Er hat siebzehn Tage nichts gesehen außer Tastatur und Bildschirm, nichts gelesen, außer endlose Befehlsketten, nichts gegessen außer Junkfood zwischendurch und zu den unmöglichsten Tageszeiten; keine Familie, keine Wärme, kein helles Kinderlachen, kein vernünftiges Gespräch, von Sex keine Rede; auch kaum geschlafen, nie geduscht, selten rasiert – drei Mal den „Tatort“ versäumt, auch wenn es versprochen war, sich den immer gemeinsam anzusehen.
Martin steht jetzt schon fast eine Stunde vor seinem Haus, dabei hat er sich seit zwei Wochen nichts sehnlicher gewünscht als diesen Moment: Nachhause kommen, duschen, baden, rasieren, Frau und Kinder küssen, was Vernünftiges essen, vielleicht einen Nachschlag und noch einen Humpen heben und dann schlafen, schlafen, schlafen, die ganze Nacht durch, schlafen, auch den ganzen Sonnentag lang.
Ding doing, ding doing – es wird schon Sonntag, Martin lehnt weiter am Gartenzaun gegenüber von seinem Haus, das der Bank gehört. In knapp 34 Stunden wird sich herausstellen, ob es bald seines wird oder er noch gut fünfzehn Jahre ganz tief in leere Taschen greifen wird müssen: Es hängt alles von dieser Präsentation am Montag um zehn ab. Wer wird dabei sein? – hoffentlich nicht dieser Hofer – könnten technische Probleme auftreten? – alles auf der sicheren Seite, but shit happens – wär es vom Konzept her vielleicht nicht besser, das Pferd noch einmal von ganz hinten aufzuzäumen? – ...
Es beginnt leicht zu nieseln, Martin bleibt unter einem großen Baum zwar trocken, trotzdem ist ihm klar, dass er all diese Fragen nicht hier heraußen wird klären können, außerdem muss er rauf: Er hat ja auch von hier unten mitbekommen, dass sich hinter dem schwach beleuchteten Fenster die Buben gestritten haben und Peter, der Ältere, dem kleinen Paul kräftig eine drübergezogen haben muss.
Natürlich hat er auch die beiden anderen Fenster zur Straße beobachtet, die von seinem Schlafzimmer, also ihrem Schlafzimmer, dem von Erna und ihm. Den weißen Vorhang treffen unrhythmische bläuliche Blitze – Erna sieht wie immer fern, Martin meint, am Rhythmus der Lichter erkennen zu können, dass sie sich einen Actionfilm reinzieht. Endlich löst er sich, geht rüber – es ist ihm auch schon kalt – und öffnet die Haustür leise. Leise hängt er auch Mantel und Jacke hin, vorsichtig schlüpft er aus den Schuhen, achtsam steigt er die Stiege hinauf, vermeidet die vierte Stufe, die immer knarrt – die Reklamation wollte er immer schon loslassen, spätestens am Dienstag wird sich der Tischler was anhören können.
Oben angekommen schleicht er zur Wand zwischen den Türen von Kinder- und Schlafzimmer. Im Kinderzimmer ist es jetzt leise, wär er gleich raufgegangen, hätte er den Buben noch gute Nacht wünschen können, sie noch was fragen, ihnen noch was erzählen können.
Die Tür zum Schlafzimmer ist nur angelehnt, die Blitze beleuchten einen Spalt des grässlichen Teppichs, der hier immer nur dann liegt, wenn sich Ernas Eltern angesagt haben – sie haben gemeint, ihnen damit ein schönes Geschenk zu machen: shit happens – die werden sich wohl fürs sonntägliche Mittagessen angesagt haben.
Dieser eine Algorithmus in dem Programm macht Martin noch Sorgen: Er ist sich ganz sicher, dass er passt, er funktioniert ganz sicher – nur: Er kann es noch nicht beweisen. Er könnte ihn bei der Präsentation wie selbstverständlich einführen. Nur: Was ist, wenn sich der Hofer genau darin verbeißt? Dieser Algorithmus ist der Clou der ganzen Sache – Martin kann ihn also auch nicht unerwähnt lassen. Außerdem sind da noch ein paar Routinen, die sich sicherlich noch eleganter, noch anwenderfreundlicher gestalten lassen könnten.
Es wird gleich eins und Martin lehnt weiter an die Wand, im Kinderzimmer bleibt es ruhig, und er überlegt sich, noch einmal runterzugehen, in der Küche den Laptop auszupacken und sich bei einem gemütlichen Bier die Sache noch einmal genau durch den Kopf gehen zu lassen. Ja, das wird er machen. Aber erst nachher, zuerst muss er endlich Erna begrüßen, ihr zumindest sagen, dass er noch lebt – und jetzt endlich wieder einmal da ist.
Dabei weiß er, was ihn erwarten wird, es wird so sein, wie vor siebzehn Tagen auch: Erna wird sagen: “Martin, bist du‘s?“ – auch wenn sie ihn schon längst gesehen hat.
Nein: Vorher wird er noch zu den Buben gehen, ihnen einen schnellen, sanften Kuss auf Wange und Schläfe geben, Peter wird dabei aufwachen, nach einem weiteren Gutenachtkuss und dem Versprechen, mit ihm morgen Fußball zu spielen, rasch einschlafen. Erst dann wird er zu Erna gehen und sie wird ihn wieder verblüffen – sie verblüfft ihn immer.
Martin hat sich nicht getäuscht: Peter schläft noch nicht, er kriegt seinen Gutenachtkuss und das Versprechen, Paul schläft bereits tief und fest, Martin sieht ihm dabei zu, verliert sich in dem hübschen Gesicht, schweift gedanklich in die Zeit, in der er gleich alt war und selber dran war, das Verhältnis vom Ich zur restlichen Welt zu klären. Behutsam steht er wieder auf, vorsichtig schließt er die Tür, nicht ohne noch einmal einen Blick ins Zimmer zu werfen, der ihm bestätigt, dass jetzt alles seine gute Ruhe hat.
“Martin, bist du‘s?“, tönt es aus dem Schlafzimmer, im Nachtprogramm gibt es ein Gemetzel: Die trickmäßig ausgefeilteren Guten siegen über die brutalen, aber überlisteten Gangster. Abspann gibt es keinen, und so öffnet Martin sein Herz kurz nach dem letzten letalen Schuss: „Ich möchte mir dir reden, in letzter Zeit sind wir ja nicht mehr recht dazu gekommen.“
Erna sagt „gerne“, sucht die Fernsteuerung, findet sie unter ihrem Hintern und schaltet um.
„Morgen, also am Montag, hab ich den entscheidenden Termin.“
„Gut“, sagt Erna und stellt lauter. In den Nachrichten gibt es Bilder von Horden entschiedener Chinesen, die gegen eine Mauer treten, aus der sie Stück für Stück Steine lösen, die schließlich zu Boden fallen. Die nächste Einstellung zeigt die Szene aus der Luftperspektive: Es ist die chinesische Mauer und sie ist schon zu einem Gutteil beschädigt, im Schwenk wird offensichtlich, dass es sich dabei nicht nur um ein Teilstück handelst, sondern vielmehr großflächig an der Demontage des Weltkulturerbes gearbeitet wird.
„Was ist das?“, fragt Martin mehr in die Luft.
„Na, das mit den Chinesen und ihrer Mauer ...“, antwortet Erna und fühlt auch eine Mauer zwischen sich und ihrem Mann, „ ..., sie treten sie einfach ein, die Chinesen.“
„Und was bedeutet das?“, fragt Martin eine Spur zu laut, eigentlich wollte er sich diese Frage intern stellen.
„Keine Ahnung. Aber vorige Woche – war eh überall groß drin – sind sie mit Händen und Füßen losgestürmt. Hast du die Bilder nicht gesehen? Hat doch völlig doof ausgesehen: die vielen Menschen, die da mit Füßen auf diese große Mauer eintreten und dann auf einmal: bumm – fliegt wirklich ein Teil um.“
„Welche Bilder ...?“, fragt er – wieder eigentlich sich selbst.
„Na, im ORF und ZDF und ARD und NTV und RTL, überall ...“ – Erna sieht Martin fragend und ernsthaft und bekümmert und aufmerksam an: „... Sag jetzt bloß, du hast das nicht mitgekriegt?“
Martin steht wieder mit dem Rücken an einer Wand, diesmal im Schlafzimmer. Er braucht sie jetzt dringend als Stütze: Er will aufrecht stehen, sich keinesfalls hinsetzen oder umfallen – das ist er sich schuldig, das hat er geschworen, damals als Pfadfinder oder Ministrant, oder irgendwann: Er will aufrecht bleiben, sich nicht von irgendwelchen Informationen umhauen lassen, auch wenn sie schwer zu verarbeiten sind.
Martin lehnt sich fester an die Wand als notwendig, Ernas Ernst, Kummer und Aufmerksamkeit sickern langsam in ihn, und so vergeht doch einige Zeit, bis er eine schlüssige Antwort auf ihre Frage parat hat, die er zuerst durch ein ganz langsames horizontales Schwenken seines Kopfes kundtut: „Nein, also davon hab ich gar nichts gewusst, davon hab ich nichts mitgekriegt, die Arbeit ...”.
Er stammelt das vor sich hin, Erna sieht ihn fragend an: „Na, Und das mit dem Governor ...?“, die Frage beruhigt ihn etwas – jaja, da weiß er was: „Du meinst den, der sich bei den Demokraten auch gemeldet hat als Kandi ...“
„Nein, den mit dem elektrischen Stuhl.“
„Nein, den mit dem elektrischen Stuhl kenne ich noch nicht ...“, gibt er zu.
„Er hat drauf bestanden, selber der Letzte zu sein, der in Amerika auf den elektrischen Stuhl kommt und hat sich draufgesetzt ...“
Martin, der in den letzten Minuten gehofft hat, irgendwas zu hören, was ihm Zuversicht geben könnte, erheitern würde oder zu einem Lachanfall verführen könnte, entkommt ein kurzes, schrilles Kichern, dann folgt eine stumme Phase, in der er auch diese Neuigkeiten in sich reinsickern lässt. Er stemmt seinen Rücken immer fester zur Wand, die Füße rutschen dabei immer weiter von ihr weg.
„Du bleibst jetzt ein paar Tage zuhause, ich erzähl dir alles, was so in letzter Zeit passiert ist, du informierst dich, die Zeitungen sind alle noch da, wir schauen ein bisschen fern und in ein paar Tagen bist du wieder dick da.“
„Ich muss am Montag präsentieren“, meint Martin, der an der Wand hängt wie ein geschlagener Preisboxer in den Seilen und ständig tiefer sinkt – die Füße finden auf dem sündteuren und blankpolierten Parkettboden immer weniger Halt.
In den Nachrichten sind sie beim Kurzblock angelangt, in dem es um internationales Papperlapapp geht: Ein paar tausend Ungarn und Ungarinnen haben genauso viele Finnen und Finninnen geheiratet (Erna hat die Live-Übertragung schon am Vormittag auf RTV gesehen), in Belgien ist ein bekennender Nationalsozialist zum Ministerpräsidenten gewählt worden, Indonesien ist durch den steigenden Meeresspiegel innerhalb weniger Tage auf die Hälfte seiner ursprünglichen Fläche reduziert worden, und Aldi erreicht ungeahnte Höhenflüge auf der Börse mit seinen Sonderangeboten mit den Übersiedlungsprogrammen zum Mars.
Martin schüttelt es kurz, er sinkt dadurch noch weiter an der Wand runter, seine Füße rutschen noch ein wenig weiter, schließlich klatscht sein Hintern auf den Boden.
Erna setzt sich neben ihn, hält ihn dabei weiter auf dem Laufenden: „Naja, und letzte Woche hat Österreich im Stadion Pacaembu in Sao Paolo gegen Brasilien 17:2 gewonnen ...“
Es dauert einige Zeit, bis Martin vom Hier ins Jetzt findet.
Und: „Ach ja, hätt‘ ich doch glatt vergessen, wollte ich dir eigentlich gleich sagen: Dein Chef hat vorhin angerufen, das mit dem Termin morgen ... der ist abgesagt, daraus wird nichts.”
Christoph Stantejsky
www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? |Inventarnummer: 16112