Dass die mich nicht eingelocht und freigesprochen haben, war kein Glück, das war Können. Wegen Unzurechnungsfähigkeit zur Tatzeit. Sonst würde ich jetzt noch in der Anstalt hocken. Und ... das mit dem Bild, das habe ich mir reichlich überlegt. Ich meine, da habe ich ein Bild beschädigt und dann stürzen sich alle auf mich wie auf einen Massenmörder. Da kann es schon mal passieren, dass ich total durcheinanderkomm und irgendwas daherplappere. Die tatsächlichen Gründe sind mir damals auch gar nicht klar gewesen. Nicht so wie jetzt. Über die könnte ich ein Buch schreiben.
Was die Zeitungen gebracht haben, war ja sowieso alles Mist. Das war wieder typisch. Von „zerhacken“ konnte ja keine Rede sein. Ich meine, „Irrer“, das kann von mir aus durchaus zutreffen.
Aber irgendwie trauere ich der Zeit noch immer ziemlich nach, in der ich mich regelrecht paradiesisch gefühlt habe. Ich habe jetzt fast das Gefühl, dass derjenige, der da letzten Sommer die Aktion gemacht hat, ein anderer war. So kommt mir das fast vor. Das war ein Sprung aus 30 Metern Höhe mit dem Kopf voran ins kalte Wasser. Überhaupt komm ich mir heute ganz anders vor. Ich kann es gar nicht recht fassen, dass ich das wirklich war. Der, der bin ich nicht, das war ein anderer. Aber wer bin ich denn eigentlich? Meine Geschichte – die klingt wie die eines jeden, irgendwie langweilig. Fast habe ich den Eindruck, die Leute interessieren sich mehr für erfundene Geschichten, für spektakuläre. Sie rechnen sogar damit.
Geboren bin ich in einer kleinen Gemeinde mit 8.000 Einwohnern. Vier Geschwister habe ich noch und davon bin ich der Älteste. In der Schule war ich nicht schlecht, aber das war nicht so wichtig. Meinen Eltern jedenfalls nicht. Sie wollten nur, dass man mehr oder minder ein ordentlicher Kerl wird. Da kommen so Sachen ins Spiel wie Pflichterfüllung. Dass man ehrlich ist. So was in der Richtung. Nach der Matura hab ich dann mit Medizin begonnen. Am Anfang meines Studiums habe ich noch Idealvorstellungen gehabt. Aber ich war von dem, was dort an der Uni gelaufen ist, ziemlich enttäuscht. Ich habe die Art der Leute überhaupt nicht gemocht. Was sich die erwartet haben, hat mit mir überhaupt nicht übereingestimmt. Die hatten vor, ein dickes Auto zu fahren oder sich irgendwelche Annehmlichkeiten zu leisten. Es hat mich regelrecht angeekelt. Die hatten wirklich nur Geld, Autos, Tennis und Mädchen im Kopf. Meinen Eltern war das egal, was ich mache. Die stehen nicht so auf Prestige-Dinge. Aber sie hätten es doch ganz gerne gesehen, wenn ich weitermachte. Ich bin dann nämlich auf Veterinärmedizin umgestiegen. Das Verhältnis zu meinen Eltern? Vater, bestens – mein einziges Vorbild, und Mutter? Sie opfert sich für die Kinder auf.
Jedenfalls zu der Zeit damals habe ich mich wohlgefühlt. Ich kam mir irgendwie als Krönung der Schöpfung vor. Da gab es keine Vorbilder. In so einer Euphorie, da will man vom Arzt nichts wissen, da fühlt man sich kerngesund. Da sind dann automatisch alle Leute, die einen bewegen wollen, zum Arzt zu gehen, vollkommen schwachsinnig. Das gute Gefühl hat man von vornherein. Da braucht eigentlich kaum mehr etwas zu passieren. Das kann gar nicht mehr gesteigert werden. Man ist dauernd fit. So eine Art Schlaflosigkeit und Getriebenheit. In den Zeiten ist das überhaupt kein Problem – wie man so sagt – irgendwelche Frauen aufzureißen. Es geht dann alles wie von selbst. Insofern trägt das noch weiter zur Steigerung von diesem Hochgefühl bei. Der Kopf, der war unheimlich frei. Man hat wesentlich besser denken können. Es waren massenhaft Assoziationen da, und es kam mir so vor, als hätte ich dreimal so schnell gedacht wie irgendwelche anderen Leute. Aber das ist nur für einen selber so.
Man steht vollkommen über allem. In so einem Zustand habe ich in einem nagelneuen weißen Anzug einen Fluss durchquert, weil mir die nächste Brücke zu weit weg war. Ein anderes Mal habe ich Leuten Zigaretten besorgt: Da standen massenhaft Leute vorm Bahnhof, die auf einen Zug gewartet haben. Und die haben mich nach Zigaretten gefragt. Ich hatte keine, weil ich zu der Zeit praktisch kaum geraucht habe. Also habe ich was besorgt. Habe einen Automaten kaputtgeschlagen und den Leuten die Päckchen gebracht. Das war genau gegenüber dem Polizeirevier. Und fünf Minuten später haben die mich eingelocht. Wenn möglichst alle Leute in diesem Zustand wären, dann würde das auf den ersten Blick ziemlich chaotisch ablaufen, das Leben. Aber andererseits doch ziemlich geregelt und regelrecht paradiesisch, weil man sich wohlfühlt und man in diesem Zustand gar nicht in der Lage ist, jemandem richtig weh zu tun.
Ich war vorher schon, ich glaube so zwei Monate vorher, mehr oder minder zufällig in die Nationalgalerie geraten. Und dann war es diese Absperrung, ja erst diese Plastikabsperrung halbkreisförmig um das Bild herum am Boden, die mich so richtig aufmerksam gemacht hat. Was soll das denn, hab ich mich gefragt: Soll das ein Bild schützen oder was? Ich fand das richtig komisch, ich meine, so was findet man ja gewöhnlich auf Parkplätzen. Aber in einem Museum Autos, die Bilder beschädigen, also das finde ich ziemlich komisch. Wie die ein Bild vor seinen Liebhabern schützen! Und dann diese drei Flächen Farbe. Das muss man sich erst einmal vorstellen: ein Riesending mit bloß drei Flächen Farbe drauf. Wenn du davorstehst, kommst du dir richtig klein vor.
Ich habe es mir also angesehen und dann den Wärter gefragt, was das sein soll. Und der gibt mir zur Antwort: Wenn es drei Millionen gekostet hat, dann muss es ja Kunst sein – und dabei hat er sogar noch geschmunzelt. Drei Millionen - habe ich gedacht – ein Wahnsinnspreis. Da muss es etwas Besonderes sein, und hab mir dann das Bild noch einmal aus allen Perspektiven angeguckt. Als ich praktisch in der Mitte vor dem Bild stand, direkt vor der Absperrung, da hatte ich irgendwie so ein ganz seltsames Gefühl. Da hat mich was durchzuckt. Ich verspürte in irgendeiner Form Furcht davor. Für einige Momente bekam ich regelrechte Angstzustände. Ich bin mir da selber nicht sicher, ob man das Gefühl Angst nennen kann. So was Ähnliches. Jedenfalls rein vom Verstandesmäßigen her habe ich überhaupt keine Erklärung.
Im Gegensatz zur Nationalgalerie kenne ich das Dahlemer Museum von verschiedenen Besuchen. Wenige Tage vor der Sache in der Nationalgalerie bin ich da gewesen. Mir ist dort besonders Giovanni Battista Moronis Gemälde aufgefallen: Der Herzog von Albuquerque. Also das war für mich unheimlich lächerlich! Da ist der Don Gabriel auf dem Bild mit einem irgendwie ängstlichen Gesichtsausdruck und darunter auf dem Postament steht: Hier stehe ich ohne Furcht, und der Tod schreckt mich nicht. Unheimlich lächerlich! Ja, das Bild zweifellos, das Bild ist gut. Nichts gegen den Maler, der beherrscht seine Kunst. Aber diese jämmerliche Gestalt des Herzogs hat mich an manche Bücher und Schallplatten erinnert, die ich in der Zeit ebenfalls für Lug und Trug hielt. In meiner Wohnung hatte ich gerade eine Art Ausmistung vorgenommen, alles was Pseudokultur war. Darunter auch sämtliche Bücher von Thomas Bernhard. Ich hatte nämlich den Eindruck, die Leute werden regelrecht an der Nase herumgeführt. Ich weiß bis heute nicht, was ich von dem Bernhard zu halten habe. Einiges von ihm habe ich gelesen und konnte mit nichts auch nur das Geringste anfangen. Aber trotzdem hat er mich irgendwie interessiert. Ich habe gedacht, vielleicht schreibt der so tiefgründig und tiefschürfend, dass man eine Weile braucht, das zu verstehen. Aber gerade zu der Zeit hatte ich das Gefühl, der schreibt so einen Mist, und die Leute mögen das, obwohl es ihnen genauso geht wie mir. Dabei verstehen sie nicht, was er überhaupt bringen will.
Ein Buch muss ein Schlag auf den Kopf des Lesers sein, hat Kafka einmal gesagt – meine Hochachtung vor dieser Feststellung – aber es gibt viel zu wenig Menschen auf dieser Welt mit Wunden auf den Köpfen. Jedenfalls eingeschnürt wie ein Sack habe ich dann den ganzen Schrott in ein Bettlaken und dem Herzog von Albuquerque vor die Füße kippen wollen, weil er die Leute in derselben Art zum Narren hält: dieser ganze Habitus und dazu dieser Wahnsinnspreis. Mit meinem Kulturbeutel haben die mich dort gleich abgewiesen. Und so hab ich das Bündel an der Garderobe abgeben müssen. Wenigstens wollte ich dem scheinheiligen Herzog ein Buch widmen: Watten von Thomas Bernhard habe ich erwischt, um symbolisch etwas dort zu lassen. Ich wollte gerade das orangerote Buch in den Rahmen stellen, da hat mich wieder so ein Wärter ermahnt. Okay, okay ist ja schon gut, denke ich mir. Ich wollte nicht groß mit dem diskutieren, und so habe ich das Buch eben vor das Bild auf den Boden gelegt. Das wird wohl noch erlaubt sein. Es schien mir dann sauberer zu sein nach dieser Art Ausmistung. Gewissermaßen ein kleiner Beitrag zur Sauberkeit für die Wohngemeinschaft.
In der Zeit über Ostern bin ich praktisch allein in der Wohngemeinschaft gewesen. Alle anderen waren weg, und ich war ohne jeden Pfennig Geld, weil ich nicht zur Bank konnte. Ich hatte mit dem Karfreitag nicht gerechnet. Saß also hier rum und war vollkommen pleite. Und weil ich so kribbelig war, konnte ich unmöglich in der Wohnung sitzen bleiben und bin deswegen raus. Ich wollte einfach unter Menschen. Raus, raus, raus. War laufend auf Achse. Mehr oder minder zu Fuß zum Kudamm gezogen und dergleichen ... Dabei bin ich unheimlich geladen gewesen, weil das mit dem Geld nicht geklappt hatte. Ich hatte zwar Schecks, doch damit konnte ich mir nichts kaufen. Ich war fast am Verhungern und Verdursten. Es hat mich fix und fertig gemacht, dass dieses Scheißgeld überall im Weg war. Übrigens, das Geld mache ich oft verantwortlich für alle möglichen Missstände, weil ja die Weltordnung auf dem Kopf steht. Als Inbegriff von diesem ganzen Chaos habe ich dann auch dieses Bild gesehen.
Ich will jetzt nicht das Bild abwerten, aber es geht jetzt rein um den materiellen Wert von diesem Ding. Wenn für so etwas fast drei Millionen Mark bezahlt werden und sonst irgendwo müssen Kinder verhungern, dann ist das doch eine unheimliche, fragwürdige Angelegenheit. Da kann das Bild noch so gut sein, dann müsste es verboten sein, gesetzlich verboten, dass so ein Bild erworben werden darf. Es sei denn, jeder hat ausreichend zu essen. – Das sind alles Sachen, die sind nicht durchzuführen. Aber wieso eigentlich nicht?
Ich bin bereits einen Tag vorher, in der Nacht von Ostersonntag auf Montag, wie in Trance zur Nationalgalerie gegangen. Ich habe in der Nacht Halluzinationen gehabt, weil ich so lange nichts geschlafen hatte. Ich hatte das Gefühl, dass mich ein Engel oder so etwas zum goldenen Kalb führt, um das die Berliner herumtanzen. Und da war für mich schon klar, dass ich in der Nationalgalerie was machen wollte. Nur war mir da immer noch nicht so recht klar, was. Meine Gedanken kreisten nur noch ums Geld. Wenn man kein Bares hat, dann ist man vollkommen aufgeschmissen. Diese Bedürftigkeit habe ich Ostern über am eigenen Leib richtig erfahren und damals geglaubt, man kann sie den Leuten in einer Aktion irgendwie nahebringen.
Am Morgen hat mir jeder Schritt furchtbar wehgetan. Durch das nächtelange Herumziehen quer durch Berlin waren meine Beine angeschwollen. Ich hatte eine Funkstreife angehalten: Können Sie mich zur Nationalgalerie fahren? Ich hatte einfach kein Geld für ein Taxi. Und wie die mich bemerkt haben, gucken die mich an wie einen Marsmenschen. Was ist denn jetzt los? Wie es bei mir gefunkt hat, waren die schon wieder weg. Einfach abgehauen. Ich hatte ganz das Ding am Kopf vergessen, den blauen Bauhelm. Warum ich den noch aufhatte, weiß ich nicht. Vielleicht fühlte ich mich sicherer. Jedenfalls diese drei Flächen Farbe ließen mir keine Ruhe. Drei Flächen Farbe für 2,7 Millionen DM!
Ich musste es dem Bild einfach zeigen und der ganzen Scheinheiligkeit, der Verlogenheit. Überhaupt der Skrupellosigkeit der Mächtigen. Da kam mir die Idee, ein paar Sachen unter das Bild zu legen. Vielleicht zu den Farben passende Sachen. Da war einmal Rot. Insofern hat mir da die rote Liste schon ziemlich gut hingepasst. Die ist doppelt so dick wie die Bibel mit rund 70.000 Arzneimitteln drin. Die hat jeder Arzt. Mir ist augenfällig, dass die Pharmaindustrie jede Menge Gelder zur Verfügung hat, mit deren Hilfe sie dementsprechend über ihre Lobby in den Gesetzen rumpfuschen kann. Blau – der Spiegel. Auf dieser Ausgabe war die Margaret Thatcher als Jeanne d’ Arc. Das fand ich ein wenig unerhört, obwohl ich von politischen Zusammenhängen kaum was weiß. In Ritterrüstung war sie abgebildet vor dunkelblauem Hintergrund, wie sie mit Glorie in den Falkland-Krieg zieht. Ich habe nur den Eindruck gehabt, dass die Berichterstattung nichts als Lügen gewesen ist. Deshalb hat der Spiegel mir gut in den Kram gepasst für den blauen Teil in diesem Bild. Ich habe wirklich gedacht, die jubeln die Thatcher da hoch zu einer Art Heiliger. Zu der Zeit habe ich das ganz wörtlich verstanden. Beim Gelb habe ich an das gelbe Haushaltsbuch unserer Wohngemeinschaft gedacht, das wir hier seit vier oder fünf Jahren geführt haben. Das erschien mir wesentlich mehr wert, ein Kunstwerk genannt zu werden – und alles was damit zusammenhängt – wie dieses Bild. Für mich ist dieses unscheinbare Haushaltsbuch so ein Symbol von Zusammenleben. In gewissem Sinne ist das für mich – jetzt einmal höher betrachtet – so eine Art unverkäufliches Kunstwerk und die Wohngemeinschaft so was wie ein Gesamtkunstwerk.
Das ist natürlich Blödsinn. Aber es hat für mich größere Bedeutung als so ein Machwerk in dieser Richtung.
Ich weiß, dass mein Rumflippen, bevor es durch die Sache in der Nationalgalerie regelrecht kriminell wurde, anderen Leuten auf den Wecker gegangen ist. Ich bin in einem solchen Zustand dann nämlich auch übermäßig kritisch. Ich habe den Leuten alles Mögliche an den Kopf geschmissen. Teilweise auch Sachen, wo sie arg betroffen waren. Sachen, die man nicht ausspricht.
Und ich weiß ja selber, dass ich in so Zuständen manchmal meine Mitbewohner ganz link behandelt habe, wenn sie mir kritisch gegenübergestanden sind – und das müssen sie ja. In dem Zustand musste laufend etwas los sein. Zumal ich jede zweite Nacht wachgeblieben bin. Die sind ja gar nicht mehr zum Schlafen gekommen. Wenn ich drei Tage lang wach war, dann waren die es auch. Da kam es dann zu ziemlichen Problemen.
Ich habe mich zu der Zeit einfach dermaßen wohlgefühlt, immer permanent wohlgefühlt, dass ich das Bedürfnis hatte, ich müsste anderen Leuten zu diesem Zustand verhelfen. Ich dachte, ich bin im Besitz der absoluten Wahrheit, wie man es machen muss, um richtig zu leben. Ich habe fast auf eine so brutal schulmeisterliche Art und Weise den Leuten dahin helfen wollen. Da kam es oft genug dazu, dass ich nach einer Weile, wenn ich gemerkt habe, die Leute, die ändern sich nicht, die sind nach wie vor in irgendwelche nebensächlichen Sachen verrannt, dass ich die dann irgendwie durch so einen gewissen heilsamen Schock dazu bringen wollte, dass sie genauso drauf kommen werden, wie ich drauf war.
Als ich Dienstagabends also zum Museum komme, ist der Haupteingang verschlossen. Ich hab damals nicht gewusst, dass da eine Ausstellung abgebaut wird. Aber ich hab die Menschen im Inneren des Gebäudes gesehen und bin zum Hintereingang gegangen: Vielleicht ist da offen. Da war so eine kleine Glastüre, da stand „Kein Eingang“ drauf. Und da habe ich mir gedacht, bei den Künstlern, wenn da steht „Kein Eingang“, dann kann man da bestimmt rein. Da war auch prompt offen. Eine Menge Arbeiter waren damit beschäftigt, ein Ausstellungsstück abzutransportieren. Das muss ziemlich empfindlich gewesen sein. Später hab ich irgendwo erfahren, dass das ein 20-Tonnen-Stück war von Joseph Beuys „Unschlitt“. Ich bin da nicht weiter aufgefallen unter den Arbeitern. Habe ja ausgesehen wie die mit meinem blauen Schutzhelm auf und der ausgemusterten Ledertasche. Die haben mich schon gesehen. Aber die waren mit dem 20-Tonnen-Stück beschäftigt. Ich bin weiter so durch die Ausstellungshalle geschlendert, und da stand eine Rolle mit Verpackungsmaterial.
Ich war unheimlich gut drauf, und diese Rolle stand gerade richtig. Wenn man mit einem Fuß so dagegenschlägt, wird die Rolle richtig saftig gefällt. Das hat einen ziemlichen Krach gemacht auf dem Granitfußboden, und die haben sich alle nach mir umgedreht und mich böse angesehen, als würde ich sie bei der Arbeit stören. Irgendeine Entschuldigung habe ich vor mich hingemurmelt und das Ding wieder aufgerichtet: Eventuell ist das ja auch ein Kunstwerk, habe ich gesagt, da hätte ich wohl mehr aufpassen müssen, so was in der Art.
Die Arbeiter haben sich nichts weiter dabei gedacht. Vielleicht dass das nur ein Versehen war, und dann waren wieder alle konzentriert auf diese gewaltigen Fettblöcke, die man langsam mit Öldruckwinden angehoben hat. Das muss ja ungeheuer schwer sein, dachte ich, so wie das aussieht, oder die Maschine ist schlecht. Auf jeden Fall dauerte das eine Ewigkeit. Ich ging auf dieses fünfteilige Ding zu und bin da stehengeblieben, sah eine Weile zu und hab dann auch auf und nieder gesagt: auf – nieder – auf, auf – nieder ... Aber irgendeinem Typen bin ich auf die Nerven gefallen: Wenn Sie hier Kommando geben, dann kann ich ja gleich nach Hause gehen!
Okay, okay, ich geh ja schon. Der hat mir richtig den Spaß verdorben. Die Wärter müssen mich offenbar für einen Transportarbeiter gehalten haben, denn als ich an ihnen vorbeigegangen bin, haben die nichts gesagt. Also wenn ich da gleich aufgefallen wäre und die hätten mich rausgeschickt, dann – ich weiß nicht – dann hätte ich es vielleicht noch mal ausprobiert. Aber ich wäre nicht traurig gewesen. Aber so ...
Im Souterrain der Nationalgalerie befindet sich die ständige Sammlung. An dem Tag war das Haus für Publikum geschlossen, und da haben sie auch die Ausstellungsräume verriegelt und das Licht abgedreht bis auf die Notbeleuchtung. Aber ich wusste ja, wo das Bild zu suchen war und fand mich trotz des Dämmerlichts zurecht. Zum Glück war der Beckmann-Raum, in dem sich das Bild befindet, unverschlossen. Wahrscheinlich war da für eine Putzfrau oder so aufgesperrt worden. Jedenfalls hatte ich unwahrscheinliches Glück. Alles ging so leicht.
Ich bin da runter in diesen mittleren Raum, und da war es ziemlich finster. Da war es ganz schön düster, sodass ich die Farben als Farben gar nicht mehr gesehen habe, nur verschiedene Grautöne. Es war irgendwie ganz seltsam. Dieses Gefühl der Beklemmung von der ersten Begegnung mit dem Bild war wieder da. In diesem Augenblick habe ich Angst gehabt und deshalb laut geschrien. Ich habe aus Leibeskräften gebrüllt. Ich kann es gar nicht fassen, dass mich da niemand gehört hat. Ich war unheimlich laut. Auch schon als ich reingegangen bin, weil ich Angst hatte, dass mir irgendetwas passieren kann. Ich meine, es klingt jetzt vielleicht lächerlich: Was sollte mir schon passieren ... Aber es ist schlecht zu sagen, dass da irgendwelche Gespenster drin hausen ... nichts Artikuliertes, lauter unartikuliertes Zeug. Das Brüllen hab ich als befreiend empfunden. Es hat mir Mut gemacht. Ich wollte zuerst nur die Sachen, die ich in der Ledertasche mit in die Nationalgalerie gebracht hatte, dort hinwerfen und dann wieder gehen. Doch da hatte ich irgendwie das Gefühl, dass ich mich dagegen wehren muss. Und aus einer gewissen Angst heraus bin ich dann gegen das Bild vorgegangen. Zuerst ein Faustschlag ins Gelbe. Wie so ein Punchingball hat das Gemälde nachgegeben. Das hat bestimmt so einen halben Meter zurückgefedert – vielleicht bilde ich mir das auch nur ein – und hat meine Faust wieder herausgedrückt. Aber es hat sich ganz seltsam und unheimlich zäh angefühlt. Dass es nicht kaputtzubekommen war, hat mich nach diesem ersten Schlag fuchsteufelwild gemacht. Das war so, als würde es sich wehren gegen mich. Dann habe ich diese Stange vom Boden herausgerissen und damit mitten ins Blaue gedroschen. Ich habe gedacht, wenn ich damit dagegenschlage, dann ist es endgültig kaputt. Ich wollte es gar nicht unbedingt kaputtmachen! Ich hatte nur für einen Moment so das Gefühl: Ich muss mich regelrecht dagegen wehren. Deswegen auch der Fußtritt ins Rote. Das war dann nur noch der Rest. Ich muss das jetzt noch mal sagen: Ich habe das alles ja nicht so vollkommen überlegt und geplant gemacht. Das ist im weitesten Sinn ein Unfall gewesen. Ich wollte es dem Bild zeigen. Das habe ich auch denen bei der Vernehmung gesagt.
Auf die dunkelblaue Bildfläche habe ich einen Zettel geklebt mit dem Spruch: Wer es bis jetzt noch nicht versteht, soll dafür bezahlen. – Ein kleiner Beitrag zur Sauberkeit. Der Titel sollte mehr oder minder ironisch ausdrücken, dass ich den ganzen Kunstrummel idiotisch finde. Aber wer eben meint, diese Aktion sei irgendetwas wert, der könne sie mit seinem Geld erwerben und der soll ruhig schon mal dafür bezahlen.
Vor dem roten Teil habe ich die rote Liste hingeworfen. Vor den blauen den neuesten Spiegel und vor den gelben Teil: das gelbe Haushaltsbuch und drauf den zweiten Zettel mit meiner Anschrift. Dann habe ich noch mein rotes Sparbuch dort gelassen und einige Schecks, die ich mir am Morgen geholt habe. Zu holen war da sowieso nichts. Ich war ja total abgebrannt.
Beim Rausgehen hatte ich nicht das Gefühl, ich muss dahinschleichen – überhaupt nicht. Was sollte mir schon passieren! Ich muss dazu auch sagen, wenn das nichts geworden wäre, wäre es mir auch egal gewesen. Ich wollte für mich dadurch nicht irgendwie einen befriedigenden Zustand erreichen. Ich war so gut drauf, mir ging es so gut, dass es kaum zu steigern war.
Als ich plötzlich aus dem Beckmann-Raum gekommen bin, stand ein alter Wärter vor mir und sagte: Im Museum haben Sie nichts zu suchen. Ich war sehr ruhig und gelassen. Nach der Erregung und dem Gebrüll hatte ich überhaupt keine Angst mehr vor irgendwelchen Konsequenzen. Der hat mich dann in die obere Halle zurückgeführt und am Haupteingang auf die Straße gesetzt. Vorher hatte er noch meine Ledertasche kontrolliert. Da war mittlerweile nichts mehr drin – bis auf so ein paar Schecks.
Ich kann mir die Situation gut vorstellen, während ich in aller Ruhe verschwunden bin, macht er das Licht an und sieht auf seine alten Tage genau das, was er immer verhindern wollte. Das ist die Angst eines Museumswärters.
Als die ganze Sache dann gelaufen war, war ich irgendwie so benommen, als ob ich gerade aus dem Kino käme. Der Typ, der „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ geschrieben hat, wie heißt er doch gleich, der ... der ... ist ja egal, der sagt doch das Gleiche wie der Kafka. Er denkt, es wäre hübsch, wenn die Leute beim Verlassen des Theaters auf die Fahrbahn wanderten und von einem Taxi überfahren werden würden. Natürlich möchte er nicht, dass sie sich dabei verletzen, aber besser wäre, so aus dem Theater zu kommen als mit dem einzigen Gedanken: Wo hatte ich bloß mein verdammtes Auto geparkt? Und genauso war es bei mir.
Noch am selben Abend haben sie dann in der Wohngemeinschaft über moderne Künstler geredet. Es war nur zum Kopfschütteln. Einem habe ich erzählt, dass ich in der Nationalgalerie ein Happening veranstaltet habe. Der hat mich so doof angeguckt, dass ich ihm drauf erklären musste: Andere Künstler haben sich besonders wüst gebärdet und sind als Künstler anerkannt worden. Vielleicht gelingt mir das auch eines Tages. Was andere Künstler gemacht haben, das bringe ich bestimmt!
Auf der Polizei – wie die mich vernommen haben – da habe ich irgendwie Angst gekriegt. Ich wusste ungefähr, wie die denken und was die hören wollen: „Das Bild ist meiner Meinung nach eine Perversion der deutschen Flagge und soll den Deutschen Angst machen.“ So was in der Art. „Ich habe dem Bild mitten in die Visage gespuckt, weil es eine Schande für die Nationalgalerie ist. Auch andere Bilder in der Nationalgalerie gehören meines Erachtens da nicht hin.“ Das hat denen so gut gefallen, da hat es mir Spaß gemacht, so weiterzuspielen.
„Ich habe es für meine Pflicht gehalten, die Menschheit darauf aufmerksam machen zu müssen, dass Steuergelder in Millionenhöhe für solche das deutsche Volk beleidigenden Bilder nicht ausgegeben werden dürfen.“ Ich hatte das Gefühl, das hat denen so gut gefallen, die haben mir fast rechtgegeben. Ich will jetzt nicht behaupten, die Polizisten wollten mir irgendwas in den Mund legen. Ich hatte nur den Eindruck, die checken das nicht ab, wenn ich denen groß und breit erkläre, was mich wirklich dazu gebracht hat und was ich da beabsichtigt hatte. Das hatte ja mit dem deutschen Volk überhaupt gar nichts zu tun. Ich bin ja kein Rechter oder ein Kriegstreiber. Immerhin habe ich zwei Anträge auf Wehrdienstverweigerung gestellt. Und nach Berlin bin ich auch gezogen, damit ich nicht zum Bund muss. Das mit dem deutschen Volk war ja alles nur Masche. Aber die haben sie vor allen Dingen auch sofort begriffen. Letztlich ist es mir völlig gleichgültig gewesen, was ich da unterschrieben habe. Hauptsache war, dass wir mit diesem blödsinnigen Papierkram fertig wurden. Das Rumsitzen bei der Vernehmung hat mich unheimlich genervt.
Ich habe ganz genau gewusst, dass die mich in eine Anstalt stecken wollen. Aber das wollte ich nicht. Dazu muss ich auch sagen, dass ich mich zu der Zeit, wenn es notwendig war, auch vollkommen ruhig geben konnte. Ich war nicht immer nur total hektisch und aufgedreht. Das lag mir schon am Herzen, der Amtsärztin klarzumachen, dass ich in diesem Zustand vollkommen normal bin.
Das war mein Glück. Und so haben sie mir ein paar Wochen Ruhe gelassen. In der Zeit habe ich Leserreaktionen in der Presse verfolgen können. Einer hat geschrieben, man soll diejenigen, die das aufgehängt haben, ebenfalls aufhängen. Oder ein anderer: Wir nehmen uns vor, dieses primitive Bild erneut zu zerstören – aber total! Ein anderer wieder hat geschrieben: Ich teile Ihnen hiermit mit, dass ich auch Lust hätte, irgendwelchen abstrakten Scheiß zusammenzuschlagen. Wenn ich einen Künstlerfarbenkasten bekommen hätte, stünde ich der abstrakten Weltspitze keineswegs nach; damals in der Schule habe ich auch gemalt. Ich konnte genauso wenig wie z. B. der Hans Hartung, hatte aber keine Chance mit so einem Kack von Pelikan Wasserfarben. Damit war ich unterprivilegiert.
Aber das Ärgste, was ich gelesen habe: Der Bürgermeister bei uns zu Hause soll mich für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen habe. Ich mit dem Bundesverdienstkreuz! Und das, weil ich was kaputtgeschlagen habe. Also wenn das nicht komisch ist, dann weiß ich nicht.
Nach ein paar Wochen haben sie mich dann doch in die Psychiatrie gesteckt. Der Nervenärztin habe ich erklärt: Ich bin selbst in der Lage, ein vergleichbares Gemälde für einen Bruchteil des Ankaufspreises herzustellen. Durch mein Vorgehen habe ich dem Bild erst Bekanntheit und Wert vermittelt, und die Differenz des Kaufpreises zum jetzigen Wert müsse man mir eigentlich auszahlen. Ich habe ihr auch – so wie ich gelesen habe – erklärt: In Wirklichkeit hat „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue“ bei der Witwe Barnett Newmans nur 100.000 Dollar gekostet. Das sind 250.000 DM. Wer weiß, wer sich da das andere Geld eingesteckt hat!
Knapp ein Vierteiljahr nach der Sache habe ich dann dem Direktor der Nationalgalerie geschrieben und der Witwe Barnett Newmans. Die wollte ich natürlich auch kennenlernen. Wenn sie schon meine Sache so ausgeschlachtet und heftig verurteilt haben wie „Kulturschande“, „furchtbare Untat“, dann wollte ich auch mit denen reden ...
Also habe ich geschrieben: Ich bin mir fast sicher, dass Sie – wie die meisten, die mich nicht persönlich kennen – ein falsches Bild von mir haben. Und dass ich derzeit noch der Einzige bin auf der ganzen Welt, der dieses physio-psychologische Gemälde erkannt hat usw. und so fort – egal. Jedenfalls geschrieben haben sie mir bis heute nicht.
Beim Prozess haben sich mich dann freigesprochen. Nur – im Falle einer Wiederholung wollen sie mich dann einlochen. Aber – alles Quatsch. Ich bin ja sowieso davon überzeugt, dass der Newman eigentlich, wenn er noch leben würde, mit mir einer Meinung wäre. Und vielleicht überhaupt nichts dagegen gehabt hätte, dass das so gelaufen ist. Vorausgesetzt man hätte mit ihm sprechen können. Aber natürlich geht das nicht, wenn die Leute aus den Zeitungen irgendwelchen Stuss erfahren.
Ich habe auch so das Gefühl – ich muss ja auch sagen, ich kenne den Newman überhaupt nicht – aber ich habe so das Gefühl, dass das Bild jetzt durch diese Sache, die ich da gemacht habe, erst richtig vollendet ist. Und dass das, was ich da gemacht habe, den Leuten einiges erst richtig klarmacht oder das Bild erst richtig klarmacht. Ich war damals auch wirklich der Meinung, man würde meine Aktion im Nachhinein auch als so eine Art Aktionskunst, Happening, akzeptieren, das hab ich auch der Nervenärztin erklärt.
Immerhin die ganze Sache ist jetzt schon eine Weile her, aber ich finde, diese Aktion müsste – wenn man sie jetzt in Verbindung sieht mit den Sachen, die ich eigens dafür mitgenommen habe – eigentlich jeder, der davon hört, unheimlich gut finden. Wenn nicht, dann hat er von dieser Aktion oder überhaupt von diesem Ding nichts, aber schon gar nichts kapiert; wer dieses Bild kapiert, muss es einfach zerstören. Und die, die das nicht tun, zerstören es noch viel mehr.
Fritz Schuler
www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau'n | Inventarnummer: 16122