Das Bic hat er sich nicht gekauft: Es ist irgendwie gekommen, auf einmal dagewesen, da wo kurz vorher noch gar nichts war, nämlich in seiner Hand, da war es auf einmal, hat dann seinen Weg in Haralds Hosentaschen wie von selbst gefunden, ganz ohne willentliches Zutun von Harald selber. Egal welche Hose er sich anzieht, egal welche Lade er aufmacht – in jeder Tasche, in jedem Sackerl findet sich eines der Dinger, mal schlicht einfärbig, mal beschriftet, besonders viele kommen vom Sägewerk Prödl, was ihn oft irritiert, gehört ihm doch das Unternehmen nicht, kennt er auch keinen Menschen, der da arbeitet, außerdem liegt es gut zweihundert Kilometer südlich in einem anderen Bezirk, einem anderen Bundesland, Harald hat das gegoogelt.
So ist das heute, er kennt es aber auch anders: Im letzten, gnadenlosen Winter durchstöberte er die ganze Wohnung, fand nirgendwo ein Feuerzeug, auch keine Streichhölzer; keine Steine, mit denen er Funken schlagen , kein Stroh, das einen davon auffangen hätte können. Damals arrangierte er am E-Herd ein paar schlanke Späne, die er sich aus seinem Kochlöffel geschnitzt hatte, zu einem kleinen Lagerfeuer, darunter platzierte er die Watte eines ungebrauchten Tampons als Futter, drapierte es noch mit hauchdünnen Streifchen, die er aus dem Klopapier gefuzelt hatte – das Flämmchen brennt aber nur kurz – die Zigaretten liegen noch im Zimmer, die Späne fangen das Feuer nicht wirklich, Harald kommt zu spät zurück.
So ist er doch noch runter auf die Straße, die wenigen Passanten rauchen nicht und fürchten sich vor dem Mann, der sie, mit einer Zigarette im Mundwinkel, eine zweite in der anderen feuchten Hand, seltsam ansieht – so als wollte er sie gleich was fragen. Sie wechseln die Straßenseite, so bald sie ihn sehen und beschleunigen ihre Schritte, so bald Harald Anstalten zeigt, eine Bewegung in ihre Richtung zu machen.
Seine Freunde kennen diese Geschichten, schon seit Jahren stecken sie ihm ab Ende September Feuerzeuge zu, lassen ihre unbeaufsichtigt vor ihm liegen. Ende Oktober ist dann Haralds kleine Wohnung so bunt wie der Frühling: in der Küche zu farbenfrohen Grüppchen arrangiert, im Zimmer nach Grundfarben zusammengefasst, auf der Stellage vor den ungelesenen Büchern in einer lange Doppelreihe platziert – diese Exemplare sind mit Werbeaufschriften versehen, Harald ordnet sie täglich alphabetisch nach den Anfangsbuchstaben der Firmen, die diese Feuerzeuge unters Volk streuen. Auch dieses Jahr ist das Sägewerk Prödl prominent vertreten, Harald reiht sie unter „P“ ein, nicht unter „S“.
Auf der Fensterbank, auf und in der Vitrine, am Spülkasten im Klo, auf und im Alibert, auch auf Tisch und Sessel kugeln ein paar, noch nicht sortierte, herum – es müssen tausende Bics sein, die seiner Bleibe einen etwas seltsamen, aber doch irgendwie lustigen, frohen Eindruck verleihen.
Der November und die ersten beiden Dezemberwochen sind Haralds Hoch-Zeit: Er ist stets gut gelaunt, lässt keine Party, kein Konzert aus, er ist überall anzutreffen, wo sich mehr als fünf befreundete Seelen zusammenrotten. In dieser Zeit geht er nicht aus dem Haus, ohne eine stattliche Anzahl der Feuerzeuge mitzunehmen, alle Taschen seines Sakkos beulen sich fast obszön, und er geht mit seinem Vorrat äußerst großzügig um: Er verschenkt sie wie selbstverständlich bei jeder Gelegenheit, drückt an der Busstation einer Greisin eines in die Hand, auch wenn sie nicht weiß, wie ihr geschieht, beglückt den Buschauffeur mit einem roten, die anderen Fahrgäste mit andersfarbigen Bics, bevor er sich hinsetzt.
In der Stadt angekommen, lässt er mit jeder gerauchten Zigarette einen der Feuerspender liegen, sein Sakko wirkt bald unnatürlich, auch wenn sich in seinen vielen Taschen und Täschchens nur mehr wenige befinden. Es geht sich stets gut aus, vor seiner Haustür zündet er sich eine letzte Zigarette an, nimmt das letzte verbliebene Bic sicherheitshalber mit rauf.
Es reicht jeweils bis knapp zum Jahreswechsel. So ab der dritten Adventwoche wirkt Harald nicht mehr so eloquent, so freundlich, so rund, wie ihn seine Freunde kennen – auch wenn es nach dem ersten Blick noch so scheint, aber selbst darin ist bereits eine gewisse Nervosität zu erkennen.
In der letzten Woche des Jahres Harald sieht nur mehr seine beiden vertrautesten Freunde und das auch nur in seiner Wohnung, die nun farblos wirkt, grau in grau wie das Schwarz-Weiß-Foto von ihm als Kind – diesem jungen, Gesicht, das ihn ständig aus einem kleinen Rahmen beobachtet: Vom Schreibtisch aus hat es auch einen guten Überblick über Haralds Reich.
Harald ist unaufmerksam, lädt das Handy, auch wenn er es nur mehr kurz und bei dringendem Bedarf einschaltet, sucht beständig irgendwas lange, bis er vergisst, was er eigentlich gesucht hat, überprüft ständig den Wasserstand der ‚Estufa Hidroponica’, die er hydrokulturell aufzieht – seine Freunde, die nur mehr die Sorge um Harald zu ihm bringt, bleiben jeweils nur kurz.
Harald lässt Silvester aus, rettet sich ins neue Jahr mit Feuerzeugen, die er noch in der einen oder andere Hosentasche findet, in einem schon so lange nicht mehr angezogen Anzug, in einem der vielen Schränke, vielleicht ganz hinten in der Brotlade, versteckt im Sommerschuh, vergraben in der eigentlich für die Petersilie gedachten Erde im Blumentopf in der Küche. Als letzten Ausweg gibt es noch auf kurzer Schnur vom Balkon herabhängende, ständig Wind und Wetter ausgesetzte Exemplare, vorsorglich hat er sie in kleine Plastiksäckchen eingeschweißt. Es handelt sich um völlig ungebrauchte, farbriksneue Reklame-Tools vom Sägewerk Prödl, genau so wie die Chance, die er in besseren Zeiten, mit Resten vom Silvesterblei beschwert, im Spülkasten versenkt hat.
Der Jänner ist hart, gegen Ende des Monats findet Harald auch die beiden Balkon-Exemplare nicht mehr, was ihn halb verrückt macht: Er lebt in seiner Wohnung in einem geschlossenem Inertialsystem, aus dem, rein physikalisch gesehen, einfach nichts verschwinden kann und Harald hat seine Wohnung schon seit Wochen nicht mehr verlassen, keine Freunde mehr empfangen, weiblichen Besuch gibt es in dieser Jahreszeit sowieso nicht. Zigaretten hat er noch genug, er hat für die schwere Zeit sicherheitshalber fünfzehn Stangen Zigaretten gebunkert – es gibt aber kein Feuer, schließlich funktioniert auch die eiserne Reserve aus dem Klo nicht: Er hat wohl in den guten Zeiten schlampig gearbeitet – das Ding schwimmt in dem Plastik wie ein Goldfisch im Glas. Während es Harald im Backrohr bei nur fünfzig Grad und offener Tür vorsichtig trocknet, durchstöbert er die ganze Wohnung, findet nur Bestandteile von Feuerzeugen, allerdings keinen Zündstein, es gibt auch keine Streichhölzer.
Auch keine Steine, mit denen er Funken schlagen könnte, kein Stroh, das einen davon auffangen könnte. Er arrangiert am E-Herd ein paar schlanke Späne, die er sich wieder aus seinem bereits sehr seltsam geformten Kochlöffel schnitzt, zu einem kleinen Lagerfeuer, darunter platziert er die Watte des vorletzten ungebrauchten Tampons als Futter, drapiert es noch mit hauchdünnen Streifchen, die er aus dem Klopapier fuzelt. Die Zigarette hat er bereits im Mund – das Flämmchen brennt aber zu kurz oder Harald saugt etwas zu spät darüber, er zieht nur kalte Luft in seine Lunge, kalte Luft, die etwas nach Tabak schmeckt.
So geht er doch noch runter auf die Straße, die wenigen Passanten rauchen nicht und fürchten sich vor diesem Mann mit dem etwas seltsamen Blick und einer Zigarette im Mundwinkel, eine andere in der feuchten Hand.
Erst dann kommt der Februar, danach der März und so weiter.
Christoph Stantejsky
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