An einem sonnigen Frühlingstag im Jahr 2013 verließ Franz Rieser sein Haus. Er versperrte die Eingangstüre und setzte sich auf die rustikale Holzbank vor seinem Heim. »Murli, Minka!«, sagte er halblaut, doch laut genug, dass seine beiden Katzen ihn hören konnten. Sie sprangen zu ihm auf die Bank und schnurrten vor Behaglichkeit, während er sie streichelte.
Zehn Minuten später küsste er die Katzen auf ihre Köpfe und verließ sein Grundstück. Mit langsamen Schritten mühte er sich den kleinen Hügel hinter seinem Haus hinauf. ›Es wäre besser gewesen, einen richtigen Spazierstock zu nehmen‹, dachte er. ›Dieses schwere Ding taugt nicht zur Gehhilfe.‹
Auf der Kuppe des Hügels stand ein Apfelbaum in voller Blüte.
Unter diesem Baum ließ Franz Rieser sich nieder. Er hatte ihn vor vielen Jahrzehnten gemeinsam mit Maria, seiner Ehefrau, gepflanzt. Er saß, seinen Rücken an den Baumstamm gelehnt, im Gras. Seine rechte Hand hielt einen zylindrischen Gegenstand, diesen betrachtete er. Er drehte ihn zwischen seinen Fingern und fühlte, wie er langsam wärmer wurde. Dann zuckte Franz Rieser mit seinen Schultern und schob den Zylinder in die linke der beiden für ihn vorgesehenen Öffnungen.
So saß er da und dachte über sein Leben nach, welches nun schon dreiundneunzig Jahre andauerte und, von zwei Ereignissen des Unglücks abgesehen, glücklich verlaufen war. Naturgemäß, wie das bei vielen Menschen so ist, kamen ihm diese beiden Ereignisse zuerst in den Sinn.
Das erste von beiden war der Michael gewesen, sein Sohn. Dieser war im Alter von vierunddreißig Jahren in Wien gestorben. In einer kalten Novembernacht im Jahre 1974 war der Michael in die Donau gestürzt und ertrunken. Lange Zeit hatten Franz und Maria keine Erklärung für den Tod ihres Sohnes finden können. Der Michael war ein hervorragender Schwimmer gewesen, also hätte er nicht ertrinken müssen. Monika, seine um drei Jahre jüngere Schwester, hatte ihren Eltern oft gesagt: »Ich bin mir sicher, dass der Michael jemanden in der Donau hat treiben sehen. Und da konnte er eben nicht anders, als ins Wasser zu springen, um diesem Menschen das Leben zu retten. Ihr wisst ja, was für eine hilfsbereite Art er gehabt hat. Und dabei, bei diesem Versuch zu helfen, ist er umgekommen.«
Maria Rieser hatte sich leichter mit dieser Erklärung zufriedengeben können als ihr Mann.
Dieser war eigens nach Wien gefahren, drei Wochen nach dem Begräbnis seines Sohnes, und hatte sich in dessen Umfeld umgehört. Was er damals erfahren hatte, behielt er stets für sich, denn er wollte seine geliebte Ehefrau nicht mit Dingen belasten, die nicht mehr zu ändern waren, und Monika, Michaels geliebte Schwester, wollte er auch nicht verstören.
Er hatte mit sämtlichen Freunden seines Sohnes gesprochen und Folgendes erfahren: Der Michael war die Monate vor seinem Tod sehr unglücklich gewesen. Ein paar Freunde sprachen von todtraurig, einer gar von ärztlich diagnostizierten Depressionen. Der Alkohol war in seinen letzten Monaten das einzige Lebenselixier des Michael gewesen, erfuhr er weiters, Seelentröster und wohl auch Schlafmittel. Der Grund für diese Verzweiflung wäre wohl eine Frau gewesen, sagte man ihm, aber Genaueres erfuhr Franz Rieser nicht, natürlich aus dem Grund der Diskretion.
All das, was er erzählt bekommen hatte, sagte ihm, dass der Michael mitnichten das Leben einer anderen Person hatte retten wollen, sondern dass er seiner gequälten Seele wenigstens durch seinen Tod den Frieden hatte schenken wollen, den diese im lebendigen Michael nicht mehr hatte finden können.
Wie er so dasaß, an den Baum gelehnt und an seinen Sohn denkend, stiegen ihm die Tränen in die Augen.
›Wenn er doch nur gesagt hätte, dass ihn etwas quält‹, dachte er, ›dann hätte ich ihm doch helfen können. Dann hätte sich der Bub nicht umbringen müssen. Aber er hat ja nie etwas gesagt.‹ Er weinte stumm vor sich hin. ›Er hat nie etwas Vernünftiges gemacht, der Michael‹, dachte er weiters, ›keine Arbeit hat er gehabt, und eine eigene Familie auch nicht. Aber er hat es immer geschafft, wenigstens irgendwie durchzukommen. Vielleicht hätte seine letzte Idee, es mit dem Schreiben zu versuchen, zum Erfolg geführt. Wenn er nur durchgehalten hätte. Ach, was denke ich da? So war es eben. Schad um den Bub.‹
Monika, das zweite Kind von Maria und Franz Rieser, hatte stets entsprochen und die ihr gestellten Aufgaben aufs Beste erledigt. Sie hatte Medizin studiert und arbeitete als Hautärztin in Graz. Sie war mit einem Notar verheiratet und hatte zwei wohlgeratene Töchter, welche selbst jeweils zwei Kinder zur Welt gebracht hatten.
Am Tag vor diesem Frühlingstag im Jahr 2013 hatte Franz Rieser mit seiner Tochter telefoniert. »Monika«, hatte er sie gefragt, »was soll ich der Mama von dir ausrichten?«
»Papa«, hatte sie geantwortet, »es wird noch eine lange Zeit dauern, bis du die Mama wieder triffst!«
»Wenn ich sie treffe, ganz egal wann das sein wird: Was soll ich ihr sagen?«
»Bitte sag ihr, dass es uns allen gut geht und dass wir sie vermissen.«
»Das werde ich. Soll ich ihr noch etwas sagen?«
»Ja. Sag ihr, dass ich erkannt habe, dass sie recht hatte.«
»Womit hatte sie recht?«
»Sie hat immer gesagt, dass zwei Menschen oder Dinge, die zusammengehören, stets beisammen sein müssen.«
»Ja, das hat die Mama oft gesagt.«
Und sie hatte es nicht bloß gesagt, Maria Rieser hatte nach diesen Worten gelebt, so wie auch ihr Ehemann.
Von Kindesbeinen an hatten sie sich gekannt, waren sie doch auf benachbarten Bauernhöfen aufgewachsen. Sie waren im selben Jahr, 1920, geboren worden, bloß drei Wochen trennten ihre Geburtstage. Sie hatten die selbe Klasse in der Volksschule besucht, und danach auch in der Hauptschule nebeneinander gesessen.
Maria hatte eine Lehre zur Schneiderin abgeschlossen, Franz eine zum Tischler, doch hatten sie ihre Berufe nie zum Gelderwerb ausgeübt, denn Franz Rieser war es, als einzigem Kind seiner Eltern, bestimmt, den Hof seiner Familie zu übernehmen.
Im Alter von sechzehn Jahren waren die beiden eine, zunächst heimliche, Beziehung eingegangen, die bis zu Marias Tod Bestand hatte, und sogar über diesen hinaus, denn Franz hätte niemals zugelassen, dass eine andere Frau als seine Maria neben ihm liegt. Auch fühlte er sich zu alt dazu.
Sobald sie volljährig geworden waren, hatten sie geheiratet, und im Alter von zwanzig Jahren hatte Maria Michael und drei Jahre später Monika zur Welt gebracht. Vom Zweiten Weltkrieg waren sie verschont geblieben. Franz Rieser hatte es durch verwandtschaftliche Beziehungen so einrichten können, dass er nicht an die Front musste, und in der kleinen Ortschaft im steirischen Hügelland fand der Krieg so gut wie nicht statt.
Franz führte den Hof seiner Familie vorbildlich. Er sorgte gut für das Vieh, und mit der Zeit wurde der Hof immer größer. Neue Ställe wurden erbaut, Obstgärten von benachbarten Gehöften übernommen, und bald galt das Ehepaar Rieser als reich.
Und in der Tat, Sorgen hatte es keine. Franz liebte seine Arbeit, und so verwundert es nicht, dass er sie gut verrichtete. Er konnte es sich leisten, ein großes und ertragreiches Jagdrevier mit vielfältigem Wildbestand zu pachten und wurde ein begeisterter und eifriger Jäger.
Seine Ehefrau widmete sich den Kindern, die beide das Gymnasium des Nachbarortes besuchten. Monika lernte gut und maturierte mit Auszeichnung, der Michael musste zwei Klassen wiederholen und legte seine Matura mit Ach und Krach ab. Monika studierte dann Medizin in Graz und der Michael Kunst in Wien. Jedoch brach er sein Studium nach wenigen Semestern ab und lebte vorwiegend von dem Geld, das ihm von seinen Eltern überwiesen wurde.
Auf Urlaub fuhr die Familie Rieser selten, und wenn doch, dann bloß für wenige Tage nach Italien. Selbst als längst Knechte und Mägde auf dem Hof beschäftigt und die Kinder aus dem Haus waren, gönnten sich Maria und Franz keinen langen Urlaub.
Sie waren sich eben selbst genug. »Das Wichtigste ist, dass wir stets beisammen bleiben«, hatte Maria oft gesagt. »Und das können wir zu Hause genauso gut wie in Spanien oder auf den Malediven.« Und Franz hatte ihr dann stets beigepflichtet.
In all den Jahrzehnten ihrer Ehe hatte es keine einzige Nacht gegeben, die sie nicht nebeneinander verbracht hatten. Und es hatte niemals Streit gegeben, noch nicht einmal Zank. Kein Ohr der Welt hätte von einem bösen Wort zwischen den Eheleuten Rieser berichten können, denn kein solches war jemals gefallen.
Franz Rieser saß unter dem blühenden Apfelbaum und dachte an seine Maria. Wieder weinte er stumm.
Vor genau einem Jahr war Maria Rieser gestorben.
Sie war ohne erkennbare Anzeichen einer Krankheit an seiner Seite eingeschlafen. Aufwachen hatte er alleine müssen.
Er griff in die Tasche seiner Jacke und zog einen weiteren zylindrischen Gegenstand heraus. Auch dieser wurde in seiner Hand bald warm, so warm, wie es ihm ums Herz war beim Denken an Maria.
›Ach, meine Maria‹, dachte er, ›vor genau einem Jahr bist du gegangen. Wie geht es dir? Und wie geht es dem Michael? Ist er bei dir? Ich habe dir heute Blumen auf dein Grab gelegt. Und nachgedacht. Schon bald werde ich wieder an deiner Seite sein.‹ So dachte er, während er den Blick fest auf den Gegenstand in seiner Hand gerichtet hielt.
Nicht nur, dass sie niemals voneinander getrennt geschlafen hatten, man sah Franz und Maria Rieser bloß zu zweit in der Öffentlichkeit. Die raren Besuche der Dorfkirche standen sie gemeinsam durch, auch die seltenen Einkehren in das teurere und bessere Gasthaus des Ortes fanden gemeinsam statt. Sie hatten sich nicht absichtlich vom Dorfleben ferngehalten, es hatte sich einfach so ergeben, dass sie die meiste Zeit auf ihrem Hof zubrachten. Gastfreundlich, das waren sie. Wann immer jemand aus dem Dorf auf ihren Hof kam, wurde dieser Mensch großzügig bewirtet, oft mit Gerichten aus Wildfleisch, das Franz von seinen zahlreichen Jagdausflügen mit nach Hause brachte.
So war es auch nach dem Begräbnis des Michael. Beinahe alle Dorfbewohner waren auf den Hof der Riesers gekommen, um ihr Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, denn trotz ihrer sehr privaten Lebensführung waren diese im Ort hochgeachtete Leute. Und alle wurden sie bewirtet, obwohl der Michael vielen von ihnen als Sonderling gegolten hatte, zu dem man besser Abstand hielt. Und des Michaels Eltern hatten das genau gewusst.
›Du warst die einzige Frau, die ich geliebt habe. Kein Schrei, keine Träne kann die Tiefe des Lochs ausdrücken, das dein Fortgehen in mich gerissen hat‹, dachte Franz Rieser. Das Objekt in seiner Hand war nun mehr als nur warm. Es war heiß, ganz so, als drängte die Hitze aus ihm heraus. Und Franz fühlte diese Hitze. Sie begann nämlich, von seiner Handfläche ausgehend, sich in ihm auszubreiten, immer näher kam sie seinem Herzen. ›Vorige Woche habe ich das Geld vom Verkauf des Hofes der Monika überwiesen. Selbst unsere Enkelkinder sind nun befreit von Geldsorgen. Und das ihr Leben lang, wenn sie geschickt mit dem Geld umgehen.‹
Zwei Monate nach dem Tod seiner Ehefrau hatte Franz Rieser den großen Hof verkauft und sich bloß ein kleines Haus am südlichen Rande des Anwesens behalten. Der Besitzer des örtlichen Sägewerks hatte eine sehr große Summe bezahlt und zugesichert, worauf Franz bestanden hatte, nämlich dass sämtliche Mägde und Knechte ihre Arbeitsstellen behalten durften.
Er hatte es in dem großen Haus, das er mit seiner Frau bewohnt hatte, nicht mehr ausgehalten. Jeder einzelne Einrichtungsgegenstand erinnerte ihn an sie, mit jedem Winkel eines jeden Raumes waren Erinnerungen verbunden, und zwar ausschließlich schöne.
Er, der in seinem ganzen Leben niemals eine andere Frau als seine Maria geküsst hatte, der niemals auch nur einen einzigen Gedanken darauf verschwendet hatte, einer anderen Frau die Füße zu streicheln, hätte unmöglich weiter in diesem Haus leben können. Noch dazu, wo ihr Geruch in jedem Zimmer deutlich wahrzunehmen war.
›Die Möbel habe ich den Knechten und den Mägden geschenkt. Sie werden sie in Ehren halten. Ich habe die Monika gefragt, ob sie etwas davon brauchen kann, doch bis auf ein paar Tischtücher, die du genäht hast, hat sie nichts davon brauchen können, und ihre Kinder auch nicht.‹
Er hatte sein kleines Haus mit neuen Möbeln eingerichtet, die günstig aber formschön waren, denn er hatte es nicht übers Herz gebracht, Dinge, die ihn an seine Frau erinnert hätten, mitzunehmen.
Dieses eine Jahr, dieses exakt eine Jahr, nach Marias Tod war das schlimmste im Leben des Franz Rieser gewesen.
Nach ihrer Beerdigung, an welcher eine große Zahl an Menschen teilgenommen hatte, hatte er sich um den Verkauf des Hofes gekümmert. Danach war er in ein tiefes seelisches Loch gefallen.
Er hatte jeden Tag bis zur Mittagszeit im Bett gelegen, jedoch keineswegs schlafend, sondern hellwach und in Gedanken versunken. Allein, er wusste oftmals selbst nicht, woran er dachte. Natürlich dachte er oft an Maria. Diese Gedanken waren die einzigen, die für seine Seele greifbar waren, denn jedes Mal, wenn sie wieder verschwinden wollten, hielt diese sie fest und zerrte sie zurück in den Fokus seiner Wahrnehmung.
Dann stand er auf, versorgte Murli und Minka, die Katzen, und bereitete sich ein kärgliches Mittagsmahl zu, meist bloß Suppe und ein Stück Schwarzbrot. An den Nachmittagen spazierte er oft über seinen ehemaligen Hof und unterhielt sich mit den dort arbeitenden Menschen, bevor er, schon am frühen Abend, ermattet zu Bett ging.
Monika, seine Tochter, war viele Male aus Graz gekommen, um ihrem Vater Gesellschaft zu leisten. Wenn es das Wetter zuließ, saßen sie auf der Holzbank vor seinem Haus und sprachen über Verschiedenes.
»Ich wünschte, ich wäre bereits wieder bei der Mama.« Diesen Satz musste Monika oft hören und auch ertragen.
»Papa«, pflegte sie dann zu sagen, »der Augenblick wird kommen, in dem du wieder bei der Mama bist. So wie er eines Tages auch für mich kommen wird, dich und die Mama wiederzusehen. Und den Michael.« Den letzten Satz sagte sie oft seufzend.
Eines Tages erzählte Franz Rieser seiner Tochter, was er vor vielen Jahrzehnten in Wien über die letzten Monate im Leben des Michael erfahren hatte.
Monika brach daraufhin in Tränen aus, aber es waren keine Tränen der Trauer, sondern solche der Befreiung. »Papa«, schluchzte sie, »ich habe es immer gewusst, dass der Michael sich umgebracht hat.« Das Wort ›gewusst‹ schrie sie beinahe heraus.
»Wie, du hast es gewusst?« fragte Franz erstaunt.
»In seiner Wohngemeinschaft gab es dieses eine Mädchen. Sie hat mich angerufen, nachdem der Michael gesprungen ist. Auf dem Küchentisch hatte er einen Brief für mich hinterlassen. Darin steht, dass er seine Schatten nicht mehr aushält. Und dass ich euch nichts davon erzählen darf, dass es Selbstmord war. Weil er euch nicht noch mehr belasten wollte.«
Franz legte seine Hand auf die seiner Tochter, sah ihr lange in die Augen und flüsterte: »Ich habe es auch gewusst. Ich hatte zwar keinen Beweis, aber tief in mir habe ich es gewusst.« Dann lagen sie sich in den Armen, minutenlang und weinend.
An diesem Frühlingstag im Jahr 2013, unter einem blühenden Apfelbaum sitzend, wusste Franz Rieser, dass er zu seiner Maria gehen wollte und auch würde.
›Meine Maria, du hattest recht‹, dachte er. ›Was zusammengehört, muss zusammenbleiben. Und das gilt auch für die Seelen. Zwei Seelen, die zusammengehören, müssen wieder zusammenkommen. In wenigen Augenblicken sind wir wieder vereint, du, der Michael und ich.‹
Ein letztes Mal blickte Franz Rieser auf die Schrotpatrone, die er in seiner Hand hielt, dann schob er sie in den rechten Lauf und spannte beide Hähne.
Als Monika hörte, was vorgefallen war, dachte sie: ›Leb wohl, Papa. Und sag der Mama bitte, dass sie recht hatte.‹
Michael Timoschek
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