Lange hatte ich versucht, gegen diesen Drang anzukämpfen, die längste Zeit, zwanzig Jahre um präzise zu sein, sogar erfolgreich, doch an diesem sechsundzwanzigsten Mai im Jahr 2011 habe ich versagt. Ja, ich habe schlicht versagt, meine Skills haben mich im Stich gelassen. Diese Handlung, die ich letzten Endes, also am heutigen Tag gesetzt habe, hatte ich bereits viele Male erwogen, doch hatte ich es stets fertiggebracht, sie nicht zu setzen, auch wenn dieses Nichtsetzen mir sehr oft kaum auszuhaltende Schmerzen bereitet hatte, sozusagen als Resultat der Nichtausführung.
Jahrelang habe ich zu mir gesagt, also in Gesprächen mit mir selbst: „Michael, das darfst du nicht tun! Eine derartige Handlung steht nicht dafür, sie ist einfach keine Lösung. Denke an deine Mutter! Du darfst ihr so etwas einfach nicht antun! Das hat sie nicht verdient. Michael, bitte denke daran, was deine Mutter im Supermarkt hören müsste. ‘Frau Timoschek, ich habe gehört, was Ihr Sohn getan hat. Bitte erlauben Sie mir, dass ich Ihnen mein Mitgefühl ausspreche. Nach allem, was ich über Michael gehört habe, war seine Tat vorprogrammiert, doch dass er sie zu Lebzeiten seiner Mutter setzen würde, also das hätte ich mir nicht träumen lassen.’ Siehst du, Michael”, sagte ich zu mir selbst, „was du deiner Mutter antun würdest mit einer solchen Tat? Was könnte die arme Frau denn dann nur antworten? ‘Vielen Dank, Frau Pimpelhuber, für Ihr Mitgefühl. Ich bin entsetzt über das, was mein Sohn getan hat, doch es ist nun einmal geschehen. Bitte haben Sie Verständnis, Frau Pimpelhuber, dass ich im Moment nicht über Michaels Tat sprechen möchte!’ Nein, Michael, so was darfst du nicht machen!”
Doch ich habe es gemacht. Heute. Und es war, das gebe ich freimütig zu, die schlimmste Untat meines Lebens. Ich konnte einfach nicht mehr. Diese Tat war, das darf ich ehrlich zugeben, der Schlusspunkt eines langen Leidensweges. Ich habe heute ja versucht, ruhig zu bleiben respektive mich selbst zu beruhigen, denn ich sah diese Tat heraufdräuen. Wie ein Wolfsrudel, das sich langsam nähert, sah ich sie kommen. Was soll ich sagen? Nun ist es passiert.
Es handelte sich um Monika, das Mädchen, das mir gegenüber gesessen hatte. Die Distanz zwischen ihr und mir war gering, und es hätte ein schöner und ruhiger Nachmittag werden sollen. Die Sonne schien und es war warm. Monika ignorierte mich. Sie hatte kein Interesse an Augenkontakt, obwohl ich sie mit freundlichen, interessierten Blicken musterte. Dass das Mädchen Monika war, erfuhr ich in dem Moment. in dem sie einen Anruf entgegennahm und sich mit ihrem Vornamen meldete. „Hallo, Monika am Apparat”, sagte sie halblaut. Das Telefonat dauerte nicht lange, es ging um ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Aus dieser Tatsache schloss ich, dass eben zwei Studentinnen ein Gespräch geführt hatten. Monika führte den anscheinend mit der Lautstärke des Gehörten überforderten In-Ear-Kopfhörer wieder in ihr rechtes Ohr ein. Aus diesem hatte sie ihn zuvor gezogen, um die Person, die sie angerufen hatte, besser verstehen zu können, was mir logisch schien. Monika schwieg mich weiter an, doch ich ließ mich davon nicht beeindrucken, und das trotz des Drucks, der sich in mir aufzubauen begann. Tapfer versuchte ich, Blickkontakt herzustellen, doch sie brachte es nicht fertig, mir in die Augen zu sehen.
Monika schwieg, doch war der Raum von Lärm erfüllt. Nicht bloß vom üblichen Lärm in solchen Räumen, an den ich gewöhnt bin und den ich notgedrungen akzeptiere. Es handelte sich um eine Art von Lärm, die ich seit langer Zeit als hochgrässlich, und somit als überaus störend empfunden hatte. Und ich hatte keine Chance zu entkommen, denn in meinem Inneren hatte sich ein Schalter umgelegt, auf dessen Funktionsbeschreibungsschildchen wahrscheinlich stand: ‘Michael - gefangen. Flucht unmöglich!’ Der Druck erhöhte sich, wie das bei sogenannten Druckkochtöpfen der Fall ist.
Meine Blicke wurden eindringlicher, doch Monika schien sie nicht zu bemerken. ‘Sie will meine Blicke nicht bemerken’, dachte ich. ‘Ja, das ist es. Sie ignoriert mich einfach. Und dazu kommt noch dieser unerträgliche Lärm. Immer schlimmer wird er, mit jeder Sekunde unaushaltbarer. Ich kann nicht entkommen, ich sitze hier wie die Maus vor der Schlange und kann nicht weg! Ich befürchte, dass heute der Tag ist, an welchem ich diese Handlung setzen werde, ja muss.’ „Michael,” sagte ich zu mir, „bitte führe diese Tat nicht aus! Das darfst du deiner Mutter einfach nicht antun! Denke auch an deine Freunde! Auch die wären fürchterlich enttäuscht von dir. Sie würden diese Tat niemals verstehen können!” Doch es half nichts.
Das mir gegenüber sitzende Mädchen ignorierte mich weiterhin, und die Kraft, die junge Frau anzusprechen, hatte ich einfach nicht mehr, zu sehr hatte der Lärm mich bereits gequält und ausgelaugt. Ich warf Monika hilfesuchende Blicke zu, doch sie sah teilnahmslos aus dem Fenster. In einem Tunnel spiegelten sich unsere Köpfe in der Fensterscheibe, in exakt dem Augenblick, in dem ich meine Augen von ihrem Antlitz abwandte und, wie auch Monika, aus dem Fenster sah. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich mir sicher, dass wir einander in die Augen gesehen hatten, wenigstens über die spiegelnde Scheibe, doch das Mädchen wandte seinen Blick schnell ab und sah in das schwarze Nichts.
Ich war verzweifelt. Der Lärm, die Ignoranz und der Druck begannen, mir zu viel zu werden. „Nein, Michael, tu das nicht!”, sagte ich zu mir. Doch es war zu spät. Das Schicksal wollte seinen Lauf nehmen, und so nahm es ihn.
Ich zog mein Schweizer Offiziersmesser aus der Hosentasche, klappte dessen große Klinge auf und hielt sie vor Monikas Augen.
Ich trage stets ein Schweizermesser bei mir, man kann ja nie wissen. Oft schon hat mir ein solches gute Dienste erwiesen, beispielsweise wenn ich einen Apfel von seiner mit Wachs überzogenen Schale zu befreien hatte. Oder wenn ich in der Verlegenheit war, ein Steak, das die Tenazität einer ledernen Schuhsohle aufwies, zu zerteilen, da sich das mir für diese Handlung vom Restaurant zur Verfügung gestellte Schneidewerkzeug als ein in die Jahre gekommenes, und somit entsprechend unscharfes, gewöhnliches Fleischmesser entpuppt hatte. Des Weiteren hatte ich Erfahrung gemacht, dass ein Mann, der stets ein Offiziersmesser bei sich trägt, von der Damenwelt als ‘patenter Kerl’ angesehen wird.
Monika blickte mich aus vor Schreck geweiteten Augen an. Sie öffnete ihren Mund, ganz so, als ob sie schreien wollte, doch brachte sie bloß keuchende Laute heraus. Dann öffnete und schloss sich ihr Mund abwechselnd, und sie zog einen der In-Ear-Kopfhörer aus dem Ohr.
So etwas hatte ich in meiner Jugend gesehen. Ich war mit einem Freund angeln gegangen und er hatte einen ziemlich großen Karpfen am Haken. Nach einigen Minuten harten Kampfes hatten wir es fertiggebracht, den Fisch an Land zu ziehen. Er hatte sich daraufhin auf die selbe Art und Weise geriert wie Monika, was die Mundbewegungen anlangte.
„Es hat keinen Sinn, zu schreien, Monika”, sagte ich mit ruhiger Stimme. „Woher wissen Sie”, setzte sie an, doch ich fiel ihr, wieder mit ruhiger Stimme, ins Wort: „Ich weiß, wie du heißt.” „Was”, stammelte sie, „haben Sie mit mir vor?” „Jetzt, in wenigen Augenblicken, ist es so weit, Monika. Zu lange hat sich der Druck in mir bereits aufgestaut.” Sie sah mich erschrocken an. „Keine Sorge, Monika. Ich verspreche dir, dass du nichts spüren wirst. Ein Schnitt, und schon ist alles vorbei.”
Das Versprechen, dass ich nichts spüren würde, also keine Schmerzen würde erdulden müssen, hatte man mir im Laufe meines Lebens viele Male gegeben. Zahnärzte, praktische Ärzte und sogar ein Militärarzt hatten es mir gegeben. Nun, oftmals war das Aussprechen dieses Versprechens bloß der in Worte gefasste Wunsch des jeweiligen Arztes, nämlich eine schmerzlose Behandlung am Patienten zu vollziehen, denn realiter musste ich bei verschiedenen Gelegenheiten sehr leiden.
Da Monika zu weinen begonnen hatte, wollte ich meine Tat zeitnah hinter mich bringen.
Ich ertrage weinende Menschen nämlich nur sehr schwer, besonders weinende Frauen rühren mich. Ich neige dann dazu, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Ich durfte einige Male die, dies muss ich offen sagen, überaus positive Erfahrung machen, dass solch tröstende Handlungen durchaus vom Abend bis zum Morgen andauern können, jedoch möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass geschlechtliche Handlungen keineswegs meine vorrangigen Beweggründe für tröstendes Verhalten sind. Doch zurück zu Monika, die auf die Durchführung meiner Tat wartet.
Ich holte, das Messer in meiner Hand, aus, Monika erstarrte, und setzte, so schnell es mir möglich war, einen Schnitt, ich darf erwähnen, dass die Klinge meines Offiziersmessers stets die Schärfe einer Skalpellklinge aufweist, und alles war vorbei.
Mit stumpfen Klingen habe ich oft schlechte Erfahrungen machen müssen. Möchte man zum Beispiel eine schmackhafte Hühnersuppe zubereiten und verwendet man für das Zerlegen des Vogels ein Messer mit stumpfer Klinge, so kommt man schnell dahinter, aus welchem Grund diese Art Vogel gerne als ‘Gummiadler’ bezeichnet wird.
Monikas Erstarrung löste sich, verdutzt zog sie den zweiten Kopfhörer aus dem Ohr und sah an sich herab. Sie blutete nicht. Sie befühlte das Kabel, welches die Kopfhörer mit ihrem MP3-Player verband und bemerkte, dass dieses durchtrennt worden war. Sie sah mich fassungslos an und sagte „Was.” Weiter kam sie nicht. Ich steckte mein Messer weg, sprang auf, trommelte mir auf die Brust und brüllte: „Ich hasse volkstümliche Musik!” Dann lief ich aus dem Abteil.
Michael Timoschek
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 16150