Eine Rezension von Martin Stankowski
Ersterscheinung: Literarisches Österreich 2016/2
Veronika Seyr
FORELLENSCHLACHTEN. 33 Briefe aus dem vergessenen Krieg
Wien, Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2014, 416 Seiten
ISBN 978-3-901602-54-2
Die Briefe erfassen chronologisch den erbarmungslosen Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien von 1991 bis 1997 auf den über den Balkan verteilten Schauplätzen. Inhaltlich bedeuten sie nur teilweise ein Nacheinander, da Frau Seyr trotz konsequenten Verfolgens der Kontinuität des Geschehens fast in jedem dieser an eine Wiener Freundin gerichteten Schreiben thematische Schwerpunkte setzt. Auf diese Weise gelingt ihr bei klarer Orientierung zugleich die Kunst der lebendig-lebensnah geordneten Fülle.
Manchmal hat man nach spätestens drei Briefen genug. Genug von der Unmenge an detailliert aber nicht minutiös geschilderten Brutalitäten, dem Schrecken des blutigen (Massen-)Mordens und der zügellosen ethnischen Säuberungen, der überbordenden Hybris der Mächtigen, des anhaltend schonungslosen Raubs durch Kriegsgewinnler, der hundertfach grimmigen zivilen Wunden in Alltag und Gesinnung. Aber Frau Seyr versteht es, ohne Brüche im Berichten doch immer wieder zu gleichsam weniger aufrüttelnden „Erholungszonen“ durchzustoßen. Und man bleibt gefesselt, will wissen, wie es weitergeht (vielleicht vom größten Lob für eine schriftstellerische Arbeit) im Drama von shakespearischer Dichte und Gewalt, lässt sich bereitwillig durch das zunehmende äußere Chaos steuern, wird anerkennend ihrer bei aller Berichterstattung eindeutigen Stellungnahmen gewahr. Dieses sichere Führen gelingt Frau Seyr durch die niemals aufgegebene, naturgemäß den Blickwinkel bestimmende Perspektive des ORF-Büros in Belgrad wie des persönlichen familiären Lebens mit oft schwierigen Korrelationen: eine duplizierte Filterung, die zwar keine umfassende, schon gar nicht eine historische Bewertung entwickelt, indes anhaltende Authentizität und Tiefenwirkung sicherstellt.
Ja, es gibt absolut Schreckliches, ob als faktische Angaben, ob als beschriebene Taten. Noch darüber hinaus bedrückt das Konglomerat der vielgestaltigen gezielten Streiche in der Kriegs-Kontamination, in ihren Auswirkungen hautnah in den diversen Einschüben der Alltagssplitter zu fassen. Zu ihnen treten, nur partiell mildernd, die parallelen Unwägbarkeiten, verursacht durch die im Großen wie im Kleinen Handelnden. Denn es bleibt der Mensch bei Frau Seyr, in einem von Gerechtigkeit getragenen und dadurch in einem sich selbst im äußerst Schwierigen um Verständnis bemühenden Blick, der alle Richtungsbahnen „vereinnahmende“ Bezugspunkt. Diese nie aufgegebene Grundierung spürt man desgleichen in den zahlreichen Hinweisen auf die uns Lesern allzu oft un- oder gar falsch bekannte Geschichte – die eben nicht eine (auf dem Balkan) postulierte Gesetzlichkeit enthält, sondern oft als gewolltes Geschichtsbild geschmiedet ist –, in den Ausflügen in das kulturelle Erbe und in die nur scheinbar für sich selbst stehende Landschaft. Diese Grundierung gilt zugleich für die analytischen, sich mit den kriegerischen Strukturen befassenden Partien des Buchs, namentlich in den dargelegten Methoden, Hass zu säen, beispielhaft-überzeugend in der Untersuchung, und damit zwingend hierhergehörend, der Sprache (etwa 119-121, 171, 272, 348-349) – über das Ortsgebundene hinaus ein Lehrbuch für zahlreiche vorangegangene und folgende Katastrophen. Anders gesagt: Dass dieses „Gemachte“ auf keiner Seite verlorengeht, gerade darin liegt einer der besonderen Vorzüge dieses Werks.
Beendet wird das Buch mit einer Reihe weiterführender Anmerkungen und einer zur Vertiefung geeigneten Literatur, welche beide den hohen allgemeinen Bildungsgrad der Autorin belegen.
Durch ihre Existenz als Reporterin und als Briefschreiberin schafft Frau Seyr eine Art von doppelter Distanz. Inhaltlich und literarisch erlaubt diese Methode, Schilderungen und Darstellungen, niemals unangemessen breit ausgelotet, in der Schwebe einer steten Spannung des sich Fortbewegens wie des Festhaltens zu belassen. Es ist eben nicht das Erlebte allein, sondern immer auch der ausleuchtende visuelle Eindruck (wohinter wohl das Handwerk der Fernsehjournalistin steckt), was über die Sichtung im Persönlichen die geradezu greifbaren Bilder entstehen lässt.
Eine in diesem Sinn hohe Erzählkunst erweist sich insbesondere und nachhaltig in den beeindruckenden Charakterisierungen der Personen: Seien es die sich groß dünkenden Protagonisten (deren Namen uns, leider, noch vielfach geläufig sind), seien es die einfachen „Leute“ vom Bauernehepaar über den Möchtegern-Heros und die gegen den Medien-Terror ankämpfenden „kleinen“ Radiomacher (im inmitten des Lands gleichsam exilierten Widerstand den Verlagsintentionen nahekommend) bis zu der im embargobedingten Chaos des Niedergangs die Fahne des Normalen aufrecht haltenden Alltagsheldin. Ebensolches gilt für die Landschaftsporträts, etwa als gefühlte Momentaufnahme des dämmrigen Kriegsherbst-Auwalds an der Save oder als farbiges Tableau des Skutarisees. Wobei, im interpretativ nachholenden Notieren, die strukturierte Beschreibung auf der Basis der Eindrücke und Stimmungen zum eigentlichen Ausdrucksträger wird. In den meisterlich charakterisierenden Beschreibungen lassen sich diese Passagen – auch – aus den Geschehnissen lösen und gesellen sich zum Besten der kommentierenden Reiseliteratur.
Die Aufmachung des Buchs mag bereits der inhaltlichen harten Kost entsprechen, im Format, im faktischen Gewicht, im blassweißen Cover, vorne massiv halbiert durch ein „totes“ Graffito, rückseitig überzogen von sich massierenden Schriftzügen (die nur einem minimalisierten Foto der Autorin Platz gönnen). Mit Blick auf die inhaltliche Konsistenz und auf die hohen sprachlichen, ja literarischen Qualitäten hätte das Erscheinungsbild ruhig (in meiner Schweiz ohne pejorativen Beigeschmack) „anmachender“ sein können. Denn der Rezensent wünscht dem Buch unbedingt eine Vielzahl das Werk weiterempfehlender Leserinnen und Leser.
Martin Stankowski
www.stankowski.info
www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 17092