April 1971
Meine Freunde Pashka und Wjeta wussten davon über Mundpropaganda.
In der Christi-Himmelfahrts-Kirche von Kolomenskoje soll es einen geheimen Oster- Gottesdienst geben, eine Auferstehungsfeier die ganze Nacht hindurch.
Wir fuhren mit der Metro hinaus zur Endstation Kolomenskaja und gingen über die fast schon grünen Wiesen der Parkanlage zur Kirche. Vor allen Seiten strömten Menschen herbei.
Mir fiel auf, dass sie alle gebückt gingen, als würden sie sich vor etwas verstecken wollen, als wollten sie so tun, als ob sie gar da seien. Ich erklärte mir das mit dem frommen Insichgekehrtsein, der Verzücktheit nach dem strengen vierzigtägigen Fasten. Völlig daneben, wie sich später herausstellte.
Südlich vom Stadtzentrum liegt in einer Moskwa-Schleife inmitten einer Parklandschaft mit sechshundertjährigen Eichen die einstige Sommerresidenz der frühen Zaren. Nach dem Sieg über die Tataren auf dem Schnepfenfeld im Jahr 1380 ließ sich der triumphale Dmitrij Donskoj hier, hoch über dem Steilufer der Moskwa, eine Sommerresidenz erbauen. Wegen ihrer Pracht nannten sie Zeitgenossen das achte Weltwunder. Zuletzt gestaltete Zar Aleksej 1667 den Palast um, sein Sohn Peter, später der Große, verbrachte hier seine Kindheit, später benützten ihn die Zarinnen Katharina I., Anna und Elisabeth.
Katharina die Große mochte ihn nicht, sie bevorzugte das von ihr erbaute Schloss Zarskoje Selo bei St. Petersburg. Sie ließ den Moskauer Palast abreißen, trotz vieler Pläne kam aber nie ein Neubau zustande. Von der alten Pracht bleiben nur das Erlösertor als Eingang, der Glocken- und der Wasserturm und die Kirche der Gottesmutter von Kazan stehen. Das war die Hauskirche des Zaren Aleksej mit einem unterirdischen Geheimgang zur Christus-Erlöser-Kirche. Dies ist der schönste und größte Zeltdachbau der Rus mit einem 63 Meter hohen Turm. Hier versuchten die unbekannten Baumeister zum ersten Mal, den traditionellen Holzbaustil in Stein zu übertragen, mit den frühesten Einflüssen der italienischen Renaissance in Russland. Typisch für die russische Gotik sind die schlanken Säulen, darüber die dreifach gestaffelten Kokoschki, die die aufragende Gestalt optisch noch verstärkten. Sinnbild für das Streben zu Gott, die Himmelfahrt Christi, aber auch den Ruhm des Russischen Reiches.
Natürlich wusste ich an diesem Karsamstag im April 1971 das alles noch nicht, geschweige denn hätte ich das sehen oder benennen können. Aber in den nächsten dreißig Jahren bin ich immer wieder an diesen Ort gekommen, er wurde einer meiner Moskauer Herzensplätze, und allmählich verleibte ich mir Kolomenskoje immer mehr ein. Es war der Ort, an dem ich eine Ahnung vom Inneren Russlands bekam, die ganze russische Geschichte wie durch eine Osmose zu spüren vermeinte. Und den besten Blick auf Moskau hatte. Nah genug, um das Schöne zu sehen, weit genug weg, um das Hässliche zu vergessen.
Ich versuchte oft, mich in Napoleon auf den Hügeln von Borodino zu versetzen, als er im September 1812 die ersten Blicke auf das viertausendfach golden gekrönte Moskau warf. Ich bin überzeugt, dass er genau hier den Verstand verloren hat, so verrückt wurde, dass er meinte, es einnehmen und beherrschen zu können. Er war wie geblendet von dieser Pracht und vergaß, dass hier nicht Zar Alexander I. herrschte, sondern König Winter. Heutzutage hat Moskau immerhin noch 400 Kuppeln und Türme.
Wjeta, Pashka und ich waren früh gekommen, noch bei Tageslicht. Die Feierlichkeiten begannen erst mit der Dämmerung. Die Kirche war schon halb gefüllt, die Gläubigen verrichteten ihre rituellen Handlungen: das Waschen, Kerzenanzünden, Ikonen-Umkreisen und -Küssen, Kopeken-Einwerfen, das Schreiben der Fürbitte-Zettel und Abholen der kleinen Sauerbrote in der Sakristei. Die Besucher waren fast nur alte Frauen mit Kopftüchern, kaum Männer und Jugendliche.
Auf der Galerie an der Hinterwand sang ein Frauenchor in endlosem Auf und Ab Gebete und Choräle, die Gläubigen antworteten mit gleichem Singsang: Gospodi pomilui. Herr, erbarme dich unser. Tausende Male. Oh Gott, wie viel hatte er ihnen zu verzeihen! Bekreuzigen, in die Knie gehen und niederwerfen, den Boden küssen, aufstehen und wieder bekreuzigen. Es war mein erster orthodoxer Gottesdienst, alles war neu und fremd. Ich erkannte noch nicht den Rhythmus, in dem sich das alles vollzog. Nicht einmal, dass es einen Rhythmus hatte. Inzwischen hatte sich die Ikonostas geöffnet und Geistliche erschienen in der Apsis. Reiches Ornat, viele Kerzen, geschwenkte Weihrauchfässer und aus Wasserbecken reich versprühtes Wasser.
Die Menge war dicht zusammengerückt und drängte immer stärker nach vorne. Bald standen wir in einer kompakten Masse von Leibern. Pashka, Wjeta und ich bemühten uns, aufrecht stehend beieinander zu bleiben. Auch sie Atheisten, machten sie nicht mit bei Bekreuzigung, Niederwerfung und Bodenküssen. Da hörte ich von draußen Lärm, Pferdewiehern, Hundgebell, Schläge an das Tor. Lautsprecheransagen von außen an die towarischtschi verujuschtschije, die Genossen Gläubigen, dass nun die Kirche geschlossen würde, und wer nach draußen wollte, sollte das jetzt tun. Für den Rest der Nacht würde die Kirche von außen versperrt. Das war die berittene Miliz, die den Gottesdienst vor den möglichen erzürnten kommunistischen Volksmassen schützen sollte. Ich weiß nicht mehr, ob meine russischen Begleiter so unerfahren waren oder ich so naiv, dass ich darauf bestand zu bleiben: In jedem Fall, wir gingen nicht nach draußen.
Das Tor fiel krachend in seine Angeln, und die Milizionäre schlugen noch einmal fest auf das alte Holz. Gesänge, Kerzen, Weihrauch, Niederwerfen, Aufstehen. Der Sauerstoff war aufgebraucht. Allmählich verschmolz bei mir alles zu Schlieren, ich konnte mit den Augen nichts mehr unterscheiden, es blieb der Singsang als letzte Erinnerung in den Ohren. Gospodi pomilui. Nein, die allerletzte war das Gefühl der dicht gepressten Körper rund um mich, die mich aufrechterhalten hatten. Als sich die Masse wieder einmal beugte, niederkniete und sich auf den Boden warf, kippte ich heraus und fiel und fiel. Mein Körper auf den runden Rücken der betenden Weiblein, das war die letzte Empfindung, bevor ich das Bewusstsein verlor. Ein langsames Gleiten ins Nirgendwo.
Das Weitere erinnere ich nicht, sondern ist Erzählung. Mein Glück, meine Begleiter, meine Lebensretter. Sie erkannten die Situation und kämpften sich durch die Körpermassen robbend nach hinten in Richtung des Eingangs, eine Schneise, mich im Schlepptau. Ich kam so zu liegen, dass ich unter dem undichten Torschlitz etwas Luft zu atmen bekam. Pashka und Vjeta schrien und trommelten mit allen Kräften von innen an das Tor. Ein Notfall, eine Frau ist bewusstlos, bitte, aufmachen, um Gottes Willen, gospodi pomilui!
Es öffnete sich ein Spalt, und meine Freunde zogen mich hinaus, zwischen Pferde- und Hundebeinen hindurch. Sie brachten mich auf eine Wiese, atzten mich mit Wasser und fächelten meine Stirn, tätschelten meine Wangen und ermunterten mich mit guten Zusprüchen.
Das Erste, was ich wieder bewusst aufnahm, war eine Kohorte von Polizisten hoch zu Ross mit freilaufenden Schäferhunden. Sie umkreisten uns unruhig, sie wogten dahin und dorthin, immer wieder auch um die Kirche. Das Geräusch von Pferdehufen gegen die Kirchenmauern. Schläge mit Holzstöcken gegen die Kirchentür und Fenstergitter. Ganze Einheiten belegten die offenen Galerien, Arkaden und Treppenaufgänge an der Vorderseite. Sie taten uns nichts an, verlangten nicht einmal unsere Dokumente.
Mein elender Zustand war ihnen offenbar Beweis genug. Feind liquidiert. Ausgeschaltet. Keine Gefahr. Ein unscharf gestellter Film, untermalt von Chorgesängen, Kommandos, Pferdewiehern und Hundegebell.
Es schien ein Krieg zu toben rund um die Christus-Erlöser-Kirche. Historische Schlachtenbilder, Borodino, Napoleon gegen Kutusowski 1812, langsam kam ich wieder zu mir, etwas zeitverschoben allerdings, denn ich meinte, tausende Kirchenglocken zu hören. Da erst bemerkte ich, dass viele Menschen keinen Platz in der Kirche gefunden hatten. Sie lagerten im Park, immer bedrängt von der Miliz und deren Tieren. Die Kirche gehörte zu einem Museumsreservat, war nicht geweiht und eigentlich nicht geeignet für einen Gottesdienst. Das war auch der zynische Grund für das Verbot der Auferstehungsfeier. Da sich die Gläubigen nicht aufhalten ließen, wurden sie maximal gestört und eingeschüchtert.
Am stärksten aber der Geruch einer russischen Frühlingswiese, von den Eichen, vom Fluss unten und die Sterne darüber. Mein Erweckungserlebnis fand nicht innerhalb einer Kirche statt, so viel war sicher.
Ob es in Kolomenskoje noch andere Zwischenfälle gegeben hat? Wir wussten es nicht, hätten es auch nie erfahren. Die sowjetische Presse veröffentlichte nie lokale Vorfälle, die nicht ins Bild passten.
Das erlösende Jubeln bei Sonnenaufgang, das Ausbrechen aus der Kirche: Christos voskres`- voisstenno voskres` – Christus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden – die Umarmungsküsse am Morgen nach der Auferstehungsfeier, die Weidenzweige, die Ostereier und Osterkuchen - das alles habe ich später noch oft erlebt und genossen, aber nie wieder nach einer Nacht in einer verschlossenen Kirche.
23.6.17
Veronika Seyr
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