, dem Blick dieser Augen standzuhalten. Langsam legt sich jetzt der Geruch von gebratenem Fisch über den Garten.
Ich glaube, deine Mutter bereitet den Fisch zu, den dein Vater gefangen hat. Ich habe sie immer um ihre Kochkünste beneidet. Und um ihre Schönheit, obwohl du immer gesagt hast, ich stünde ihr um nichts nach. Trotz dreier geborener Kinder war sie schlank wie ein junges Mädchen und ihre Haut erinnert an Nougat. Das hüftlange, pechschwarze Haar hatte sie meist im Nacken verknotet und ihre bernsteinfarbenen Augen strahlten Lebenslust und Energie aus. Und immer hatte sie ein türkisfarbenes Skarabäusamulett um den Hals; ein Erbstück ihrer Ururgroßmutter. Kurz vor ihrem Tod hat sie es mir geschenkt.
Ich gehe durch den großen Garten; mein Lieblingsplatz ist unter einer alten Zeder, wo ich im warmen Gras sitzend lese und träume. Dein Vater hat mir einmal erklärt, dass es sich bei dieser Zeder um eine Libanonzeder handelt; nun, die Botanik hat noch nie zu meinen Spezialgebieten gehört, weshalb ich leider seine Ausführungen zu den einzelnen Pflanzen im Garten schon wieder vergessen habe. Während ich durch den Garten gehe, höre ich Vögel zwitschern, das Meer rauschen und sehe Schmetterlinge fliegen. Ich bleibe stehen, schließe meine Augen und bin ganz bei mir. Erst als ich meine Augen wieder öffne, realisiere ich, dass ich am Ende der Auffahrt stehe und vor mir nur das weite Meer sehe, das mit dem Horizont zu verschmelzen scheint. Vom Hafen sind Möwen zu hören und das Rauschen des Wassers.
Es ist ein Traum; ein Traum gegen das Vergessen. Nur langsam realisiere ich, wo ich bin. Leise, um meinen Mann nicht zu wecken, gehe ich hinaus auf den Balkon unseres Hotelzimmers. Nach jahrelangen Individualreisen machen wir nun zum ersten Mal einen Pauschalurlaub in einem Club in Bodrum. Ins Haus deiner Eltern kann ich nicht fahren; die Erinnerung würde mich umbringen. Obwohl ich weiß, dass ich deinem Bruder Ali immer ein willkommener Gast bin; auch mit meinem neuen Mann. Ich habe auf September bestanden, weil es schon die Nachsaison ist. Ich bin es im Alltag gewohnt, von vielen Menschen umringt zu sein. Ich habe es doch noch geschafft, eine große Familie zu gründen, aber von Zeit zu Zeit bin ich froh, wenn ich nur Stille um mich habe.
Ich träume oft vom orientalischen Garten deiner Eltern; der Traum ist nie bedeutungslos. Trägt deine Großmutter einen weißen Schal, ist etwas Gutes zu erwarten, der schwarze Schal hingegen steht für schlechte Neuigkeiten. Und an deinem Todestag sehe ich immer deine Mutter; nur du lässt dich nie blicken. Heute Nacht aber war mein Traum menschenleer und ich frage mich, ob du mich nun endgültig verlässt. Auch wenn du seit zwanzig Jahren tot bist, fehlst du mir noch oft. Ist es denn fair, den einen Menschen schon mit Ende zwanzig zu verlieren? Du bist als Schatten immer bei mir. Du warst bei mir, als ich geheiratet habe, als ich meine Kinder geboren habe, einfach in jedem Moment meines Lebens. Und auch wenn ich dich in meinen Träumen nie sehe, spüre ich doch deine Gegenwart. Doch heute hast du mich einfach im Stich gelassen. Du hast mir nur scheinbar endlos viele Skarabäen geschickt, denn genau wie deine Mutter hast du an ihre glückbringende Wirkung geglaubt.
„Ist es wieder dieser Traum?“ Herbert – mein Mann – umarmt mich von hinten. Ich drehe mich nur um und lehne meinen Kopf an seine Brust. „Ja.“ Auch wenn er nichts sagt, weiß ich, dass er tief verletzt ist und sich einmal mehr wünscht, dass du nicht mehr gegenwärtig wärst. Auch über uns bist du immer wie ein Schatten gelegen. Manchmal drückend präsent und manchmal scheinbar unauffindbar. Und ich kann ihn verstehen. Er kennt die Details unserer Geschichte und weiß, wie sehr dein Tod mich gebrochen hat. Für ihn ist es so, als würde ich dich nicht loslassen wollen. Und es tut mir so unendlich leid, dass ich es ihm nicht begreiflich machen kann, dass es mir selbst nicht ganz klar ist, warum du mich noch immer so verfolgst. Es tut mir weh zu wissen, dass Herbert sich manchmal von mir nicht geliebt fühlt.
2004 bin ich mit achtzehn Jahren nach Wien gekommen und ins Studentenheim gezogen. Du hast im Zimmer gegenüber gewohnt und es hat nicht einmal zwei Stunden gedauert, bis wir uns ineinander verliebt hatten. Şeftalem hast du mich genannt, mein Pfirisch. Weil ich Pfirsiche liebe und şeftale mein liebstes Wort auf Türkisch ist. Noch immer erinnere ich mich daran, was für ein lebensfroher und begeisterungsfähiger Mensch du warst. Und ehrgeizig; alles musstest du zu einem Ende bringen. So hast du es geschafft, vier Sprachen fließend zu sprechen, dein Studium in Bestzeit abzuschließen und dich neben allem auch noch sozial zu engagieren.
Am meisten aber habe ich deine Aufmerksamkeit geliebt. Jeden Samstag bist du in aller Frühe zum Brunnenmarkt gegangen, um mir frisches Obst und einen Strauß Blumen zu besorgen; „Damit du dich geliebt fühlst“, hast du immer gesagt.
Nie hast du mich abends unbegleitet nach Hause gehen lassen, weil du nicht wolltest, dass ich nach Einbruch der Dunkelheit alleine draußen bin; du wusstest, dass ich es nicht mochte. Aber sicherlich auch, um deine zeitweilige Eifersucht zu beruhigen. Ich weiß, dass dich der Gedanke, es könnte zum Bruch zwischen uns kommen, wahnsinnig gemacht hat.
Am liebsten aber erinnere ich mich an unseren ersten gemeinsamen Urlaub. Du hast so lange gespart, bis du mich für eine Woche nach Grado einladen konntest, weil ich dir einmal erzählt hatte, dass ich als Kind oft mit meiner Familie dort gewesen war und mich danach sehnte, wieder einmal dorthin zu fahren. Du hast sogar das Appartementhotel ausfindig gemacht, in dem ich früher mit meinen Eltern übernachtet hatte. Die Villa Giulia, ziemlich im Stadtzentrum, nahe am Hafen. Den Schmetterling aus Muranoglas habe ich heute noch; du hast ihn mir am letzten Tag auf meinen leeren Frühstücksteller gelegt, weil ich ihn am Vorabend so lange im Schaufenster betrachtet hatte. „Weil mein Glück dein Lächeln ist“, hast du gesagt und meine Hand geküsst, „komm, lass uns zum Strand gehen, bevor wir fahren, mein Engel. Jetzt ist es noch ruhig und beinahe menschenleer, so wie du es liebst!“ Du hattest mich schnell durchschaut und wusstest, dass mir trotz meines kommunikativen Wesens die Stille am liebsten war.
Manchmal sehe ich mich in meinem Traum unter dem Zitronenbaum im Garten deiner Eltern sitzen, lesend; an deinem Platz aber liegt nur die Zeitung, die du immer gelesen hast. Immer wieder frage ich mich, warum ich dich nie sehe; ich vergesse, wie du aussahst. Dann kann ich nur die alten Fotos zu Hilfe nehmen. Minze und Zitronenmelisse hat deine Mutter in ihrem Kräutergarten angebaut und die frischen Blätter für Tee verwendet. Manchmal sehe ich uns, sie und mich, im Traum in den frühen Morgenstunden im Garten sitzen und frischen Tee trinken. Es war der einzige Tee, der eine belebendere Wirkung auf mich hatte als der türkische Kaffee, den ich sonst immer trinke.
Vor allem deine Mutter hat mich damals so herzlich aufgenommen, als ich deine Familie kennengelernt habe. Besonders fasziniert war sie von meinen langen dunkelblonden Haaren und den dunkelgrünen Augen. Allerdings hat sie mir immer vorgehalten, zu blass zu sein und immer dafür gesorgt, dass ich mich viel in der Sonne aufhalte, um eine gesunde Bräune zu bekommen. Ihr überraschender Tod aufgrund einer Hirnblutung hat dich sehr mitgenommen. Auch wenn es für Außenstehende so gewirkt hat, als wärst du gefasst gewesen, hast du Höllenqualen gelitten. Du warst stundenlang im Boxverein, um dich abzureagieren; einmal habe ich dich ein ganzes Wochenende lang nicht gesehen. Es hat fast ein Jahr gedauert, bis du wieder ganz bei dir warst. Ich kann es verstehen. Sie war einer der ungewöhnlichsten Menschen, die ich kennengelernt habe. Du hast mir oft gesagt, dass ich für dich die einzige Frau bin, die sich mit ihr messen kann. Für mich war das das größte Kompliment von dir.
2004 bis 2014, das waren unsere zehn Jahre. Bald nachdem du mich deinen Eltern vorgestellt hast, sind wir zusammengezogen. Unsere erste kleine Wohnung – wir waren damals gerade mit der Uni fertig – war in der Liechtensteinstraße im neunten Bezirk. Sehr praktisch gelegen eigentlich; sehr nahe an zwei U-Bahn-Linien und zwei Straßenbahnlinien. Sie war gerade groß genug für uns beide; WC, Bad, Küche und ein kleines Wohnzimmer, das uns auch als Schlafzimmer diente. Aber es hat für den Anfang gereicht. Als wir dann begonnen haben, besser zu verdienen, haben wir uns mit der Unterstützung deiner Eltern eine wunderschöne Altbaueigentumswohnung gekauft, die groß genug war für uns und die Familie, die wir eines Tages gründen wollten. Beim ersten Besuch deiner Eltern in unserem neuen Heim hast du mich endlich gefragt, ob ich dich heiraten will. Wen denn sonst, wenn nicht dich?
Und dann kam dieser eine Abend, einige Wochen nach unserer Hochzeit. Du warst auf Geschäftsreise gewesen und wolltest mit dem Taxi vom Flughafen nach Hause fahren; wie immer wolltest du nicht, dass ich dich abhole, weil dein Flieger erst spät gelandet war und dir der Gedanke nicht behagt hat, dass ich so spät alleine durch die Stadt fahre. Als es läutete, dachte ich noch, du hättest vielleicht deinen Schlüssel vergessen. Und dann standen zwei Polizeibeamte vor mir. Dein Taxi wäre in einen Verkehrsunfall verwickelt gewesen; du seist noch an der Unfallstelle verstorben.
Mehr weiß ich nicht mehr; ich erinnere mich nur noch daran, im Krankenhaus aufgewacht zu sein. Mein Bruder Paul saß an meinem Bett, zusammen mit Herbert, seinem besten Freund, den ich ebenfalls seit Kindheitstagen kannte. An diesem Abend wollte ich dir sagen, dass du Vater werden würdest; aber das Kind habe ich in dieser Nacht verloren. Es war, als hätte ich dich somit zweimal verloren. Ein schier unerträglicher Gedanke. Monatelang hatte ich jeden Morgen das Gefühl, dass du neben mir liegst und jedes Mal wieder war es ein Schock, dass deine Seite des Bettes leer war.
Bald danach bin ich ausgezogen. Zu Paul, der im Haus meiner Eltern lebte. Da er selbst gerade alleine lebte, war er froh, mich bei sich zu haben, weil das Haus ihm immer so unerträglich still und leer vorkam. Irgendwann haben Herbert und ich zusammengefunden; er war nach deinem Tod ein ruhender Pol. Er hat mich oft im Arm gehalten, wenn ich stundenlang geweint habe und nur wortlos mein Haar gestreichelt. Es hat gedauert, aber eines Tages habe ich gewusst, dass seine beständige Liebe genau das war, was ich für einen Neuanfang brauchte. Dein Vater und dein Bruder haben mir ihren Segen gegeben und waren sogar bei unserer Hochzeit. Sie sind auch nach noch so vielen Jahren Teil meiner Familie und das wird sich nie ändern. Für sie wohl auch nicht, glaube ich.
Herbert bringt mir ein Glas Wasser. Ich leere es und gehe ins Meer schwimmen; vielleicht hilft es gegen die Unruhe. Als ich zurückkomme, finde ich das Skarabäusamulett nicht mehr.
Cornelia Hell
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