Live

Eine verschissene Minute hat Egon Zeit, um diese Aufgabe zu lösen.

Sie lautet folgendermaßen:
„Ein Vater verdient im Monat 40 % mehr als sein Sohn. Die Mutter verdient die Hälfte von dem, was der Sohn verdient. Die Tochter verdient 2/3 dessen, was die Mutter verdient. Das Gesamteinkommen der Familie beträgt 9.700 Euro. Wie viel Lehrlingsentschädigung erhält die Tochter?“

Egon darf keine Notizen machen. Ja, es ist nicht so eine superknifflige Rechnung wie 2817, aber es geht auch nicht um eine Million Euro, sondern nur um 50.000. Er ist auch nicht in der Show eines anerkannten Fernsehsenders, sondern in der eines aufstrebenden YouTube-Kanals. Dafür ist es live. Die Show heißt: „Du schaffst es!“ Sie ist stark an die „Millionenshow“ angelehnt, allerdings sind die Fragen und Aufgaben und das Ambiente der Show, die Musik, das Publikum, für jüngere Leute ausgelegt. Sie ist jeden Samstag. Finanziert wird die Show über Werbung im Netz. Die Klickzahl ist hoch.

Egon hätte sich auch mit 25.000 Euro begnügen und aussteigen können. Die 50.000 sind der Hauptgewinn. Versagt er bei dieser letzten Aufgabe, fällt er auf 2.000 Euro zurück, die sind ihm sicher.

Egon ist ein junger Mann von einundzwanzig Jahren. Er ist ein kluger Kopf, aber er hat weder die Matura, noch eine Ausbildung beendet. Per se ist er damit Hilfsarbeiter. Seine Freundin Martha sitzt im Publikum zwischen jungen, bunten Leuten. Sie ist zwanzig. Sie hat Friseurin gelernt, aber auch nicht fertig. Die beiden leben zusammen in einer Ein-Zimmer-Wohnung auf zweiunddreißig Quadratmetern. Sie haben praktisch nie Geld. Sie sparen, wo es irgend möglich ist, zum Beispiel im Winter beim Heizen – sie ziehen sich mehrere Pullover über. Sie sind wirklich abgefuckt. Zudem ist Martha ist einer speziellen Verfassung – sie ist schwanger, in der siebenten Woche, da ist noch alles möglich.

Sie wird immer wieder ins Bild gerückt. Wahrscheinlich erwartet man von ihr, dass ihr bange und sie gespannt ist, und jubelt, wenn Egon eine Frage richtig beantwortet hat. Dagegen wirkt Martha wie geistesabwesend, nicht bei der Sache, ruhig sitzt sie auf ihrem Platz, sie erfüllt nicht das Klischee der mitfiebernden Partnerin. Obwohl natürlich dieser Eindruck täuscht, sie ist zu hundert Prozent mit dabei, es ist nur Selbstschutz, sich geistig vom Geschehen zu entfernen, um nicht überzuschnappen geradezu, es geht ja schließlich um viel – oder sehr wenig.

Das Publikum sitzt rund um den Moderator und Egon, wie in einem griechischen Theater, die erste Reihe ist am Boden, danach wachsen die Reihen in die Höhe. Martha sitzt in der ersten Reihe. Traut sie Egon die richtige Lösung der Aufgabe zu? Sie weiß es selbst nicht recht, prinzipiell schon – Egon ist ein guter Mathematiker und schneller Kopfrechner –, dagegen spricht, dass er sichtbar nervös ist, zwanzig Sekunden bereits vergangen sind – der Countdown wird auf einem großen Display zwischen dem Moderator und Egon in grünen Ziffern angezeigt –, und dass manche Leute im Publikum Störgeräusche machen, zzzzz und brrr und aaaa und oooo. Diese Leute sind doch sicherlich von den Machern der Show bezahlt, ärgert sich Martha, die Macher der Show, ja, Martha hat sie kennengelernt, drei junge Leute mit stets entspannten Gesichtszügen und ohne Geldsorgen – geht die Show schief, liegen sie halt wieder ihren Eltern auf der Tasche. Aber klar, das ist Kapitalismus, die drei zahlen lieber 2.000 Euro aus als 50.000.

Martha bemüht sich, Egon nicht anzusehen, da, falls er zurück zu ihr blicken sollte, ihn das aus seiner Konzentration reißen würde. Die an der Decke befestigten Scheinwerfer scheinen gerade auf den Boden. Nachdem eine Frage beantwortet wird, schwenken sie in die Mitte zu Moderator und Egon. Das soll einen dramatischen Effekt erzeugen – auch das ist von der „Millionenshow“ abgekupfert. Egon ist kribbelig, sein Rücken ist gerundet, er beugt sich nach vor, gleichzeitig ist er absolut fokussiert.

Er hat die Rechnung im Kopf aufgestellt. Er schreibt auf die Innenseite seiner Stirn wie auf ein Blatt Papier. Er hat noch fünfunddreißig Sekunden. Da es vier Personen sind, braucht man vier Gleichungen. Die Rechnung funktioniert wie folgt:

Einkommen des Sohnes = x
Einkommen des Vaters = x + 40/100 x = 5/5 x 2/5 x = 7/5 x
Einkommen der Mutter = 1/2 x
Einkommen der Tochter = 2/6 x = 1/3 x
x + 7/5 x + 1/2 x + 1/3 x = 9700 Euro

Egon hält den Kopf gesenkt. Kurz blickt er zum Moderator, der ihn feixend ansieht. Was will er damit? Ihm helfen sicherlich nicht, wenn, dann will er Egon aus dem Konzept bringen, eventuell möchte er auch das Publikum beziehungsweise die Zuseher im Internet unterhalten, witzig wirken halt. Noch dreißig Sekunden. Egon rechnet weiter:

Die Bruchzahlen auf einen gemeinsamen Nenner (30) bringen.
30/30 x + 42/30 x + 15/30 x + 10/30 x = 9700 Euro
Dann wird addiert.
97/30 x = 9700 Euro

Noch zwanzig Sekunden. Egon liegt im Plan. Die Rechnung erscheint ihm logisch. Er ist sich sicher, dass sie richtig ist. Wenn das mit dem Gewinn der 50.000 Euro hinhaut, ist die nähere Zukunft geritzt. Martha und er ziehen in eine komfortable Mietwohnung, in der es niemals kalt sein wird. Sie werden beide den B-Führerschein machen. Dann kaufen sie ein geräumiges Auto. Martha wird Mutter werden, er wird Vater werden. Und nächstes Jahr fahren sie im Sommer nach Ibiza, Party, Party – das muss sein. So ist das Ganze gedacht. Das Abschweifen hat fünf Sekunden gekostet, trotzdem ist noch genug Zeit. Egon führt die Rechnung fort:

Beide Seiten der Gleichung durch 97 teilen.
1/30 x = 100 Euro
Beide Seiten der Gleichung mit 30 multiplizieren.
x = 3000 Euro = Einkommen des Sohnes

Noch zehn Sekunden, in grünen Ziffern deutlich sichtbar auf dem großen Display. Egons Nervosität hat sich ziemlich gelegt. Im Stadium der Aktivität, des Rechnens, ist einfach kein Platz dafür. Martha leidet auf ihrem Platz. Sie kann nichts tun, kann Egon nicht helfen. Sie sieht auf ihren Bauch, es ist noch nichts zu sehen. Die Störgeräusche, sie sind jetzt lauter geworden, sie zischen in Marthas Ohren. Und jetzt nimmt sie auch Egon wahr. Zzzzz und brrr und aaaa und oooo. Egon schließt die Rechnung ab, die Störgeräusche perlen an ihm ab wie Regen an einer Regenjacke:

Einkommen des Vaters = 3000 Euro + 1200 Euro = 4200 Euro
Einkommen der Mutter = 3000 Euro : 2 = 1500 Euro
Einkommen der Tochter = 3000 Euro : 3 = 1000 Euro

Noch fünf Sekunden. „Herr Binder, jetzt kommt es darauf an, sind Sie fertig? Wie lautet die Lösung?“, fragt der Moderator. Martha schaut starr auf das Metallgestell zwischen Egon und dem Moderator, es ist die Mitte. Die Störgeräusche sind noch lauter geworden. Hunderttausend Hornissen brummen. Egon nickt, noch vier Sekunden, er denkt nach, noch drei Sekunden. „Wie hoch ist das Einkommen der Mutter?“, das ist die Frage.

„1.500 Euro“, sagt er. Die Scheinwerfer schwenken zur Mitte. Der Moderator hebt die Arme in die Höhe, fast wie ein Priester. „1.500 Euro, sagen Sie, erhält die Tochter an Lehrlingsentschädigung?“ „Nein“, widerspricht Egon, „das ist das Einkommen der Mutter.“ „Es wurde nach der Höhe der Lehrlingsentschädigung der Tochter gefragt“, führt der Moderator fort. „Warten wir auf die Antwort.“ „1.000 Euro“, scheint als Antwort auf einer Anzeige auf.

Egon weiß sie. Er hat eine Verwechslung begangen. Doch eine Verwechslung ist auch ein Fehler. Martha hat den Mund offen und starrt den Moderator an, der demonstrativ und selbstgefällig Egon betrauert. Egon steigt mit 2.000 Euro aus dem Spiel aus. Das müsste für die Abtreibung reichen. Wahrscheinlich bleibt sogar ein bisschen was übrig.

Johannes Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 17121

 

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert