Die Wohnung ist einfach optimal, Walter von der ersten Sekunde an in sie verliebt. Ja, diese Wohnung will er haben, hier will er die nächsten Jahre leben und, wenn es sein soll, auch für immer: Mitten im pochenden Herz der Stadt, also genauer: mitten im pochenden Herz des Bezirks neben der Innenstadt, wo sie noch lauter pocht als mittendrin. Schon vor vielen Jahren haben, vermutlich vom Bauhaus inspirierte, Architekten diese nicht ganz 42,5 Quadratmeter so auf Küche, WC, Bad, Wohn- und Schlafzimmer verteilt, dass es nicht besser sein könnte.
Walter ist, freundlich formuliert, etwas übergewichtig, schafft es aber ganz hinauf, einige der anderen Interessenten haben die Besichtigung der Wohnung schon im ersten Stock abgebrochen.
Ja, Walter unterschreibt, vielleicht auch schon deshalb, weil die Möblierung ungefähr seinen Vorstellungen entspricht und er sich scheut, seine Zeit in Möbelhäusern und Baumärkten zu verlieren. Er unterschreibt mit zitternder Hand, seine Signatur könnte genauso gut von einem x-beliebigen Patienten einer Palliativstation stammen, ähnelt zumindest der in seinem Reisepass und Führerschein keineswegs, Walter ist auch wirklich erschöpft. Der Makler nutzt die Gunst der Stunde, die Unterschrift hat er jedenfalls, der Rest der Geschichte interessiert ihn nicht, er macht sich schnell auf die Socken, streicht Walter schon auf dem Weg nach unten völlig aus seinen Gedanken.
Der sitzt, noch immer schwitzend vom Aufstieg – es kann auch wegen der Aufregung bei der für ihn wegweisenden Unterschrift unter diesen Mietvertrag sein – lange in dem Ohrensessel, der ihm gleich beim Reinkommen aufgefallen ist, weil es das Mobiliar ist, das den meisten Platz in Anspruch nimmt und auch, weil er es keinen Schritt weiter mehr geschafft hätte.
Walter ist nicht besonders groß, aber sehr schwer, also mehr rund, und er hat seine Unterschrift schnell unter den Vertrag gesetzt, die Wohnung ist also seit wenigen Minuten sein Mieteigentum. Eigentlich wollte er sich noch gerne Bad/WC ansehen, den Durchlauferhitzer, die Dichtungen der Fenster überprüfen, den Zustand des Backrohrs und des Stromkastens kontrollieren. Beim Reinkommen hat er schon viele Mitbewerber abgehängt, nur noch wenige haben sich in seinem zukünftigen Domizil etwas unschlüssig umgeblickt, Walter war klar, jetzt gleich, ganz schnell, Nägel mit Köpfen machen zu müssen – er ist gekommen, um zu bleiben. Die genaue Inspektion hebt er sich im Ohrensessel für später auf, es überwiegt die Freude über dieses Erfolgserlebnis, jetzt ist es ihm auch viel wichtiger, seine Freunde zur Housewarming Party einzuladen, schließlich sollen sie den Weg in seine neue Wohnung kennen und immer wieder finden.
Karin ist krank, Max und Petra gesund, aber ihr Kind, die kleine Sandra nicht, Richard, Alina und Hanna haben ihr Handy auf tot gestellt. Er erreicht nur Christian, der ist zwar nicht unbedingt erste Wahl, aber immerhin: Er wird kommen und Freunde mitnehmen und ja, sie werden auch für Speis und Trank sorgen.
Mit ‚seinen‘ Freunden hat Christian seine gemeint, nicht die gemeinsamen, die kleine Wohnung ist jedenfalls wirklich perfekt für eine Fete: Zweiunddreißig Menschen prosten sich zu, tanzen miteinander, auch wenn es noch keine Musik gibt, scherzen, rauchen, trinken, lachen und sind nach zwei Stunden wieder weg. Walter sitzt noch immer im Ohrensessel, außer Christian hat ihn niemand begrüßt, niemand mit ihm geredet. Walter hat die anderen auch gar nicht gekannt, sie noch nie gesehen.
Er steht auf, und auch das nur, weil der oder die Letzte die Tür nicht zugemacht hat, irgendwer hat zwischen Tür und Angel eine rote Handtasche liegen lassen. Walter schleppt sich zurück in den Ohrensessel, es ist schon spät, eigentlich sollte er jetzt schlafen, macht es auch gleich.
Der Morgen ist noch nicht erwacht, die Nacht noch nicht ganz eingeschlafen – Walter ist munter, Walter hat Hunger, findet sich im Ohrensessel und ist glücklich, in seinem neuen Reich aufzuwachen.
Die Inspektion von Durchlauferhitzer, Fensterdichtungen und Stromkasten lässt er bleiben, stolz verschließt er sein neues Domizil, stapft Treppe für Treppe hinunter, was sich leichter anfühlt als der Weg in der anderen Richtung vor ein paar Stunden, wird sich unten, gleich nebenan beim Bäcker frische Semmeln holen.
Walter schreitet die dreizehn mal zwei Stufen vom dritten in den zweiten Stock, weitere dreizehn mal zwei Stufen vom zweiten in den ersten Stock, dreizehn mal zwei Stufen vom ersten Stock ins Obergeschoß, dreizehn mal zwei Stufen vom Obergeschoß ins Mezzanin und diesmal elf Stufen vom Mezzanin ins Erdgeschoß – alles in allem sind es hundertfünfzehn Stufen, die er wieder erklimmen muss, um sich den bequemen Ohrensessel zu wuchten. Diesen Wermutstropfen der ansonsten perfekten Wohnung hat er aber als Medizin für seinen viel zu schweren Körper gerne in Kauf genommen.
Noch bevor er sich in die Bäckerei gleich nebenan schleppt, die ihren Kunden auch auf zwei Tischen Kaffee und ein komplettes Frühstück serviert, sieht er sich das Haus an, in dem er jetzt wohnt, kann an den jetzt unnötig erleuchteten Fenstern erkennen, wo er jetzt leben wird – gleichzeitig kann er sich nicht mehr vorstellen, wie er es bei der Erstbesteigung bis da hinauf geschafft hat, Lift gibt es nämlich keinen.
Beim Hinaufgehen war er getrieben, ihm scheint, die Herde hätte ihn getragen – und er wollte nicht das letzte Schaf sein. Beim dritten Kipferl und einem nächsten Faschingskrapfen kann er sich nicht mehr vorstellen, alleine diesen Aufstieg noch einmal zu überleben. Ein Taxi bringt ihn danach zurück nach Hause, seine Mutter ist froh, ihn zu sehen, tischt ihm auch gleich ein kräftigendes Mittagessen auf, zum Nachtisch gibt es Erdbeeren mit einer doppelten Portion Schlagobers.
Christoph Stantejsky
www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 16039