Es ist gefährlich, in der Provinz Logar im östlichen Afghanistan zu leben. Seit Jahrzehnten kennen die Menschen dort keine Normalität. Die russischen und amerikanischen Besatzungstruppen sind gekommen und gegangen. Sie haben Hoffnungen geweckt, Enttäuschungen beschert und unaufhaltsam größere Not über die Bevölkerung gebracht. An Arbeit und Schule ist seit Langem nicht mehr zu denken. Alle sind mit der Sorge um den täglichen Lebensunterhalt beschäftigt. Jeder hat Angehörige zu betrauern, die einem Attentat, einem Bombenangriff oder einem willkürlichen Schusswechsel zum Opfer gefallen sind. Ein Menschenleben verliert in solchen Zeiten an Wert. Pläne für die Zukunft kann man nicht machen. Dennoch heiraten auch in Afghanistan junge Paare und bekommen Kinder. Dennoch wachsen auch in so einem Land junge Leute heran, die von einem Leben in Frieden und Freiheit träumen. Wie kann man es ihnen verdenken?
Im Jahr 2015 hören die Bewohner von der Möglichkeit wegzugehen. Aber wohin soll man gehen? Es ist ein großes Risiko, die letzte Sicherheit, die Familie oder den kläglichen Rest davon zu verlassen. Was soll mit den Zurückgelassenen in der Heimat geschehen? Welche Gefahren lauern im Ausland, in der unbekannten großen Welt? Die Not und Verzweiflung muss unerträglich groß sein, dass man diese Gefahren auf sich nimmt.
Keramat Akachel erzählt mir im Februar 2017 davon, wie seine Mutter für ihn, ihren jüngsten Sohn, die Entscheidung gefällt hat, dass es keine Alternative zur Flucht gibt. In regelmäßigen Abständen kommen die Taliban in die Stadt, um Kämpfer zu rekrutieren. Keramat steht auf ihrer Liste. Der ältere Bruder hat bereits die Familie verlassen und ist untergetaucht. Niemand weiß, ob er noch lebt oder wo er sich versteckt. Jedes Lebenszeichen ist lebensgefährlich für ihn und für seine Angehörigen. Der Vater ist schon vor Jahren ermordet worden, weil er seine Familie nicht im Stich lassen wollte und sich geweigert hatte, sich den Taliban anzuschließen.
Die allgegenwärtige Not hat Keramats Mutter gelehrt, diplomatisch zu verhandeln. Sie bat um Aufschub. Schließlich gibt man den jüngsten Sohn nicht einfach so weg. Sie war sich dessen bewusst, dass ein Menschenleben in ihrer Heimat schon lange nicht mehr viel wiegt. Und so bereitete sie unbemerkt nebenher die Flucht ihres jüngsten Sohnes vor. Die einzige Chance für einen jungen Menschen besteht darin, irgendwie ins sichere Ausland zu gelangen. Die Gefahren müssen gewagt werden. Es gibt keine Alternative. Sie besprach sich mit dem Schwiegersohn und kam zu dem Entschluss, ein Stück Land zu verkaufen, um das nötige Geld zu bekommen.
Alles geschah hinter dem Rücken Keramats. Vielleicht wollte ihn seine Mutter die letzten Tage zu Hause noch möglichst unbeschwert verbringen lassen. Vielleicht wollte sie ihm auch die Qual des Abschiednehmens erleichtern.
Schließlich drängte die Zeit. Die Taliban würden bald zurückkommen, und bis dahin musste der Junge weg sein, unauffindbar. Wenige Tage vor dem Aufbruch in die ungewisse Zukunft wurde Keramat in die Pläne der Mutter, die sie zusammen mit seinem Schwager gefasst hatte, eingeweiht. Alle waren der Meinung, dass Deutschland ein gutes Ziel sei, obgleich sie so gut wie nichts über dieses Land im Westen wussten. Die Kunde von Frieden und Freiheit war bis nach Logar gedrungen, und so machte sich Keramat auf, dorthin zu gehen.
Seine Mutter sagte beim Abschied: „Sei ein guter Sohn aus Logar! Geh weg und mach es so, dass jeder auf dich stolz sein kann!“
Er nahm die überlegte und weise Entscheidung seiner Mutter ohne Widerspruch an. Wusste er doch, dass das Weggehen die einzige Möglichkeit auf ein annähernd normales Leben war, das sich nicht nur er, sondern seine Mutter für ihn erträumte. Vielleicht würde er ja auch eines Tages vom Ausland aus seiner Familie hilfreich beistehen können. Alle Hoffnungen lagen nun auf ihm und er wollte sich dafür würdig und stark erweisen, auch wenn er Angst hatte.
So packte er seine Sporttasche mit dem Nötigsten. Einen Bildband über die Geschichte Afghanistans und einen schönen Spiegel legte er als kostbare Schätze, die ihn an zu Hause erinnern sollten, mit hinein. Dachte er doch, im fernen Deutschland bald studieren zu können. Gerne klammerte er sich an den Gedanken. Hatte er doch gehört, dass dort alle den Beruf erlernen konnten, den sie gern ausüben möchten. Er würde in Deutschland arbeiten und Geld verdienen. Er würde es schaffen.
So brachte ihn der Mann seiner Schwester, der als Taxifahrer arbeitete, mit dem Auto zum verabredeten Treffpunkt, wo er mit fünfzehn weiteren Flüchtlingen einen Bus bestieg, der ihn über die Grenze in den Iran brachte. Ihm war klar, dass es überaus gefährlich war, dieses Land unbehelligt zu durchqueren. Wenn die Polizei Flüchtlinge aufgreift, werden sie geschlagen und zurückgeschickt.
Die Polizeikontrollen mussten geschickt umgangen werden. Die Angst aller war groß, die Schlepper handelten rücksichtslos. Für sie ist es ein Geschäft, und noch dazu ein lukratives, die Flüchtlinge außer Landes zu schaffen. Gleichwohl laufen auch sie ständig Gefahr, geschnappt und womöglich inhaftiert zu werden. Auf Mitleid und Hilfe durfte man nicht hoffen. Dessen war sich Keramat gewiss. Es kann auch verhängnisvoll sein, Vertrauen zu schenken.
Jeder will es schaffen und jeder muss auf sich selber aufpassen. So spürte Keramat während dieser zwei Wochen, die er in der Obhut Fremder, denen er ausgeliefert und auf deren Hilfe er dennoch angewiesen war, wie alleingelassen er mit seinem jungen Leben war.
Er erzählte mir, dass er im Kofferraum eines Autos stundenlang von Checkpoint zu Checkpoint transportiert worden war, immer in Angst, doch kontrolliert, herausgezerrt, geschlagen und zurückgeschickt zu werden. Er erlebte die eigene Ohnmacht und wurde teilnahmslos. Kein Laut durfte nach außen dringen, und seine Gliedmaßen schmerzten in der bewegungslosen Enge. Ihm war in diesem Moment völlig gleichgültig, was mit ihm geschehen würde. Er fühlte sich dem Tod sehr nahe.
Schließlich nahm diese höllische Fahrt doch ein Ende, und er wurde mit seinen Leidensgenossen aus dem Kofferraum befreit. Es dauerte, bis er wieder so weit zu sich kam, dass er sich bewegen konnte und die Kraft aufbrachte, sich auf den weiteren Fluchtweg einzulassen. Da stellte er fest, dass aus seiner Tasche das Buch über seine Heimat und der Spiegel verschwunden waren. Man darf eben niemandem vertrauen. So war ihm wieder ein Stück Zuhause genommen worden. Ihm wurde klar, dass er sich an nichts klammern durfte. Er wird mit wenig zurechtkommen müssen. Die Erinnerungen bleiben, aber es muss viel Platz für all das Neue sein, das auf ihn zukommt. Wehmut und der Blick zurück können tödlich sein. Und Keramat spürte, dass er leben will und zwar in Frieden und Freiheit. So rüstete er sich für die nächsten Etappen seiner Flucht.
Die Türkei erreichte er in der Nacht. In den Bergen war es trotz des Sommers eiskalt. Er erfuhr, dass drei Leute aus seiner Gruppe inzwischen aufgegriffen und zurückgeschickt worden waren. Außerdem hörte er die Schüsse der Grenzposten. Sie mussten sich trennen, um möglichst unauffällig das unwegsame Gelände passieren zu können. Er hielt sich an den Größten, der vorgab, den Weg zu kennen, und hatte Glück. Jetzt sei das Schlimmste geschafft, dachten alle und schöpften neuen Mut. Irgendwo wartete ein Bus, der sie nach Istanbul brachte. Die großen Häuser und Schiffe ließen ihn staunen. Niemals zuvor hatte er Derartiges gesehen. Doch es war keine Zeit, um zu verweilen. Schließlich war das Ziel noch gut tausend Kilometer entfernt, die möglichst rasch zurückgelegt werden mussten.
Ein Auto brachte seine Gruppe an die bulgarische Grenze. Von dort aus ging es zu Fuß durch einen großen Wald weiter. Man konnte sich darin leicht verirren.
Sie gingen während der Nacht und kauerten untertags an Bäume gelehnt. Nach vierundzwanzig Stunden trafen sie todmüde auf einen LKW, der sie nach Serbien brachte. Die Aufregung unter den Flüchtlingen wurde ständig großer.
Jeder behauptete etwas anderes, und keiner wusste wirklich Bescheid. Sie hatten längst die Orientierung und den letzten Rest von Sicherheit verloren. Sie mussten sich selber Mut machen und darauf hoffen, dass nun diese beschwerliche Reise bald ein Ende nehmen möge, bevor sie noch alle die Kraftreserven verließen.
Zum Glück hatte einer ein Handy mit GPS, das sie mit verlässlicher Richtungsangabe zu Fuß durch drei oder vier Dörfer geleitete. Sie hatte Angst davor, nach Rumänien zu gelangen. Gerüchte von den feindseligen Polizisten dort machten die Runde. Schließlich blieb es Keramat und seinen Fluchtkollegen erspart, Erfahrungen mit diesem Land zu machen. Mit dem Bus gelangten sie nach Belgrad, mit dem Zug weiter Richtung Ungarn.
Zwischendurch gingen sie zu Fuß entlang der Gleise, bis sie wieder ein Kleinbus ein Stück mitnahm. Sie näherten sich Österreich. Es konnte nicht mehr weit sein. Gefährlich war es noch, die stark befahrene Autobahn zu überqueren.
Immer durfte nur einer gehen. Aber auch das schaffte jeder in Keramats Gruppe.
Am 15. Juli 2015 kam Keramat in Passau an. Dieses Datum hat sich ihm eingebrannt. Ähnlich seinem Geburtstag wird er diesen Tag sein Leben lang besonders feiern.
Wenn er sich heute daran erinnert, sagt er, dass er damals erleichtert dachte, dass nun alles okay sei. Als er aber die Autos in Passau sah und auf den Nummernschildern ein D las, war er sehr verwirrt. Hatte er doch immer nach Germany gewollt. Was hatte nun dieses D zu bedeuten. So lernte er erst an diesem Tag das Wort Deutschland kennen.
Ich lernte Keramat im September 2015 kennen. Mit zwei Freunden und seinen Betreuern kam er in die 10. Klasse des Burkhart Gymnasiums und erzählte bereits mit einigen deutschen Wörtern von seinen Eindrücken und Plänen. Der Kontakt ist geblieben, und inzwischen ist er einigermaßen heimisch geworden.
Er lernt fleißig Deutsch und will Elektriker werden. Ich freue mich, mich inzwischen mit ihm schon gut unterhalten zu können. Manchmal erzählt er mir auch von Afghanistan. Das werde ich dann auch für ihn aufschreiben. – Seine Mutter kann auf ihren Sohn stolz sein.
Claudia Kellnhofer
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