Ganz nett

1

Im Sommer des Jahres 2012 besuchte Peter Koller den Gemeindeball des kleinen Dorfes Gratwein in der Steiermark, wo er Maria Schuster über den Weg lief.
Er fühlte, wie ihm immer heißer wurde, und wusste, dass diese Wallungen der Liebe geschuldet waren, die er für Maria empfand.
Sie hatten einander im Jahre 1983 kennengelernt, und zwar in der Volksschule. Vier Jahre lang waren sie dort nebeneinander gesessen, dann hatte Maria ein Gymnasium in Graz besucht und Peter die Gratweiner Hauptschule. Er hatte in der Folge eine Lehre zum Tischler abgeschlossen, sie ein Medizinstudium. Sie hatten sich an den Wochenenden oft gesehen, in einem kleinen Lokal im Nachbarort, wo sich die jungen Leute trafen, um zu trinken und sich zu unterhalten.

Peter und Maria hatten im Jahr 2008 eine Nacht miteinander verbracht. Es war Vollmond, und die ganz besondere Stimmung einer unterschwelligen Erotik hatte in der Luft gelegen. Beide hatten sie getrunken, und schließlich hatte sie eingewilligt, bei ihm zu übernachten.
Am Morgen des nächsten Tages war er sich sicher, dass er sie liebte. Er erzählte ihr davon, doch anstatt ihn zu erhören, lachte sie bloß und eröffnete ihm, dass er lediglich eine Verlegenheitslösung gewesen war, denn sie hätte am Vorabend die Lust auf ein unverbindliches Abenteuer verspürt.

Peter war tief getroffen, doch ließ er sich das nicht anmerken. Er liebte Maria, sagte jedoch niemandem, dass es so war. Wenn sie sich an den Wochenenden über den Weg liefen, tat sie so, als wäre zwischen ihnen niemals etwas passiert, und ließ seine Annäherungsversuche ins Leere laufen.
Er hatte keine feste Freundin, bloß kurzlebige Beziehungen, die kaum eine Woche Bestand hatten. Maria hatte zwar einen Freund gehabt, doch war diese Verbindung nach zwei Jahren, im Sommer 2011, in die Brüche gegangen.

Als er Maria auf dem Ball begegnete, beschloss er, ein klärendes Gespräch mit ihr zu führen.
„Maria“, sagte er, „darf ich dich auf ein Glas Sekt einladen?“
Sie blickte ihn erstaunt an, dann lachte sie.
„Du versuchst es also immer noch bei mir, Peter“, stellte sie fest. „Na gut, ein Glas Sekt kann nicht schaden.“
Sie gingen zur Bar, und Peter bestellte.
Nachdem sie angestoßen und einen Schluck getrunken hatten, nahm er seinen ganzen Mut zusammen.
„Maria, ich liebe dich. Seit unserer gemeinsamen Nacht habe ich keine Augen für andere Frauen.“
Sie stöhnte und sah verlegen auf ihre goldene Armbanduhr.
„Peter“, begann sie und zögerte dann doch weiterzusprechen.
„Ja?“
Er wollte sie zum Weitersprechen bringen und fühlte, wie ihm die Angst die Kehle zuschnürte.
Es war das sichere Wissen um eine abweisende Antwort Marias, das diese Angst in ihm auslöste. Sie zögerte ihre Antwort hinaus, doch Peter wusste ohnehin, was sie zu sagen im Begriff war.

„Es würde mit uns nicht funktionieren“, sagte sie. „Du bist mir einfach zu minder.“
„Wie bitte? Was hast du gerade gesagt?“, fragte er ungläubig.
„Ich bin Ärztin, und du bist nur ein Tischler.“
Peter Kollers Miene verfiel.
„Du könntest mir nie das bieten, was ich nun einmal benötige, um ein standesgemäßes Leben zu führen“, fuhr sie fort. „Du magst ja ein ganz netter Mann sein, doch gesellschaftlich und wirtschaftlich bist du ein Niemand.“
Er schwieg. Die Tränen, die er in sich hochsteigen fühlte, hielt er zurück.
Maria Schuster trank ihr Glas aus und sagte: „Danke für den Sekt, Peter. Und nimm es nicht so schwer. Du wirst eine andere Frau kennenlernen und mit ihr glücklich werden. Eben eine, die deine Kragenweite hat.“

Dann wandte sie sich um und ließ ihn an der Bar stehen. Peter blieb nichts anderes übrig, als ihr nachzuschauen. Er betrachtete ihre sich entfernende Silhouette, und als er ihr blondes Haar unter den zahlreichen Ballgästen nicht mehr ausmachen konnte, verließ er den Saal.
Er fuhr nach Hause, wo er sich an den Küchentisch setzte und an seine ihm eben attestierte Minderwertigkeit dachte, wobei er weinte.

 

2

Zwei Monate nach diesem Abend lernte Peter Koller eine Frau kennen, die seine Kragenweite hatte. Ihr Name war Claudia Salzer, sie war gleich alt wie er und von Beruf Schneiderin.
Sie war aus Gratkorn, einem Nachbarort, nach Gratwein gezogen und hatte eine Änderungsschneiderei eröffnet, die neben der Tischlerei lag, in der Peter arbeitete.
Da ihm das Rauchen in der Firma wegen Brandgefahr verboten war, stand er oft vor der Halle und somit neben Claudias Laden. Nachdem auch sie vor die Türe ging um zu rauchen, kamen sie ins Gespräch und vereinbarten Zeiten für das Rauchen ihrer Zigaretten.
Sie waren einander auf Anhieb sympathisch und bald ein Paar. Claudia zog bei Peter ein, und nach einem halben Jahr heirateten sie auf dem Gratweiner Standesamt.

Peter Koller hatte sein Glück gefunden. Er besuchte die Gasthäuser in Gratwein und den umliegenden Dörfern seltener als zuvor, und wenn, dann stets in Begleitung seiner Ehefrau. In der Tischlerei stieg er zum Vorarbeiter auf, und Claudias Schneiderei florierte. Die Abende verbrachte das Paar für gewöhnlich zu Hause.
Peter las gerne, und Claudia liebte es, wenn ihr vorgelesen wurde. Sie besprachen jede Erzählung, und allmählich wuchsen ihre Kenntnisse über Literatur ebenso wie ihre Ansprüche an sie. Hatten sie anfangs die Werke Hemingways gelesen beziehungsweise gehört, so waren sie bald auf der Suche nach einem Autor, dessen Werke weniger rustikal und von Machismo durchtränkt waren. Einen solchen fanden sie in Fitzgerald, dessen Bücher sie liebten.
Maria Schuster war kein Thema mehr für Peter Koller. Er hatte seiner Frau von ihr erzählt, und diese hatte ihm geholfen, über Maria und die Demütigung, die er durch sie erfahren hatte, hinwegzukommen.

 

3

Ende Juli 2014 fand der Ball der Freiwilligen Feuerwehr in der Gratweiner Mehrzweckhalle statt, und Peter Koller besuchte diesen. Seine Frau Claudia begleitete ihn nicht, denn sie traf sich an diesem Abend mit ihren Schwestern.
Die Veranstaltung war gut besucht, und auch Maria befand sich unter den Gästen.
Peter, der ihre harten Worte keineswegs vergessen hatte, ging nicht auf sie zu. Er beließ es bei einer flüchtigen Geste, indem er ihr zunickte und sich gleich darauf umwandte.
Wenig später stand er an der Bar und trank ein Glas Bier, als er Marias Stimme hinter sich vernahm.
„Guten Abend, Peter“, sagte sie. „Wie geht es dir?“
„Gut, Maria“, gab er zurück und drehte sich um. „Ich habe letztlich doch eine Frau kennengelernt, die meine Kragenweite hat.“
Diesen Satz sagte er, um ihr ihre Worte von vor zwei Jahren vorzuhalten und auch heimzuzahlen.
Er sah sie an und erkannte, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, ihre Wangen waren eingefallen und ihr Haar war schlecht gekämmt.
„Das freut mich“, sagte sie und seufzte.

Da taten ihm seine Worte plötzlich leid, doch waren sie bereits ausgesprochen. Für den Bruchteil einer Sekunde wollte er sie ungesagt machen, doch der Gedanke an Claudia, die ihm plötzlich in den Sinn gekommen war, ließ ihn fühlen, dass in seinem Herzen kein Platz mehr für Maria war und auch nie wieder sein würde.
Um der Höflichkeit Genüge zu tun fragte er: „Und wie geht es dir, Maria?“
„Schlecht geht es mir, Peter“, sagte sie.
Er schwieg.
„Ich arbeite nicht mehr im Krankenhaus“, fuhr sie fort. „Ich bin jetzt Ärztin in der Privatklinik meines Mannes.“
„Warum geht es dir dann schlecht?“
„Ich fürchte, ich habe mir den falschen Beruf ausgesucht. Und den falschen Man auch.“
„Das tut mir sehr leid für dich“, sagte er, doch es lag keine Emotion in seiner Stimme.
„Weißt du, Peter, ich habe erkannt, dass Geld nicht alles ist. Wenn man ständig von kranken Menschen umgeben ist und am Abend einen Tyrannen zu Hause ertragen muss, ändert sich die Sichtweise.“
„Dann such dir einen anderen Mann“, sagte Peter achselzuckend.
„Daran habe ich durchaus schon gedacht.“ Sie lächelte ihn an. „Einen Tischler vielleicht.“
Peter Koller lächelte ebenfalls. Es war das Lächeln, mit dem man einer bemitleidenswerten Person zu verstehen gibt, dass sie gerade an etwas ganz und gar Unmögliches denkt.
Sie schwieg. Die Tränen, die in ihr hochstiegen, unterdrückte sie, das erkannte er.
„Ich wünsche dir ein schönes Leben, Maria“, sagte er und ließ sie an der Bar stehen.

Peter verließ den Ball und setzte sich zu Hause an den Küchentisch, wie er es zwei Jahre zuvor auch gemacht hatte. Allerdings weinte er nicht. Beim Anblick des Kuchens, den seine Frau Claudia am Nachmittag gebacken hatte, lächelte er.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten |Inventarnummer: 17015

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert