Das Angebot, das Walter Pirker von Emilio unterbreitet worden war, hatte einfach zu gut geklungen. Dieser hatte ihn in einer Mailänder Hotelbar angesprochen und ihm in einem vertraulichen Gespräch zweitausend Euro versprochen, wenn er eine Person von Italien nach Österreich befördern würde.
„Wie sind Sie auf mich gekommen?“, fragte Pirker, nachdem er eingewilligt hatte.
„Sie sehen vertrauenswürdig aus“, gab Emilio, der seinen Familiennamen nicht hatte nennen wollen, zurück. „Außerdem“, fuhr er fort, „scheinen Sie einigermaßen dringend Geld zu benötigen.“
„Woran erkennen Sie, dass ich in Geldnot bin?“
„Ihr Anzug war gewiss teuer, Walter. Vor zehn Jahren allerdings.“
Pirker verstand.
„Wer ist die Person, die ich nach Wien fahren soll?“
„Sie heißt Simona und ist in Schwierigkeiten geraten. Ihre Mutter wird sie in Wien in Empfang nehmen und Sorge tragen, dass das Mädchen auf den rechten Weg zurückfindet.“
„Wird sie mir Schwierigkeiten machen?“
„Nein, das wird sie nicht.“
„Warum ist ihnen dieser Transport so viel Geld wert? Selbst Flugtickets wären günstiger. Oder handelt es sich bei Simona um Ihre Tochter?“
„Ja“, seufzte Emilio. „Ich werde sie morgen zu Ihnen bringen, und dann können Sie losfahren.“
„Abgemacht.“
Sie reichten sich die Hand, und Walter Pirker verbrachte den Abend in Gedanken versunken an der Hotelbar. Er dachte an Simona, malte sich aus, wie sie wohl aussehen mochte und wie ihre gemeinsame Autofahrt verlaufen würde. Der Grund, aus dem er nach Mailand gereist war, interessierte ihn nicht mehr. An dem ebenso illegalen wie gut dotierten Pokerturnier würde er nicht teilnehmen - seine finanzielle Lage hatte sich schließlich dank Emilios Angebot schlagartig verbessert.
Wie vereinbart brachte Emilio Simona am nächsten Tag in Walters Hotelzimmer.
„Du bist also mein Chauffeur“, sagte sie und kaute schmatzend auf ihrem Kaugummi.
„Und du bist Simona. Guten Tag, ich heiße Walter“, sagte Pirker und gab ihr die Hand.
„Nachdem ihr euch nun kennt, wünsche ich euch eine angenehme Fahrt“, sagte Emilio, reichte Walter ein Kuvert und verließ den Raum, nachdem er Simona flüchtig auf die Wange geküsst hatte.
„Wann fahren wir los?“, fragte das Mädchen.
„In etwa einer Stunde. Du sprichst gut Deutsch, Simona.“
„Ja, ich war eine Weile in Wien. Und nun muss ich wieder dorthin zurück.“
Sie seufzte.
„Was hast Du angestellt?“
„Ich bin mit Haschisch erwischt worden.“
„Böses Mädchen!“, sagte Walter, doch sein Grinsen ließ sie erkennen, dass seine Worte nicht ernst gemeint waren.
„Was ist mit dir, Walter. Wer bist du, warum bist du in Mailand und wie bist du an Emilio geraten?“
„Das sind aber viele Fragen auf einmal. Also: Ich halte mich mit Kartenspielen über Wasser, wollte gestern Abend an einem Pokerturnier teilnehmen und wurde von deinem Vater an der Hotelbar angesprochen.“
„Lass mich raten: Er hat dir ein verlockendes Angebot gemacht, und du hast den Pokerabend sausen lassen.“
„So war es.“
„Oft kommt eben etwas dazwischen“, sagte Simona. „Du bist gar nicht so unattraktiv wie die übrigen Spieler, die von Stadt zu Stadt reisen, um an illegalen Kartenrunden teilzunehmen.“
Walter schluckte, Avancen hatte er nicht erwartet.
„Danke“, stammelte er. „Du bist auch hübsch, wenngleich zehn Jahre jünger als ich.“
„Wie alt bist du denn?“, fragte sie.
„Dreiunddreißig.“
„Dann bist du nur acht Jahre älter als ich“, stellte sie fest und sah ihn entwaffnend aus ihren hellblauen Augen an, die, wie Walter fand, auf interessante Art mit ihren schwarzen Haaren kontrastierten.
Die erste Stunde der Fahrt verlief ruhig. Simona war damit beschäftigt, Nachrichten in ihr Telefon zu tippen, und Walter versuchte erfolgreich, dem großstädtischen Verkehr unfallfrei zu entkommen.
„Wie viel hättest du gestern Abend gewinnen können?“, fragte sie, nachdem sie ihr Handy weggelegt hatte.
„Ich meine, dreitausend Euro wären dringewesen.“
„Und Emilio? Wie viel hat er dir für die Fahrt geboten?“
„Zweitausend.“
„Ein schlechtes Geschäft, findest du nicht? Warum bist du darauf eingestiegen?“
„Manchmal ist es besser, den Spatz auf der Hand zu fangen, als auf die Taube auf dem Dach zu hoffen.“
„Hättest du nicht am Turnier teilnehmen und mich trotzdem fahren können? So hättest du vielleicht fünftausend Euro verdient.“
„Nein. Solche Pokerabende dauern die ganze Nacht, und übermüdet zu fahren ist zu gefährlich.“
„Ach, ihr Österreicher“, meinte Simona und lachte. „Ihr seid zu sehr auf Sicherheit bedacht.“
„Was wirst du in Wien machen, Simona?“
„Erst werde ich mich mit Elena treffen, danach werde ich weitersehen.“
„Wer ist Elena? Eine Freundin von dir?“
„Elena? Nein, eine Freundin ist sie nicht“, sagte sie gedankenverloren.
„Wer ist sie dann?“
„Sie ist meine -“, sie stockte. „Meine Mutter“, beendete sie den Satz.
Walter Pirker ahnte, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging, doch bewahrte er die Ruhe des Pokerspielers und dachte an die Sachen, die er sich mit dem Geld, das er von Emilio erhalten hatte, kaufen würde.
„Was hast du vorher gemacht, Simona? Hast du studiert?“
„Nein, ich habe eigentlich nichts Großartiges gemacht.“
„Womit hast du dir denn dein Leben finanziert?“
„Ich hatte immer reiche Freunde“, antwortete sie, der das Thema offensichtlich unangenehm war.
In diesem Augenblick erkannte Walter, dass er einem Schwindel aufgesessen war. Da er sich jedoch auf engem Raum mit einer daran beteiligten Person befand, unterließ er es, darauf einzugehen.
Er unterhielt sich stattdessen mit ihr über Musik, Mode und andere unverfängliche Themen. Er begann, eine gewisse Sympathie für die junge Frau zu entwickeln und lachte innerlich über seine Unvoreingenommenheit, der er es zu verdanken hatte, dass er dem Turnier ferngeblieben war.
„Wo wohnst du in Wien?“, fragte Simona.
Er nannte ihr seine Adresse. Einen Augenblick lang hatte er daran gedacht, ihr eine falsche Anschrift zu nennen, doch da er keine Gefahr von Simona ausgehen sah, sagte er ihr, wo er tatsächlich wohnte.
Der Treffpunkt mit Elena lag in der Nähe des Hauptbahnhofes. Simona reichte ihr die Hand und erhielt einen Umschlag von der älteren Frau. Walter wurde von den beiden nicht beachtet, jedoch von Alois Möstl, den er von etlichen Pokerabenden her kannte.
Möstl war in Begleitung einer Frau, die im selben Alter wie Simona war, zum Treffpunkt gekommen. Seine Begleiterin erhielt ebenfalls einen Umschlag von Elena.
Die Männer sahen einander an und begannen zu lachen.
„Wir Idioten!“, rief Walter.
„Heißt der angebliche Vater deiner Bekannten zufällig Emilio?“, fragte Alois.
Walter wollte antworten, doch brachte er vor Lachen kein Wort heraus.
Alois klopfte ihm auf die Schulter und die beiden fuhren davon, ohne die Frauen weiter zu beachten.
Am Abend dieses Tages lag Walter Pirker auf seinem Sofa und sah fern, als es an der Türe klingelte. Er öffnete und sagte erstaunt: „Guten Abend, Simona.“
Simona lächelte ihn an und sagte: „Möchtest du mich nicht hereinbitten?“
Er gab den Weg frei, und sie setzte sich auf das Sofa.
„Also, was kann ich für dich tun, Simona? Hat deine Mutter dich hinausgeworfen?“
Sie lachte.
„Emilio ist nicht mein Vater, und Elena ist nicht meine Mutter. Er ist spielsüchtig und von der Idee besessen, dass er mehr Geld gewinnen kann, wenn möglichst wenige professionelle Spieler am Pokertisch sitzen. Darum haben meine Cousine, die du heute am Bahnhof gesehen hast, und ich oft die Gelegenheit, ins Ausland zu fahren.“
„Ich verstehe. Und was willst du nun von mir? Wann fährst du zurück nach Mailand?“
„Übermorgen.“
„Was wirst du bis dahin in Wien machen?“
Simona rückte nahe an Walter heran, sah ihm in die Augen und hauchte: „Ich bin dein Spatz. Ich werde dir zeigen, dass auch ich mich aufs Spielen verstehe.“
Michael Timoschek
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