Laufen

Franz liebte es zu laufen. Seit seiner Jugend. Laufen, um den Müll des Alltags abzuschütteln, wieder frisch zu werden, sich zu spüren und lebendig zu bleiben. Besonders nach der Arbeit und dem Stress. Aber nach jenem Tag verging ihm diese Lust. Er wollte nicht mehr. Er wollte sich nicht mehr frisch machen für Dreckskerle, die es nicht verdient hatten. An jenem Tag, an dem er seinen Job verlor, hatte ihm das Leben eine Lektion verpasst. Gehörig! Freitag der 15. Mai, einer der ersten warmen Frühlingstage des Jahres, war auch der erste Tag seit Langem, an dem sein Chef, Heinz, das Gespräch mit ihm suchte.

„Ich muss mit dir sprechen“, hielt er sich kurz. „Um 10 Uhr bei mir im Büro.“
Endlich, dachte er und hatte sich gefreut, nur weil sein Chef mit ihm reden wollte. Es war absurd, aber Heinz hatte das Wochen, ja Monate zuvor vermieden. Jedenfalls saß er Schlag 10 Uhr in seinem Zimmer. Auch Heinz war gerade eingetroffen. Von einem seiner Termine draußen. Da war er meistens. Kein Mensch wusste, was er den lieben langen Tag so tat. Und kaum hatten sie zu reden angefangen, da drängte seine Sekretärin bei der Tür herein und machte ihm klar, dass einige Entscheidungen unbedingt jetzt erledigt werden mussten. Hektisch lief er wieder aus dem Zimmer und ließ Franz an seinem Besprechungstisch allein zurück.
„Du weißt ja …“, lachte Heinz.
„Natürlich“, lächelte Franz verkrampft zurück, um Lockerheit zu zeigen.
Die Sonne knallte in ungewohnter Stärke durch die Scheibe und wärmte ihm den Arm. Frühling …, endlich Frühling, wird ja auch Zeit. Wie beruhigend!

Als Heinz nach wenigen Minuten wieder hereinkam, ging er hinter seinen Schreibtisch und begann gleich im Stehen: „Du weißt ja, in den letzten Wochen hat es immer Schwierigkeiten gegeben, und deswegen will ich da gar nicht lange herumreden. – Ich glaube, es ist besser, wir trennen uns.“
Franz war sprachlos. - Andererseits war es endlich raus.
„Ich weiß, arbeitsmäßig kann ich dir nichts vorwerfen“, sagte er ruhig. „Du hast deine Arbeit immer ordnungsgemäß erledigt …- Vor drei Monaten habe ich dir die Position des Gruppenleiters angeboten. Und du hast sie nicht angenommen. - Wird schon, hast du gesagt. – Ich versteh dich. - Ich hätte das auch nicht angenommen an deiner Stelle. - Aber so kann es auch nicht weitergehen.“
Stimmt, so konnte es nicht weitergehen, das dachte Franz auch. Dennoch war er überrascht.
„Hier – ich habe alles vorbereitet“, setzte Heinz zügig nach und legte ihm ein Schriftstück vor: „Auflösungsvereinbarung“.
„Lies es dir durch und wenn du einverstanden bist, dann unterzeichnest du einfach. – Ich würde es bevorzugen, wenn du keine Schwierigkeiten machst und zustimmst. - Die offizielle Version ist, dass du dich mit unserer neuen zweiten Geschäftsführerin Frau Piller nicht verstanden hast. – Das entspricht doch den Tatsachen. Oder?“

Nachdem Franz dieses läppische Blatt Papier durchgelesen hatte, lehnte er sich gefasst zurück. Und wenn er auch für andere durch die Glasscheiben des Büros betrachtet einen gelassenen Eindruck machte, wurden in diesem Moment seine Gedanken wie Teilchen beschleunigt, die verzweifelt in ihrer Raserei zu ergründen versuchten, wie es bloß so weit kommen hatte können … Sicher, er musste dem Schreiben nicht zustimmen! Könnte auch kämpfen. Aber was bedeutete das? In den nächsten Tagen, Wochen, vielleicht Monaten eine giftige Atmosphäre ertragen? In der man alles gegen ihn auslegte, bis er schließlich irgendwann selbst das Handtuch warf? - Auch wenn er sich Schützenhilfe vom Betriebsrat holen könnte. Letztlich war es doch nur eine Frage der Zeit. - Was sonst?

Dieser Mistkerl von Heinz, der ihn vor einem Jahr erst geholt hatte, wollte ihn jetzt einfach so im letzten Moment an einem Freitag zu Mittag entsorgen. Auf die Schnelle. Als er ihn ansprach, war er in leitender Position eines Mitbewerbers tätig: hochangesehen und erfolgreich. Franz wollte ihm Dienstleistungen anbieten. Heinz aber trieb im Kaffeehaus das Gespräch in eine andere Richtung, nachdem er zuvor sein Vorhaben einfach abgeschlagen hatte.
„Daraus wird nichts“, unterbrach ihn Heinz bald.
„Ich werde einen Mitbewerber wie dich mit meinen Aufträgen nicht großziehen. Das wirst du doch verstehen. – Aber…“, setzte er fort, „ … so wie ich das sehe, kannst du nicht zufrieden sein mit deinem Job“, begann er und zählte drei Gründe auf, warum er seiner Meinung nach nicht in der damaligen Funktion glücklich sein konnte.
„ … und habe ich recht?“, endete Heinz und schaute ihn fragend an.
Das traf. Und in Franz drin gab es tatsächlich so etwas wie Resonanz. Zweifellos war es seiner langjährigen Branchenkenntnis zuzuschreiben. Sein Mund verneinte jedoch, wollte Heinz in keinem Fall recht geben. Wenn er zuerst nicht wusste, worauf er hinauswollte, stellte sich jetzt doch heraus, was er nicht glauben wollte: „Wir suchen einen so wie dich. Als Abteilungsleiter. – Überleg dir, ob das was für dich ist.“

In den nächsten Tagen, in ruhigen Momenten dachte er noch einmal seine Situation durch: Er war in ein Unternehmen gekommen und hatte in einem turbulenten Jahr das Unternehmen aus der Kostenfalle herausgeführt. Hatte dabei Personal entlassen müssen, was nicht lustig gewesen war, aber die notwendige Antwort war auf den Reformstau, den sein Vorgänger hinterlassen hatte. Nur die Abhängigkeit vom größten Kunden, der um seine Stellung wusste und diese maßlos ausnutzte, blieb erdrückend. Von diesem Druck wäre er befreit, wenn er wechselte. Das wäre gewiss. Aber der nächste Druck würde folgen. Wenigstens käme er in ein großes, bekanntes, strukturiertes Unternehmen mit Background und Wachstumspotenzial. Was aber den Ausschlag gab, war, dass Franz sich geschmeichelt fühlte, gefragt worden zu sein. Obwohl ihn seine Branchenkollegen gewarnt hatten: dass Heinz ein Wendehals sei. Ganz nach dem Winde rede und handle. Aber er stürzte sich hinein in das Neue. Zuerst auf jene Dinge, die vom Vorgänger liegengeblieben waren, und er versuchte sie möglichst rasch einer Lösung zuzuführen. Ganz wie man es von einem Manager erwartete. Vor allem für Kurt, den Mann aus dem Controlling, war er der ersehnte Neuzugang. Kurt, der interimistisch die Dinge erledigte, konnte es schon nicht mehr erwarten, einen wie Franz in die ersten Schritte des Unternehmens und der Systeme einzuführen. Und er konnte es auch nicht mehr erwarten, ihm all jene Themen umzuhängen, die ihm allzu lange schon lästig waren. Dafür war er für alle Fragen und Themen, die aus dem Tagesgeschäft entstanden und über die Franz noch nicht Bescheid wissen konnte, sein Ansprechpartner.

Das Tagesgeschäft lief rund, bis völlig unerwartet viereinhalb Monate später der zweite Geschäftsführer abhanden kam. In der einen oder anderen Bemerkung hatte es sich zwar schon einige Zeit davor abgezeichnet, dass neben Heinz, dem ersten Geschäftsführer, sich ein zweiter als Kontrahent gegen Heinz von Tag zu Tag mehr in Stellung brachte. Franz hielt sich geflissentlich aus diesem Konflikt heraus und war schließlich doch überrascht, wie es ausgehen sollte.

Der zweite Geschäftsführer, ein Mann mit traurigem Blick und steifem Genick, gab aufgrund seines höheren Alters mit vielleicht 55 Jahren und einem Mehr an Erfahrung stets vor, die Nummer eins in der Geschäftsführung zu sein. Er wäre auch vom Vorstand geholt worden, um Ruhe in das Unternehmen zu bringen und die ständige Abwesenheit des ersten Geschäftsführers auszugleichen. Früher war er beim Heer bei den Fallschirmspringern gewesen und einer der Ersten, der mit den damals schweren Kameras am Helm die Sprünge filmte. Bei den Landungen hatte er sich – nach seinen Erzählungen – regelmäßig die Halswirbel gestaucht. Dieser Mann beschuldigte also Heinz, für seine Mitarbeiter nicht ausreichend da zu sein und lieber bei Kunden extern oder bei den Konzernbossen intern ständig dem Lobbying nachzugehen.

Heinz, zehn Jahre jünger als der zweite Geschäftsführer, war ein Mann mit geschwellter Brust. Wenn er dastand, streckte er seine Beine durch, so dass die ganze Energie nach oben stieg und nicht wieder nach unten fließen konnte. Diese Eigenschaft sollte ihm zu gegebener Zeit entsprechend helfen, sich aufzublasen und seinem Gegner Angst einzujagen. Wie jetzt - da er Kampfansagen nicht duldete. Heinz war äußerst zuversichtlich, die wahrgenommenen Schwächen des anderen eines Tages ausnutzen zu können, um ihn schließlich mit seinen guten Kontakten aus dem Feld zu schlagen.

Der Geschäftsführer mit dem traurigen Blick kam eines Morgens um 7 Uhr 30 Uhr mit seinem neuen Audi A6 in eine Besprechung und musste keine drei Stunden später das Unternehmen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln verlassen. Sein Vorgesetzter und zugleich Eigentümervertreter jenes Unternehmens, der ihn erst vor Kurzem eingestellt hatte, hatte ihn völlig überraschend dienstfrei gestellt und aufgefordert, unverzüglich alle Arbeitsmittel zurückzugeben. Das Gespräch, in dem ihm das mitgeteilt wurde, hatte gerade mal dreißig Minuten gedauert. Natürlich hätte es niemand für möglich gehalten, dass ihn dieses Schicksal in seinem Alter je ereilen würde. Danach rief er seine Assistentin an sowie seine ihm unterstellten Mitarbeiter und machte sich unverzüglich auf den Weg, sein Büro zu räumen.

In den ersten Gesprächen hatte er noch kampfeslustig erklärt, dass er die Nummer eins der Geschäftsführung wäre. Und jetzt musste er einsehen, doch am anderen gestrauchelt zu sein. Obwohl man ihm anfangs eine Aufgabe anvertraut hatte: nämlich seinem Geschäftsführer-Kollegen auf die Finger zu schauen. Offenbar hatte er seine Job-Description falsch verstanden!

Es dauerte keinen Monat, da wurde bekannt, dass mit Frau Piller, seiner Nachfolgerin aus dem Konzern mit Schwerpunkt auf das Kaufmännische, frischer Wind in das Unternehmen kommen würde. Im Eiltempo setzte sie eine strenge Kostenkontrolle durch, eine striktere Außenständeverfolgung und vieles mehr. Von Statur war sie eine große, unübersehbare Frau mit vehementem Ausdruck, die es liebte, das letzte Wort zu haben. Einige ihrer Maßnahmen bedeuteten auch eine Delegierung von kaufmännischen Aufgaben in die nächstuntere Hierarchie-Ebene, was bei den operativen Mitarbeitern Jammern und Klagen hervorrief: Wären sie doch für die Durchführung zuständig und nicht für so viel kaufmännischen Kram.

Während Heinz seine Anfangsschwierigkeiten mit Frau Piller eingestehen musste, ließ er sich dadurch nicht verunsichern, hatte er doch genug Raum, ihr auszuweichen, indem er es weiterhin vorzog, „draußen am Markt“ seiner Arbeit nachzugehen. Währenddessen durchforstete Frau Piller die Zahlen des Unternehmens und verschaffte sich durch ihre fordernde Art zur Umsetzung der Maßnahmen Schritt für Schritt mehr Respekt. Nur dann und wann streifte sie ihre Stöckelschuhe unter ihrem Schreibtisch ab, stürmte von ihrem Zimmer zur Toilette, um sich gleich darauf wie eine Spinne wieder in ihre Befehlszentrale zu begeben. Bald schon schüttelten jene Mitarbeiter, die sie beobachtet hatten, ihre Köpfe. Im Konzern war man sich bewusst, dass ihre kaufmännisch-harte Art gerade jetzt nicht so falsch sein konnte. Und gerade in der Zeit der Wirtschaftskrise waren genauere Kostenkontrolle und Sparstift keine Fehler. Nicht nur Investitionen wurden gestoppt, sondern auch Neuaufnahmen, wenn sie nicht unbedingt notwendig oder vorher budgetiert waren. Franz jedenfalls hatte ihr und ihren Maßnahmen ohne Wenn und Aber Unterstützung und Schützenhilfe zu leisten.

Mit ihrem Erscheinen hatte sich auch die Zuständigkeit und Zuordnung seiner Funktion geändert: Obwohl ab sofort Heinz für Franz zuständig war und dieser sich bei offenen Punkten an ihn zu wenden hatte, musste er sich in der Realität mit Frau Piller besprechen, weil Heinz praktisch nie da war. Frau Piller tat aber nur ungern die Arbeit anderer. Nicht nur deswegen war ihr Ton stets ein ungehaltener und schroffer.

Während in der Anfangsphase sein Kontakt zu Heinz und Kurt eng war, und er mit ihnen immer wieder zu Mittag aß, wurde dieser mit der Zeit immer weniger, bis Franz schließlich ganz auf sich allein gestellt war. Damit nahmen auch die Möglichkeiten sich abzustimmen rapide ab. Schmerzhaft in einer Zeit, wo die Probleme bei Kunden extern und intern aufgrund der Sparmaßnahmen an Zahl und Auswirkung zunahmen, und er nicht befugt war, Entscheidungen allein zu treffen.

Zwischen Frau Piller und Heinz musste im Hintergrund etwas besprochen worden sein; denn Problemfälle, die aus dem Tagesgeschäft bei ihm landeten, wurden von Heinz plötzlich gegen seine sonstige Gewohnheit kontrolliert und nachgefragt. Meldungen über Teilfortschritte interessierten nicht. Man wollte Vollzugsmeldungen und pflegte dabei Druck zu machen. Franz spürte, wie sich die Atmosphäre in eine angespannte, feindselige wandelte, wie mit einem Mal die schützende Hand von Heinz über ihm weg war. Auch bei den wöchentlichen Fußballtrainings außerhalb der Arbeitszeit drehte er sich weg, mied jeden Kontakt. Eines Tages, bei einem der wöchentlichen Abteilungsmeetings mit Heinz und den Verantwortlichen aus seinem Bereich, fiel ihm auf, wie sehr diese Meetings von Heinz und seinem Lachen dominiert waren. Und wie alle dem Lachen des Königs huldigten.

Das Lachen von Heinz war sein Markenzeichen. Und so bald er im Büro war, zeigte sein Lachen, dass er anwesend war. Während er durch die Büroräume zog, verstreute er weithin sein Lachen. Wie ein Hund sein Herrchen an den Schritten erkennen konnte, so konnte man ihn erkennen: am lauten, ungebremsten, Raum füllenden Lachen. Mit seinem Lachen markierte er sein Revier. Kunstvoll verstand er es, sein Lachen mit immer neuen Witzen zu füttern, für die er sich seine Zuhörer suchte. Seine Auserwählten. Zu ihnen gehörte Franz nicht mehr. Seine geschäftlichen Punkte, wie immer sie ihm auch unter den Nägeln brannten, waren für Heinz nicht relevant. Er ignorierte sie, wie er ihn ignorierte. Gelang es Franz einmal, Heinz ihre Dringlichkeit klar zu machen, tat Heinz so, als ob er mit lästigen Dingen gestört würde, die jeder andere besser entscheiden könnte.

Von Mal zu Mal kam Franz dieses Lachen herrischer, diktatorischer und ausschließender vor. Und Franz begann, diesem Lachen zu misstrauen, weil es ein so beklemmendes und kein erlösendes war. Nein, eines, das den Dingen etwas abringen wollte. Mit seltsamer Absicht. Als angelernte Strategie, die er sich irgendwann angeeignet hatte. Weil er irgendwo gelernt haben musste: Lachen kommt gut. Gut einsetzbar als Auflockerung für überforderte Mitarbeiter, als willkommenes Geschenk an Aufmerksamkeit und natürlich als Eisbrecher. In seinem Verhalten war Heinz derart firm, dass man den Eindruck bekommen konnte, dass nichts sein Lachen verstimmen konnte, es vielmehr von ungeheurer Selbstsicherheit und Selbstvertrauen zeugte, dessen man nur allzu gern ein Teil sein, Auserwählter sein wollte.

Mit seinem Lachen wurde scheinbar die Subordination außer Kraft gesetzt. Das äußerte sich in einem ernsten Unernst oder unernsten Ernst, aus dem sich der Geist in jede Richtung gehen ließ, bis alles denkbar wurde, aber nichts mehr galt. Den harten Wahrheiten nahm er damit den Wind aus den Segeln. Allenfalls Andeutungen, Hinführungen, Umschreibungen, um weder Aufruhr noch Empörung zu erzeugen. Franz kam es so vor, als wollte Heinz mit seinem Lachen zeigen, dass nur Schönwetter geduldet und Unangenehmes nicht erwünscht war. Der Oberfläche war nichts anzumerken, sie blieb im Komfortbereich. Ein bisschen Kacke am Dampfen – schnell ein bisschen Lachen. Passt! Nur keine anderen Emotionalitäten, nur keine Empörung, nur kein Ärger, sondern Lachen. Lachen. Lachen.

Als dann Frau Piller bei einer Abteilungsleitersitzung in einem Detail-Punkt nachhakte, deren Zusammenhänge sie auch nach näheren Erklärungsversuchen nicht verstehen wollte, spürte Franz, dass ein Moment gekommen war, da sie ihn abgeschrieben hatte. Ab jetzt wäre er ein totes Pferd, auf das niemand mehr setzte. Und Heinz, der neben ihr saß und keine Rettung, keine Verteidigung, keine Erklärung gab, dachte vermutlich ebenso. Franz war seltsam zumute: Seine Anwesenheit in diesem Hause hatte ein spürbares Ablaufdatum, das nur noch nicht ausgesprochen war.

Und Franz hatte keine Idee, was er gegen diese Feindseligkeit tun konnte. Er fühlte sich in einer Sackgasse. Verzweifelte Denkschleifen nach Auswegen vernebelten ihn und dominierten nicht nur tagsüber seine Welt. Ein seltsames Gefühl der Schwere überkam ihn mit seinen langsamen Sinus-Schwingungen, das ihn ans Bett fesseln wollte. Und da er sich selbst nicht mehr helfen konnte, beschloss er, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Aber sobald er vor dem Coach saß, wusste er nicht mehr, wie er anfangen, davon erzählen sollte. Im Grunde schien ihm alles so lächerlich. Wären denn Worte kraft- und machtvoll genug, noch irgendetwas an den Dingen zu ändern? Oder war nicht schon längst alles entschieden?
Der Coach gab ihm den Rat, in sich einen lichten und fröhlichen Ort zu finden und sich mehr darauf zu fokussieren, als sich von der Realität erdrücken zu lassen. Er riet ihm auch, Dinge zu unternehmen, die ihm Spaß machten und sich nicht von seinen Pflichten auffressen zu lassen.

Aber Schmerz und Ärger waren real und pulsierten in ihm, blähten sich auf und wurden größer und größer. Wollten sie ihn beherrschen, ja verbrennen? Er fühlte sich ihnen ausgeliefert. Es zog ihn in einen Strudel hinein, riss ihn vom Sockel herab ins hilfloseste Dasein, dem er sich unterwerfen musste, so wie man sich am Ende von unmöglich gewordenen Protesten sogar der Unwahrheit beugt. Und hier war die Wahrheit keine andere als das Verschmelzen mit dem Furchtbaren. Kein Ausweichen war möglich. Kein Draußenbleiben, kein Darüber und kein Daneben.

Je mehr sich Franz bemühte, einen guten Job zu machen, desto mieser fühlte er sich behandelt und kälter missachtet. Der gute Draht zu seinem unmittelbaren Umfeld war so gut wie abgerissen. Selbst inoffizielle, kollegiale Gespräche mit seinen Vorgesetzten fanden nicht mehr statt. Und dieses Schweigen wurde von beiden Seiten nicht behoben. Franz konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, es mit gemeinen und durchtriebenen Menschen zu tun zu haben, die etwas gegen ihn im Schilde führten. Ohne Aussicht auf Veränderung, die von keiner Seite in Angriff genommen wurde. Und Franz fühlte sich außerstande, etwas daran zu ändern. Über diesen Schatten konnte er nicht springen. Wenn es seinen Vorgesetzten ebenso erging, dann standen beide Seiten jetzt vor düsteren Gefühlswolken, die sich unheilvoll wie ein Gewitter zusammenbrauten.

Erst war es so gewesen, dass er jegliche Bemühungen auf Veränderung nicht auf sich nehmen wollte, weil er keine Notwendigkeit sah. Und als diese offenkundig wurde, konnte er nicht mehr, ließ es laufen. Aber zu welchem Zeitpunkt war denn die Entscheidung, ihn loszuwerden, getroffen worden? Oder war etwa gar keine Strategie dahinter? Egal. All diese Fragen konnte er ohnehin nicht mehr klären.

Oder aber war es doch anders: Gerade weil er seine Arbeitswelt für feindselig hielt, dass sie sich diesem Bild anpasste wie eine Self-fulfilling Prophecy: Das Äußere spiegelte unbewusst seine Überzeugung wider. Fakt war, dass sich ihm in diesem Unternehmen die Brust zusammenschnürte, sich ein nagendes Gefühl des Unbehagens in seinen Magen fraß. Und all die Phasen des Reflektierens, Analysierens, bewussten Entspannens, ja sogar Meditierens hatten ihm nicht geholfen, obwohl er absolut überzeugt davon war, dass ihm Meditation helfen würde, sein Herz zu beruhigen. Jeden Morgen drückte er sich in irgendeine Seitengasse in der Nähe seines Büros an den Straßenrand, um noch ein paar Runden zu meditieren, bevor er sich in seine Hölle wagte. Aber er schaffte es nicht, sich von seinem Ärger und seiner Wut zu lösen. Er blieb ihr Gefangener.

Als schließlich ein Gruppenleiter mit dem Entschluss an ihn herantrat, eine Hierarchie-Stufe zurückzutreten, weil er Probleme mit dem Herzen hatte und seine Digitalis-Dosis erhöhen musste, bekam Franz von Heinz auch noch den Vorwurf, seine Mitarbeiter in die Überforderung zu treiben. Schließlich legte Heinz ihm nahe, von seiner Position als Abteilungsleiter zurückzutreten und jene des scheidenden Gruppenleiters zu übernehmen.

Irgendwo in seinem Inneren hatte es Klick gemacht. Als ob sich sein Leben an einer Sollbruchstelle entzweit hätte. Und das fühlte sich nicht gut an. Gar nicht gut. Als ob sein Wille, seine Arbeit sauber und fair abzuliefern, zerbräche. Arbeit, auf die nicht nur er stolz sein konnte. Arbeit, nach der man sich ohne schlechtes Gewissen im Spiegel ansehen konnte. Arbeit, die keine verbrannte Erde hinterließ, die niemanden ausbeutete. Arbeit, die allen Gewinn und Nutzen brachte. Das alles zählte nichts mehr. Nichts. Hier zählte etwas anderes. Alles nur keine faire Arbeit. Nur noch, wie man seine eigene Haut rettete. Egal wie. Egal auf wessen Kosten.

Das Gute an dieser Situation war, dass sie ihm die Möglichkeit bot, einmal drei Wochen Urlaub am Stück mit seiner Frau zu nehmen. Was er sich sonst nie erlaubt hätte. Er schmiss die hinteren Sitze aus seinem Van, ließ sich eine passende Schaumstoffmatratze zuschneiden, und fertig war das Schneckenhaus für seine Frau und ihn, mit dem sie ab nach Südfrankreich düsten.
Auf dieser Reise durch Südfrankreich wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung davon hatte, wie hart es für ihn sein würde zu genießen. Dass er etwas so Einfaches wie „Genießen“ vergessen hatte. Nicht einmal an einem der schönsten Strände konnte er es sich gemütlich machen. Bald hatte er entweder von der Sonne genug oder konnte nicht still liegen oder sitzen. Und in den Städten, die sie besuchten, war er in eine Art Freizeitstress verfallen, der ihn ständig weiterdrängte, diese und jene Sehenswürdigkeiten zu besuchen und abzuhaken. Aber darum ging es hier nicht. Franz tat sich schwer zu verstehen, dass sein Körper keine Maschine war.

Er wollte sich nicht eingestehen, dass die ungemütlichen Steine und Piniennadeln ihm schwerstens auf die Nerven gingen und er Hilfe in Anspruch nehmen konnte. Er musste nicht immer am Boden hocken. Er könnte sich auch mit einem Gegenstand wie einem Liegestuhl behelfen, der ihm das Leben erleichtern konnte. Der „Chaise de plage“ war eine durchaus sinnvolle Anschaffung seiner Frau und wurde zum Sinnbild ihrer Reise, die ihn auf eine andere Ebene erhob. Nämlich es sich wert zu sein, Dinge, die es gab, voll zu nutzen, um das Leben besser genießen zu können.

Wieder zu Hause begab er sich auf Arbeitssuche, und es ergriff ihn der Blues. Quälende Fragen holten ihn ein: Was nun? Wie wird das ohne Job? Wann werde ich wieder einen finden? In Zeiten der Finanzkrise! Und wenn - welchen? Falls aber nicht? Wie werde ich meine Familie erhalten können? Wäre es vielleicht das Gesündeste gewesen, sich mit flegelhaftem Unmut zu erheben und seiner Raserei freien Lauf zu lassen? - Stattdessen hielt er sich vielmehr an eine schicksalsergebene Erdulder-Haltung, die zu nichts anderem gut war, als seine Betroffenheit zu verbergen.
„Ich fühle mich nicht gut“, hatte er irgendwann seiner Frau gestanden.
„Wie wär’s, wenn du wieder mal laufen gehst? Dich einfach auslüftest?“
„Keine Lust“, sagte er abwesend.
„Davon wird es auch nicht besser.“
Nach Monaten rief ihn ein Freund an: „Und wie sieht’s aus? Gehst du wieder einmal mit mir laufen?“
„Nein. Nie wieder!“
Verwundert über diese rigorose Aussage fragte der Freund nach. Und Franz erzählte ihm von seiner Situation.
„Warum passiert das alles ausgerechnet mir, kannst du mir das erklären?“
Natürlich konnte sein Freund das nicht erklären. Franz wollte sich einfach nur beklagen - und ertappte sich dabei, immer wieder zu jammern.
„Ich finde, dass die Welt dasteht wie ein Haus, in dem sich einerseits Menschen um einen Futtertrog zusammendrängen, während andere mit hoffnungsvollem Blick draußen stehen und chancenlos in das Haus wollen. Als teilte sich die Welt in jene, die drinnen und jene, die draußen sind. Und ich gehöre nicht mehr zu jenen, die drinnen sind. – Ich bin raus“, sagte Franz resigniert.
Der Freund, erschlagen von seinem Gerede, fragte nur:
„Wann warst du das letzte Mal laufen?“
„Weiß nicht.“
„Ich weiß nicht Franz, ob das so klug ist, was du da machst. - Mir kommt das eher wie ein Knieschuss vor. Du pinkelst dir doch nur selber ans Bein. Merkst du das nicht?“
Das hatte gesessen. Das war in Franz eingefahren. Aber wozu hatte man denn Freunde?!

Seine Arbeitssuche gestaltete sich folgendermaßen: Am Samstag sammelte er die Karrierebeilagen aus ein paar Zeitungen und dem Internet. Und am Mittwoch suchte er sich dann Stellen heraus, die für ihn in Frage kamen. An diesem Tag nahm er sich vor, seine Bewerbungen abzuschicken. Diesen Ablauf hielt er beinahe generalstabsmäßig ein. Struktur, sagte er sich, war jetzt das Wichtigste in jenem seltsamen Vakuum, in dem er sich befand. Außerdem stand einmal im Monat oder alle sechs Woche der Besuch bei seinem Betreuer im Arbeitsmarktservice auf dem Plan. Einem Mann, etwas jünger als er selbst, der von den Schicksalen, die ihm gegenübersaßen, nichts wissen wollte und nicht gerade vor Positivität sprühte. Die Grundhaltung seiner Aussagen war angstbesetzt und besorgniserregend: „Jeden Tag, den Sie länger in der Arbeitslosigkeit verbringen, verlieren Sie an Marktwert. Sind Sie sich dessen bewusst?! – Sie sind nicht mehr in der Position, Forderungen zu stellen. – Sie müssen nehmen, was Sie kriegen können.“

Papperlapapp. Aussagen dieser Art, wie auch die ständig wachsende Anzahl an Absagen, die er zurückbekam, kotzten Franz an. Wie auch die vereinzelten Einladungen zu Gesprächen, die dann nach ein bis zwei Runden ebenso in Absagen mündeten. Wie war es denn möglich, dass man auf einmal auf einen wie ihn, der vierzig Mitarbeiter geführt und zehn Millionen Euro verwaltet hatte, so leichtfertig verzichten konnte? Was machte er falsch in seinen Bewerbungen? Was erwarteten die Unternehmen denn? Und was konnten Bewerber, die ihm vorgezogen wurden, denn so viel besser als er? Gedanken des Vergleichens begannen an ihm zu nagen. Wozu war er denn noch nütze im Leben? – Aber auch zukunftsgerichtete Gedanken tauchten in ihm auf: Was machte ihm denn Spaß? Was war seine Mission im Leben? Was konnte er besonders gut? Was war seine Leidenschaft? Fragen dieser Art hatte er sich lange nicht mehr gestellt.

Dann musste er an seine Frau denken, die ihm einmal gesagt hatte: „Ist das Leben nicht ein einziger Wechsel von Aufstieg und Fall? - Du steigst auf und dann fällst du. Na und? Und wenn du gefallen bist, stehst du einfach wieder auf. Wie ein Kind, das laufen lernt. Auch wenn es mühsam ist. Was ist schon dabei?“ Und als seine Frau einmal nicht zu Hause war, schlüpfte er in seine alten Joggingschuhe und drehte seit Langem wieder einmal eine Runde. Seine Runde.

Fritz Schuler

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16139

 

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