Beide Seiten

Thomas und Julia wohnten seit drei Jahren zusammen, seit etwas mehr als fünf Jahren waren sie ein Paar. Sie hatten sich auf dem Campus der Universität kennengelernt, bei einer dieser Feiern, die Studenten dort gerne zelebrieren, wenn es warm ist an den Abenden, wo getrunken und Gras geraucht wird und wo junge Menschen einander näherkommen. Thomas studierte Bildhauerei und Julia, die gleich alt war wie ihr Freund, Klavier.

Mit dem Zusammenziehen hatten sie sich Zeit gelassen, denn zum einen hatten sie Restzeiten in ihren Wohngemeinschaften absitzen müssen, nämlich bis zum Auslaufen ihrer Mietverträge, zum anderen waren sie sich nicht sicher, ob sie wirklich gut zusammenpassen würden. Diese Zweifel lagen keineswegs in fehlender Zuneigung begründet, es lief in allen Belangen gut zwischen ihnen, sondern in der Tatsache, dass sie verfeindeten Lagern angehörten.
Diese Lager bekriegten sich zwar nicht mit Waffengewalt, doch beharkten sie einander bei jeder sich bietenden Gelegenheit, und deren gab es viele.

Zu Beginn ihrer Beziehung hatten Thomas und Julia vereinbart, da jeder von ihnen Anhänger eines der beiden Lager war, diesen Zwist einfach totzuschweigen, um ihre Partnerschaft nicht mit Dingen zu belasten, auf die sie als Einzelpersonen ohnehin keinen Einfluss hatten. Dieser Konflikt wurde nämlich von oben herab geschürt und geführt, und die Menschen, die ihn auf den Straßen mit ihren jeweiligen Gegnern austrugen, waren streng genommen für ihre boshaften Äußerungen gegen die jeweils Anderen nicht verantwortlich zu machen, folgten sie doch bloß der Doktrin ihrer jeweiligen Meinungsgenerierer.

Obwohl sie diesen Konflikt aussparten und peinlich genau darauf achteten, der jeweils anderen Person nicht durch versehentliches Parteiergreifen auf die Zehen zu steigen, kam es gelegentlich vor, dass sie, wenn auch emotionslos und völlig sachlich, darauf zu sprechen kamen.
Es war nämlich so, dass die Medien sich des Themas angenommen hatten. Die Fernsehsender berichteten ausführlich, aber ausgewogen darüber. Sie ließen Vertreter beider Parteien zu Wort kommen, sogar Fachleute, die derartige Zwistigkeiten in anderen Städten erfolgreich beizulegen vermocht hatten, durften ihre Sichtweisen auf das Problem darlegen und gute, oder wenigstens gut gemeinte Tipps geben, wie die Sache für beide Seiten befriedigend geregelt werden könnte.
Thomas und Julia, die einen solchen Beitrag gemeinsam gesehen hatten, pflichteten dem Experten bei, und zwar aus ehrlicher innerer Überzeugung, und nicht bloß, um einer etwaigen Diskussion aus dem Weg zu gehen.

Gänzlich anders verhielten sich die Printmedien. Diese ergriffen Partei für eine der beiden verfeindeten Gruppierungen, für welche, das hing von der jeweiligen politischen Ausrichtung der Zeitung ab, und auch davon, wie konservativ oder gar reaktionär ein Blatt war. Es wurde geschimpft, Verständnis gezeigt, zur Versöhnung aufgerufen und zur Toleranz, und sogar karikiert. Letzteres gar in Gestalt eines Ebers, der stellvertretend für die Angehörigen einer der beiden Gruppen verstanden werden musste.
Thomas und Julia lasen sämtliche dieser Artikel, und es kam sogar zweimal dazu, dass sie über dieses Thema hitzige Debatten führten, hart an der Grenze zum Streit, in so hohem Maße waren sie von den Artikeln beeinflusst worden, oder hatten sich beeinflussen lassen.

Nach dem zweiten Beinahe-Streit beschlossen sie, die Sache nicht weiter zu diskutieren und auf Toleranz zu hoffen, also auf eine friedliche Koexistenz beider Gruppen.
Dies ging auch lange gut.
Eines Tages, Julia fühlte sich nicht wohl, bat sie Thomas, die Einkäufe für das Wochenende zu erledigen. Sie schrieb eine lange Liste von Sachen, die er im nahe gelegenen Supermarkt besorgen sollte. Er besorgte, wie ihm aufgetragen, die Lebensmittel, und als er diese in den Kühlschrank schlichtete, bemerkte er, dass er etwas zu kaufen vergessen hatte. Er berichtete Julia davon und fragte sie, ob sie dieses eine Wochenende darauf würde verzichten können.
Sie eröffnete ihm, dass ein Wochenende ohne Radieschen für sie nicht infrage käme, also zog Thomas seine Schuhe wieder an und machte sich ein zweites Mal auf den Weg zum Supermarkt.

Als er die Wohnung wieder betrat, empfing Julia ihn im Vorzimmer. Sie war erfreut, das Gemüse im durchsichtigen Plastiksack zu sehen, doch merkte sie, als sie die Miene ihres Freundes sah, dass etwas vorgefallen sein musste.
Auf Nachfrage teilte er ihr mit, dass ein Vertreter ihrer Gruppe ihn beinahe umgebracht hätte. Er erzählte in allen Einzelheiten, was sich zugetragen hatte, und garnierte seine Ausführungen mit nicht eben freundlichen Ausdrücken, bezogen auf die Angehörigen ebendieser Gruppe. Julia geriet ob der Unflätigkeiten ihres Partners in Harnisch, warf ihm Verallgemeinerung vor und lief ins Schlafzimmer, dessen Türe sie hinter sich zuknallte, versperrte und erst am nächsten Tag wieder öffnete.
Thomas war indigniert, weil er auf dem Sofa hatte schlafen müssen, doch schluckte er seinen Ärger hinunter und bat Julia um ein klärendes Gespräch, so bald sie aus dem Schlafzimmer gekommen war.
Sie sprachen über den Vorfall, Thomas entschuldigte sich für seine harten Worte, und sie kamen überein, dass bloß das Hineinschnuppern in die Gruppe des jeweils anderen eine Lösung des Problems würde herbeiführen können.

So kam es, dass Thomas am nächsten Tag mit Julias Fahrrad zur Universität fuhr, während Julia diesen Weg zu Fuß zurücklegte.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt |Inventarnummer: 16174

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