Kurt konnte nur am Sonntag schreiben. Die anderen sechs Tage der Woche arbeitete er im Herrenmoden-Geschäft seines verstorbenen Onkels. Allzu ernst nahm er sein Schreiben nicht; es war im Grunde nicht mehr als eine Beschäftigungstherapie, die ihm der Arzt wegen seiner angeschlagenen Nerven empfohlen hatte. Er litt an Schlafstörungen, weigerte sich aber, Medikamente zu nehmen. Das Schreiben lag ihm noch am ehesten, im Gegensatz zu Zeichnen, Porzellanmalerei, Origami oder Ikebana, was der Doktor auch noch vorgeschlagen hatte. Immerhin hatte Kurt bis zum Antritt der Onkel-Erbschaft in einem Sachverlag für Ornithologie gearbeitet, wenn auch nur als Buchhalter.
Der Sonntag Mitte Juli war ein heißer Tag. Kurt saß im Unterhemd an seinem Schreibtisch, die Fenster waren geschlossen, die Jalousien halb heruntergelassen. Vor ihm lagen mehrere Schulhefte, die zwanzig Bleistifte parallel ausgerichtet, Radiergummis in verschiedenen Größen und Farben, Spitzer, Büroklammern, Klebstoff und ein Stoß mit einzelnen A4- Blättern, haargenau gestapelt an der rechten, oberen Ecke des Tisches. Er hatte immer schon die Gewohnheit gehabt, auch im Verlag, alles vorzuschreiben. Erst wenn er zufrieden war, übertrug er das Geschriebene in ein Heft. Die verworfenen Zettel verbrannte er sofort im Waschbecken der Küche, damit er es sich nicht anders überlegte und zu tüfteln anfing. Dieses an Sonntagen wiederkehrende Vorgehen beruhigte ihn und gab ihm eine gewisse Sicherheit, dass er mit seiner Schreibtherapie Fortschritte machte. Es war seine Form der Kontingenz, mit der Welt in Verbindung zu stehen. Zwei Vogel-Geschichten hatte ihm sein alter Verlag schon abgenommen.
Er war nun etwa dreißig Minuten an seinem Tisch vor den leeren Blättern gesessen, konzentriert und gerade lange genug, um die Ahnung einer Idee für einen Ansatz zu finden, den er heute bearbeiten wollte: „Die Zugvögel am Schwarzenbach vor dem Aufbruch“, da hörte er die Männer kommen, vier oder fünf. Es war früher Nachmittag. Unter lautem Reden und Lachen bogen sie von der Schwarzenbachstraße mit dem Katzenkopflaster auf den kleinen, asphaltierten Platz der Reihenhaussiedlung ein. Wie das klang, mussten zwei von ihnen genagelte Schuhe anhaben.
Hei Börni, heute bist du dran.
Los, Walter, immer drauf.
Nein, ich will heute nicht ins Tor, soll doch der Karli.
Oida, kannst dich gleich wieder schleichen, wenn du nicht, du A….
Ok, geh ich halt ins Tor.
Maarioo, hier rüber, mach schon, du oida Beidl!
Wumm, plopp, wumm, plopp - schon krachten die Schüsse in unregelmäßigem Stakkato an des metallene Garagentor, das die Männer als Goal benutzen. Der ganze Platz hallte wider, die in einem Halbrund stehenden, zweigeschoßigen Häuser warfen die Geräusche einander zu und vervielfältigten den Lärm zu Dauerexplosionen. Tore schießen, das machten sie die ersten dreißig Minuten immer als Aufwärmübung. Vergeblich hoffte Kurt, dass es nachlassen würde. Er kaute hinten an seinem Faber&Faber-Bleistift Nr. 5, extra hart, und nahm sich zusammen, nicht aufzustehen und beim Fenster hinauszuschauen. Das Gebrüll ging weiter, aber er musste das Treiben auf dem Vorplatz nicht mit eigenen Augen sehen, er hörte alles und hätte ihr Spiel so gut kommentieren können wie der legendäre blinde Sportreporter Stanley Howell von den Chicago Dodgers.
Die Schlacht tobte keine zwanzig Meter von seinen Fenstern entfernt. Sie schrien, grölten, beschimpften und beleidigten einander auf das Unflätigste, wie es echte Sportsfreunde nie gemacht hätten. Aber das war nur Kurts Vermutung, da er seit dem Zwang in der Schule nie freiwillig Sport betrieben hatte.
Wumm, wumm, plopp, plopp, die Treffer knallten ans Garagentor, das auch noch dumpf nachhallte wie eine schlecht gestimmte Glocke. Sie lachten und grölten und feuerten einander an. Sie sprangen herum wie Ziegenböcke ohne Ziel und Spielregeln, sie achteten absichtlich nicht aufeinander, sie tobten mit angezogenen Knien und ruderten mit den Armen in der Luft. Kurt hatte den Eindruck, dass sie gar nicht zusammenspielen wollten, sondern nur Krach schlagen, andere Leute ärgern und Spaß daran haben.
Er meinte, trotz der geschlossenen Fenster, die Schallwellen in seinem Zimmer zu spüren, wenn das Metalltor unter den Balltreffern in Schwingung kam. Aber er hatte ja angeschlagene Nerven, sagte sein Arzt, und sollte sie mit dem Schreiben beruhigen.
„Verdammt, diese blöden Blumen stören mächtig. Ich hab keinen guten Blick aufs Goal. Reiß sie aus.“ Kurt fuhr zusammen, als hätten die Worte ihm gegolten. Erst vor wenigen Wochen hatte er links und rechts von der Garage einige Reihen mit Stiefmütterchen, Lobelien und Hortensien gepflanzt. Eigentlich nur verpflanzt. Denn eines Sonntags an seinem Schreibtisch am Fenster war ihm aufgefallen, dass sie im Schatten der Garage, zwischen den Colonia-Kübeln nicht die geringste Chance zum Überleben hatten. Da kam kein Sonnenstrahl hin, zu keiner Zeit des Tages. Der Hausmeister war ein Faulpelz und Säufer, der nur im Schwarzenbachstüberl herumhing und sich um nichts kümmerte. Außerdem hoffte Kurt, dass durch die höheren Hortensien das fleckige Rosttor bald nicht mehr zu sehen sein würde. Pflanzen, das war eigentlich gar nicht sein Gebiet, wenn überhaupt Natur, dann waren es bei ihm die Vögel. Sie sind unter allen Tieren die unschuldigsten, harmlosesten, die, die keinen Schaden anrichteten, fand er. Auch ihr Fliegen und Flöten gefiel ihm, und am Steyrer Schwarzenbach gab es viele Arten. Aber seit er diesen Schritt gemacht hatte, waren die mickrigen Blümchen und Büsche die Seinen, er pflegte sie und schaute von seinem Fenster mit Wohlgefallen auf sie hinüber, wie sie sich an der sonnigen Vorderseite der Garage zu erholen begannen.
Torwart Börni, der mit den zu langen Sporthosen und dem zu großem Bauch darüber, war im Blumenbeet gestolpert, hatte ein Tor abgekriegt und viele Hohnworte von seinen Kumpels geerntet. Er bekam einen Wutanfall, begann in den Pflanzen zu wühlen und nach ihnen zu treten; er riss die kaum angewachsenen Blumen aus der Erde und schleuderte sie nach allen Seiten.
„Verdammte Scheißblumen, blöde.“
„Gib a Ruh, Börni, reg dich nicht auf, wir machen Pause, ich hol uns was zum Trinken.“
Kurt riss sich, ohne an seinen Vorsatz zu denken, von seinen weißen Blättern los, machte das Fenster auf und rief mit ungeübter, brüchiger Stimme hinunter:
„He, Sie da, lassen Sie meine Blumen in Ruhe!“
Viel zu leise, viel zu höflich, Kurt wusste sofort, dass ihn diese Barbaren überrennen würden.
„Geh Oida, was willst du? Gehört der Platz vielleicht dir? Bist du der Hausmeister oder der Gärtner?“
Die anderen Spieler bogen sich von Lachen, johlten, schlugen sich auf die Schenkel oder einander auf den Rücken und kickten die Blumenstöcke über das Spielfeld. Wenn sie ihnen zwischen die Füße kamen, trampelten sie darauf herum wie kleine Kinder im Schlamm.
„Soll ich dir vielleicht ein Fenster einschlagen, du A…magst du das, ja?“
Mit dieser lustigen Idee erntete er wieder beifälliges Gejohle.
Der große Börni mit dem fetten, mit Sommersprossen gesprenkelten, schweißgebadeten Körper lachte grob und warf ein Stiefmütterchen in die Richtung seines Fensters.
Die Äußerung war ihm gegen jede Gewohnheit entfahren, weil er so zurückgezogen lebte und sich nie um anderer Leute Sachen kümmerte. Zusätzlich zum Herrenmoden-Geschäft im Zentrum der Kleinstadt Steyr hatte Kurt auch noch diese zweigeschossige Haushälfte in der Genossenschaftssiedlung am Schwarzenbach geerbt. Er lebte darin allein im Oberstock, das Erdgeschoß hatte er bei der Gemeinde zur Vermietung an Flüchtlinge angemeldet.
Eigentlich sollten sie schon da sein, sie waren ihm für Anfang des Monats angekündigt worden, ein Mann von der Gemeinde und eine Sozialarbeiterin hatten die Zimmer besichtigt und waren zufrieden. Auch der Hobbykeller, den sie benützen durften, hatte ihr Gefallen gefunden. Fünf junge Burschen aus Eritrea und Somalia sollten hier wohnen, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, muF hieß das auf der Gemeinde. Kurt wusste nicht, warum sich ihre Ankunft verzögerte. Er wusste auch nicht so genau, ob er sich auf sie freute. Aber weil er sein Geschäft bald verkaufen und sich ganz zurückziehen wollte, hatte er sich nach etwas Neuem umgesehen. Ob das gutgehen würde? Wichtiger war ihm, dass bei ihm, je älter er wurde, das Bedürfnis wuchs, seinem Vater und Rudi etwas von ihren ungelebten Jahren zurückzugeben. Als könnten sie dann weniger tot sein. Seine Mutter hatte zwar überlebt, konnte aber diese Austreibung nie verwinden. Kurt war sich bewusst, dass das ein Teil seiner Todesfresser-Religion war, die er für sich erfunden hatte und allen anderen Religionen mit ihren Paradiesen, Seelenwanderungen und Jüngsten Tagen vorzog.
Kurt hatte sein Testament – und er hatte kein unbeträchtliches Vermögen – so geändert und beim Notar Dr. M. hinterlegt, dass alles eine Stiftung bekommen soll, die unbegleitete Flüchtlinge, junge Steyrer Arbeitslose, oder drogenabhängige Schulabbrecher fördern würde. Da hatte er der Gemeinde ein schönes Kuckucksei ins Nest gelegt. Kurt kicherte vergnügt in sich hinein, wenn er an die betretenen Gesichter der Stadträte bei der Testamentseröffnung dachte, ein Mordsspaß ist das.
Er selbst hatte zu viel Glück gehabt, meinte er, nach diesem schrecklichen Anfang, nach dem Anfang mit Schrecken, und deswegen hat er sich immer geduckt, damit ihn das Leben in Ruhe ließ. Er wollte dem Leben keine Gelegenheit geben, sich an ihm zu rächen für sein Überleben. Dass er als Dreijähriger ganz oben auf den Koffern und Binkeln in dem kleinen Leiterwagen saß, an das erinnerte er sich, wie ein König zog er durch die Landschaften der Märchenbücher. Seine Mutter ging vor ihm und zog den Wagen mit der Hand, auf ihrem gebeugten Rücken trug sie noch einen Rucksack, viele andere Leute waren da, lange Reihen ohne Ende, das sah er noch ganz genau. Er fand das lustig, schrie hü-hott und fuchtelte mit einem Weidenzweig herum. Die Mutter sang immer Hopphopphopp, Pferdchen lauf gallopp, und: Hoch auf dem gelben Waahaagen, sitz ich beim Schwager vorn, schlaf, Kurti, schlaf, was das abgebrannte Pommerland mit dem Vater zu tun hatte, hatte er nicht verstanden. Weiter, immer weiter: Aus grauer Städte Mauauern, zieh‘n wir durch Wald und Feld. Gleich sind wir da, wir machen einen Ausflug zum Onkel, Vater ist auch bald wieder bei uns. Dass sie dabei weinte, konnte er nicht sehen. Mehr eigene Bilder hatte er nicht, die anderen kamen wahrscheinlich von den Erzählungen der Mutter und des Onkels, vom Todesmarsch aus Brünn nach Steyr. Angeblich hatte er einen kleinen Bruder, den Rudi, der die Austreibung aus dem Sudetenland nicht überlebt hatte. Der Vater-Soldat die Ostfront auch nicht. Als das nach dem Krieg feststand, hatte ihn Onkel Heinrich, der reich gewordene Bruder der Mutter, adoptiert. Er bekam von ihm und seiner Frau, der Tante Vroni, auch den schönen deutschen Namen Nemetz.
Die Männer da draußen waren zwischen dreißig und vierzig, zwei waren wirklich sehr groß und sehr dick, der rote Börni und der dunkle Walter, der jetzt, die Arme voller Bierdosen, von der Tankstelle zurückkam. Alle hatten da und dort Tätowierungen, aber Walters Körper hatte keinen Fleck ohne Bilder oder Schriften. Sogar die Glatze war bedeckt von Girlanden mit Stacheldraht, Totenköpfen und runenartigen altdeutschen Buchstaben.
Dieses Pack, der Lärm am Sonntag und nun gegen die Blumen. Seine? Ja, es waren schon seine geworden, irgendwie. Wahrscheinlich wussten sie, dass er sie gepflanzt hatte. Kurt schloss das Fenster, ließ die Jalousien ganz herunter und ging in die Küche, um sich das Gesicht kalt abzuwaschen. Dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch am Fenster, mit schwachen Knien und rasendem Herzen und streckte die Hände auf den Knien aus, sie zitterten. Der Bleistift rollte kraftlos aus den Fingern und fiel zu Boden. Er hob ihn nicht auf, es war sehr heiß im Zimmer. Wenn ich ein Gewehr hätte, würde ich jetzt schießen, zog es Kurt durch den Kopf, obwohl er noch nie ein Gewehr in Händen gehalten hatte.
Jetzt hörte er, wie im Nachbarhaus ein Fenster geöffnet wurde. Kurt spannte den Rücken, das ist gut, Herr Leitner öffnete sein Fenster, er würde auf seiner Seite sein.
„Hallo, Sie da, wissen Sie nicht, dass man hier nicht Ballspielen darf? In der Einfahrt ist ein Verbotsschild, da steht es drauf. Hier leben arbeitende Menschen, die Menschen wollen schlafen! Ich hol die Polizei, gehen Sie weg.“
Herr Leitner war Nachtportier in der Lokomotiv-Fabrik und wollte am Sonntag ausschlafen.
„Na und, dann schlaf halt, marsch, ins Bett, Opa, und hol ruhig die Polizei!“
Sie kreischten und heulten und hatten einen Mordsspaß miteinander. Walter zielte mit seiner Bierdose auf Leitners Fenster, Kurt spürte, wie sie knapp an ihm vorbeiflog, einen Augenblick in der Luft hängenblieb und dann an der Mauer abprallte. Walter nahm sich eine neue Dose und spuckte zwischen seine gespreizten Beine auf den Boden. Der rote Börni rief etwas Obszönes, wackelte mit dem Becken und griff sich zwischen die fetten Beine. Herr Leitner schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: Na so was, und das bei uns. Das gibt’s nicht. Dann schloss er laut krachend die beiden Flügel seines Fensters zusammen und zog die Vorhänge vor die Fenster.
Kurt wusste, dass es keinen Sinn hatte, die Polizei zu rufen. Er war schon auf dem Posten gewesen und hatte von der Belästigung an den Sonntagnachmittagen berichtet. Der Beamte lächelte nur süffisant und meinte: „Naja, wenn die Leute Sport betreiben wollen, soll man sie nicht aufhalten. Ist doch gesund, oder?“ Die anderen Beschwerden hatte er dem Polizisten gar nicht mehr vorgetragen, auch nicht, dass die Genossenschaft eine Verbotstafel aufgestellt hatte. Er wusste, dass der zur selben Sorte Unmensch gehörte wie die Ballspieler, nur dass er eine Uniform trug.
Das Geschrei der fünf da unten nahm an Lautstärke zu, das Bier befeuerte offenbar ihre Stimmung. Sie saßen im Blumenbeet vor der Garage, die Beine weit ausgestreckt und prosteten sich mit den Dosen zu, legten den Kopf weit in den Nacken und tranken in vollen Zügen.
Kurt hielt es nicht mehr aus in seinem Zimmer, das Schreiben konnte er für heute vergessen. Die Bilder von den Zugvögeln, die sich auf den Telegrafendrähten zum Abflug sammelten, waren zerronnen wie Öl in einer Wasserlacke. Er zog sich ein Hemd an, schlich auf den Korridor und durch das Treppenhaus zur Hintertüre hinaus.
Dort lag ein alter Kaiserziegel, den er zum Offenhalten benützte, wenn er den Müll hinaustrug. Normalerweise schob er ihn nur mit dem Fuß hin und her, jetzt nahm er ihn auf und wog ihn in der Hand, vier, fünf Kilo wird der schon haben. Ohne ein Geräusch zu machen, gelangte er unbemerkt durch den kleinen Hinterhof, vorbei an der metallenen Wäschespinne an die Rückseite der Garage. Vorsichtig kletterte er über die Mistkübel auf das nach hinten abgeflachte Dach, legte sich auf den Bauch und atmete einige Male tief durch, um sich zu beruhigen. Dann schob er sich vorsichtig an den Rand des Garagendaches, geräuschlos und millimeterweise, bis er kippte. Er hörte einen dumpfen, ordinären Aufprall und einen hässlichen Fluch.
„Verdammt, was war das? Das war sicher der Kerl da oben.“
Das war Börnis Stimme, die jaulte wie ein getretener Hund.
„Einen Arzt her“, schrie Walter und riss sein Handy aus der Hosentasche.
Auch Karli begann wie wild zu telefonieren, Mario und der fünfte Kerl kümmerten sich um die Wunde. Sie wickelten dem verletzten Börni ein T-Shirt um den Kopf, halfen ihm auf die Beine und schleppten ihn fluchend und Fäuste schüttelnd über den Platz auf die Schwarzenbachstraße. Der letzte nahm noch einen Stein vom Straßenrand und schleuderte ihn auf Kurts Haus. Er krachte gegen die geschlossene Jalousie und fiel polternd zu Boden.
Mit pochendem Herzen lag er ganz flach auf dem Garagendach und lauschte in die Stille. Gleich würden sie kommen, nichts da, sie kehrten nicht zurück. Aus der anderen Haushälfte sah er später die alte Frau Huber herauskommen, die am Abend immer ihren Hund ausführte.
Als sie verschwunden war, kroch Kurt vom Dach und schlich zurück in seine Wohnung. Minutenlang saß er reglos am Küchentisch, hörte dem Pochen des Blutes in seinen Ohren zu, bis sich seine Nerven soweit beruhigt hatten, dass er aufstehen und zum Waschbecken gehen konnte. Er spritze sich Wasser ins Gesicht, goss sich dreimal Wasser ins Glas und trank es in kleinen Schlucken. Langsam beruhigte sich auch sein Atem. Er horchte in das Treppenhaus hinaus und zum Telefon hinüber. Jetzt wird die Polizei kommen, dachte er, in fünf Minuten sind sie da, in zehn. Nichts kam. Es war lange Zeit vollkommen still, bis er die alte Frau Huber zu Herrn Leitner vor der Haustür sagen hörte: „Na, heute haben Sie die Banditen aber schön verjagt.“ Der verschlafene Leitner brummte etwas Unverständliches, und Frau Huber meinte noch, dass es am nächsten Sonntag sicher regnen würde. Ihr alter Spaniel kläffte ein paar Mal zu Herrn Leitner hinauf, der im offenen Fenster lehnte.
Immer noch hörte Kurt den dumpfen, hässlichen Aufprall des Ziegels und malte sich aus, wie er Börnis Schädeldach eingeschlagen und sein Gehirn zerquetscht hatte.
Noch einmal vergingen zehn Minuten, 20, 30, das Pack kam nicht zurück, keine Polizei war zu sehen, und auch das Telefon klingelte nicht.
Die Furcht kroch in ihm hoch. Ob sie unten auf ihn warteten? Sicher war Börni schon im Spital, schwerverletzt, oder war er gar schon gestorben? Man bringt doch keinen Menschen um, nur weil er am Sonntag unter dem Fenster Fußball spielt, auch wenn einem danach zumute wäre. Kurt hielt wieder den Kopf unter das kalte Wasser und wollte sich Kaffee machen, stellte aber fest, dass er gestern vergessen hatte, welchen einzukaufen, weder Kaffee noch Milch waren im Haus. Kurt nahm eine kalte Dusche, zog sich frische Sachen an und wartete bis zum Einbruch der Dunkelheit, dann schlich er über Umwege zur Tankstelle und besorgte Milch und Kaffee. Auf dem Rückweg begegnete er der Frau Leitner, die ein paar Stunden in der Fabrikskantine putzte.
“Grässlich war das heute wieder. Mein Mann muss einmal aufbleiben und sich das anhören, er soll die Polizei holen, damit der Wirbel ein Ende hat. Der Hausmeister ist auch nie da, wenn man ihn bräuchte. Aber wir müssen ihn bezahlen, und zu Weihnachten kriegt er auch noch Mordstrinkgelder.“
„Ja, Sie haben Recht“, antwortete Kurt einsilbig; sie verabschiedeten sich vor dem Haus, und ein jeder ging in seine Hälfte.
Als er sich mit dem frischen Kaffee ins Zimmer setzen wollte, sah er, dass alle Fenster eingeschlagen waren, der Teppich mit Glasscherben übersät war und von den fünf Steinen einer in seinem Bett lag. Dieser war mit einem Stück Papier umwickelt, auf dem Kurt lesen konnte: Kein NEGERPACK in unserem Viertel! DU BIST DER NÄCHSTE! WIR KRIEGEN DICH!
Die Jalousien hingen zerfetzt in den leeren Fensterhöhlen. Kurt holte Besen und Schaufel und machte sich ans Aufräumen. Dann schaltete er das Licht aus, setzte sich im Unterhemd an den Tisch und schaute im Finstern aus dem Fenster. Deutlich konnte er die fünf Gestalten sehen, die unter der Laterne auf der Schwarzenbachstraße an der Einfahrt zum Parkplatz standen und zu seinem Haus herübersahen.
Was wollten sie noch? Glas zum Zerschlagen gab es keines mehr. Feuer legen? Brandbomben werfen? Ihren Kumpan rächen?
Kurt war schwindelig, und er setzte sich auf das Bett: ratlos, verwirrt und plötzlich sehr, sehr müde. Sie waren zu fünft da draußen, das hieß, dass der rote Börni nicht tot war.
Langsam stiegen Freude und Erleichterung in ihm hoch, breiteten sich bis in den Kopf aus und füllten seine Augen mit Tränen. Morgen wollte er die Blumen wieder einpflanzen.
Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/
www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 16030