Ein Mann erwachte aus seinem Schlaf, er hatte von grünen Wiesen und lieblichen Seen, von lauschigen Lichtungen im Walde und von Vögeln geträumt, welche die Szenerie mit ihrem Gesang erfüllt hatten. Er wollte sich zur Seite drehen, so wie jeden Morgen, ein Ritual, das ihm das Aufstehen immer erleichtert hatte, doch er fühlte, dass er nicht auf dem gewohnt weichen Bett lag, sondern in einer Pfütze, modriger Geruch drang in seine Nase, ein beißender, übel riechender Dunst ließ seine Nase brennen und seine Augen tränen. Er fühlte einen stechenden Schmerz in seinem Rücken, genau an der Stelle, die hinter seinem Herzen lag. Mit den Händen versuchte er zu ertasten, ob irgendwo eine offene Wunde zu erfühlen sei, doch fand er keine, die Haut war an dieser Stelle zerschunden.
Er fragte sich, wo er aufgewacht sei, an welch dunklem Ort, und musste erkennen, dass er in einem tiefen Loch gefangen war. In seiner Verzweiflung begann er laut zu schreien, auf dass irgendjemand auf seine missliche Lage aufmerksam werden würde, doch nach wenigen Minuten schon war er heiser geworden und er stellte das Schreien ein, zumal er noch nicht einmal wusste, wo sich das Loch, in dem er gefangen war, überhaupt befand. Hungrig versuchte er, den Boden des Lochs abzutasten, ob irgendetwas Essbares zu finden sei, doch außer ein paar Regenwürmer fand er nichts, also nahm er mit diesen vorlieb.
Das Loch begann sich zu erhellen, die Sonne ließ ein klein wenig Licht auf den Boden fallen, schwach nur, aber doch genug, um schemenhafte Umrisse dieses Gefängnisses zu erkennen. Es war ein im Durchmesser nur wenige Quadratmeter großes Loch, der Boden war an einigen Stellen feucht, es tummelten sich Unken und Regenwürmer an diesen feuchten Stellen, eine kleine Pfütze stand in einer Ecke, und die Tiefe des Lochs schätzte er auf dreißig Meter. Nach kurzer Zeit zog die Sonne weiter, nahm ihr Licht mit sich und überließ ihn wieder der Dunkelheit.
Durstig und hungrig machte er sich über das Wasser der Pfütze her und scheute nicht davor zurück, eine Unke zu verzehren, nachdem er sie getötet und ihr mit bloßen Händen notdürftig die Haut abgezogen hatte, schließlich hatte er keine Wahl, konnte in dieser Situation keine Rücksicht auf die Gefahren für seine Gesundheit nehmen, die eine solche Nahrung mit sich bringen würde. Nach einigen Stunden schlief er erschöpft ein und träumte wieder von lieblichen Wiesen und Vögeln.
Als er erwachte, wagte er nicht, die Augen zu öffnen, zu groß war seine Angst, immer noch in diesem Loch gefangen zu sein. Er zwang sich doch dazu und stellte fest, dass sich an seiner Lage nichts geändert hatte. Wieder rief er laut um Hilfe, doch wieder blieben seine Rufe unbeantwortet. Er nahm ein paar Würmer zu sich, trank aus der Pfütze und zwang sich dazu, sein Gehirn zu beschäftigen, indem er ihm gleichsam befahl, einen Ausweg aus dieser Lage zu finden. Er versuchte, mit bloßen Händen die Wände zu erklimmen, das einzige Resultat waren jedoch abgerissene Fingernägel und blutige Fingerglieder. Er versuchte immer wieder, Anlauf zu nehmen und ein wenig höher Halt zu finden in dieser Wand, die ihn umgab, doch er glitt immer wieder ab und zerschnitt sich die Oberarme.
Zitternd und blutend saß er verzweifelt auf dem Boden seines Gefängnisses, nachdenkend, was ihn wohl in diese Haft gebracht haben mochte. Keine Antwort darauf findend, nahm er sich vor, jeden Tag, den er hier unten verbringen sollte, eine Episode seines bisherigen Lebens sich in Erinnerung zu rufen und zu analysieren, sodass er in der Einsamkeit nicht verrückt werden würde.
Auf diese Weise verbrachte er etliche Tage, um doch nur zum Ergebnis zu gelangen, dass eine neuerliche Analyse ohnehin keinen Zweck hätte, denn das Erlebte war ihm durchaus in Erinnerung geblieben und egal von welcher Seite er es immer wieder analysieren mochte, es änderte nichts an seinen damaligen Eindrücken und Empfindungen. Der Vorrat an Unken, Regenwürmern und modrigem Pfützenwasser versiegte nicht, und so begann er, der gewöhnt war, nur einmal am Tag feste Nahrung zu sich zu nehmen, diese Lebewesen abwechselnd zu verspeisen. Mit der Dauer seines Verweilens in diesem Gefängnis wuchsen in ihm die Angst vor der Dauer seines Aufenthaltes hier unten, seine Einsamkeit und seine Verzweiflung. Er begann damit, Namen von Menschen zu rufen, die er gekannt hatte, bevor er an diesem dunklen Ort aufgewacht war, er rief sie laut, schrie sie richtiggehend aus sich heraus, er flüsterte sie, hoffend, sie würden auf irgendeine Weise Gehör finden, doch bedingt durch die Tiefe des Schachtes wurden sie zu stummen Schreien.
Tag um Tag, Woche um Woche verbrachte er auf diese Weise, verzweifelt und ungehört. In seiner Not und Einsamkeit hatte er sogar den Entschluss gefasst, sein Leiden zu beenden, indem er die Haut der Unken ebenfalls aß, doch erwies er sich als immun gegen das schwache Gift, welches darin enthalten war. Er fragte sich, wie lange seine Haft schon andauerte, doch gelangte er zu keiner Antwort. Er hatte die Hoffnung auf Rettung aufgegeben, als er eines Morgens erwachte und ein sonderbares Kribbeln auf seiner Nase wahrnahm. Er fasste sich an die Nase und fühlte ein Stück Draht in seiner Hand. Unschlüssig was er tun sollte, beschloss er zu warten, bis die Sonne sein Gefängnis wie jeden Tag für ein paar Minuten erhellen würde. Die Sonne kam und als er seinen Blick zum Himmel wandte, sah er einen Balken quer über den Schacht liegen.
Er beschloss, diese Chance wahrzunehmen und zog am Draht. Höchst euphorisch, bemerkte er die Schmerzen in seinen Händen nicht, welche ungeschützt am Metall zogen. Die ersten Meter des Ziehens fielen ihm leicht, nach ungefähr zwanzig Metern jedoch wurden die Schmerzen in seinen Händen unerträglich und ihm wurde schwarz vor Augen, er hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Er dachte nach; er hatte die Möglichkeit, loszulassen und viele Meter tief zu fallen, oder er konnte sich dafür entscheiden, weiterzumachen, unter Schmerzen diesem Loch zu entkommen. Er entschied sich für Letzteres und bald hatte er es geschafft, seine Arme um den Balken zu legen, nun konnte er durchatmen.
Er blickte um sich und musste erkennen, dass der Schacht in einer lieblichen Landschaft gelegen war, doch war er von mehreren Reihen Stacheldraht umgeben. Er schaffte es, sich am Balken hochzuziehen und setzte sich auf diesen. Vor ihm der Stacheldraht, unter ihm das Loch. Als sich seine Augen an das Sonnenlicht, welches er viele Monate bloß für wenige Minuten täglich wahrgenommen hatte, gewöhnt hatten, blickte er über den Rand des Stacheldrahtes und bemerkte, dass er bereits erwartet worden war. Etliche Bussarde saßen vor dem Draht. Sie sahen ihn mit gierigen Augen an, welche sich beinahe menschlich ausnahmen. Ihre Blicke schienen ihm, als wollten sie ihm mitteilen, er solle nur den Stacheldraht passieren, sie würden ihn schon zerfleischen.
Ängstlich ließ er seinen Blick von den Bussarden weg, hin zu den Wesen schweifen, die hinter den Bussarden hockten. Er erkannte zwei Werwölfe, die auf der Erde saßen, ihre grün leuchtenden Augen und ihre ihm durchaus bekannten Gesichtszüge schienen ihm sagen zu wollen, er würde als der Versager aufgefressen werden, als den sie ihn einschätzten. Er wollte den Bestien etwas zurufen, da ließ sich ein großer Schwarm Vögel auf dem Stacheldraht nieder. Nicht die Art von Vögeln, von der er immer geträumt hatte, es waren unscheinbare Raben männlichen Geschlechts sowie schön anzusehende Amazonen, die aus dem Regenwald zu kommen schienen, weiblichen Geschlechts. Diese Vögel blickten völlig unbeteiligt auf die Szenerie, so als wollten sie lediglich als interessierte Beobachter am Geschehen teilhaben. Die Werwölfe erhoben sich und er befürchtete, sie würden mit einem Satz über den Stacheldraht springen, um ihn zu töten, jedoch sah er, dass sie einem Einhorn Platz machten, welches zu ihnen gestoßen war.
Sie schienen sich gut zu verstehen und das Einhorn kam nahe an den Stacheldraht heran. Es war weiß, von wunderschönem Körperbau, jedoch hatte es schwarze Augen. Es neigte den Kopf, so als wollte es den Mann dazu bringen, das Horn näher zu betrachten. Er tat dies und entdeckte an dessen Spitze Hautfetzen. Er begriff, dass es diese schöne Tier mit den schwarzen Augen gewesen sein musste, das ihn in sein Loch gestoßen hatte. Er blickte dem Einhorn ins Antlitz und erstarrte vor Schreck. Es öffnete sein Maul und zum Vorschein kamen die Fangzähne eines Wolfes, geeignet, Beute zu ergreifen, festzuhalten und erst dann wieder freizulassen, wenn der Wolf es möchte. Das Einhorn hatte jedoch nicht bloß Fangzähne, die übrigen Zähne im Maul dieses Wesens waren merkwürdig dreieckig geformt und hatten Zacken an den Rändern, wie kleine Sägen. Er dachte sofort an die Zähne des Tigerhais, geeignet dazu, möglichst große Stücke aus seinem Opfer zu reißen.
Obwohl er Panik in sich hochsteigen fühlte, zwang er sich, Ruhe zu bewahren und die Situation zu analysieren. Er erkannte, dass er zwei Möglichkeiten hatte. Die eine war, sich durch den Stacheldraht zu kämpfen, um danach kriechend und verletzt von den Kreaturen zerrissen zu werden, die Reste vertilgt von den Bussarden und die anderen Vögel als Zaungäste. Die andere war, sich wieder in das Loch fallen zu lassen und nie mehr zurückzukommen. Er überlegte kurz, er zögerte, das Einhorn hatte sein Maul geschlossen und wälzte sich einladend auf seinem Rücken, so als ob es meinte, er solle doch zu dem Wesen kommen, welches ihn hinuntergestoßen hatte in sein Verlies, er würde es ohnehin nicht schaffen, und falls doch, dann verbraucht und zerschunden. Er fragte sich, ob er immer noch ein Märtyrer wäre, würde er dem weißen Fabeltier mit den Wolfszähnen Genugtuung geben, erkannte die Unwichtigkeit dieser Frage und sprang.
Michael Timoschek
www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques |Inventarnummer: 17139