Die Eule und der Bussard

An einem Maitag saß die Eule auf dem starken Ast eines alten Baumes, ihrem liebsten Platz, um den Tag, der sich im dichten Wald keineswegs durch große Helligkeit erkennbar machte, zu verbringen und auf die Nacht zu warten, die Zeit, zu welcher Nachtgreifvögel aktiver sind als während des Tages, wo sie, wenn nicht schlafend, so doch dösend auf einem Ast sitzen, und um einen guten Platz zu haben für das Warten auf unter dem Baum vorbeilaufende Beutetiere, auf welche sie sich stürzen würde, lautlos, ohne dass die Mahlzeit durch von dem Vogel verursachte Geräusche gewarnt werden könnte, wie Flügelschlag oder gar Lautäußerungen, denn das Gefieder von Eulen und Käuzen ist so beschaffen, dass es kein Geräusch erzeugt.

Zur selben Zeit flog der Bussard gemächlich, mit langsamen Flügelschlägen durch das Waldstück, als tagaktiver Raubvogel war er auf der Jagd nach Beute, seine orangen Augen suchten den von Fichtennadeln bedeckten Boden nach solcher ab, gleichzeitig musste der Bussard achtgeben, sich nicht zu sehr auf seine Suche nach Nahrung zu konzentrieren, zu dicht war das Stück Wald bewachsen, durch das er flog, die Gefahr, sich an einem Ast zu verletzen oder im Flug gegen einen Baum zu prallen, war groß und die Folge eines durch Unachtsamkeit hervorgerufenen Unfalls wäre gewesen, dass der Bussard ernstlich verletzt oder gar flügellahm zu Boden fiele, wo er ein gefundenes Fressen für vorbeilaufende Raubtiere sein würde.

Der Bussard erspähte eine Maus, und als er sie im schnellen Flug verfolgte, prallte er gegen den Baum, auf dem die Eule saß. Benommen vom Aufprall stürzte der Bussard zu Boden, die Eule, nun hellwach, beäugte das Schauspiel mit Interesse und schwebte schließlich zu Boden, um sich dem Bussard vorsichtig zu nähern, fürchtend, dieser könnte entweder aufgrund seiner Benommenheit oder aus simplem Frust über sein Missgeschick aggressiv reagieren und sie attackieren. Diese Furcht erwies sich als unbegründet, vielmehr starrte der Bussard die große Eule ängstlich an, wohl fürchtend, von ihr getötet und aufgefressen zu werden, doch machte sie keine diesbezüglichen Anstalten, vielmehr hockte sie neben dem schwarzen Taggreifvogel und sah ihm interessiert aus ihren großen Augen in seine orangen Augen, krächzte halblaut auf eine den Bussard beruhigende Art und Weise und als seine Benommenheit verschwunden war, erkannte der Schwarze die Schönheit und Sanftmut, die die Eule ausstrahlte. Sie flog zurück auf ihren bevorzugten Ast und er, der sich die Flügel nicht verletzt hatte, folgte ihr.

Der Bussard und die Eule bildeten von nun eine Art Gemeinschaft von Tag und Nacht. Der schwarze Vogel, dem an der Jagd gelegen war, sie bereitete ihm Freude, schlug die doppelte Anzahl an Beutetieren, solange es Tag war, und wenn die Dämmerung hereinbrach, saßen sie auf dem Ast des Baumes, der ihre Bekanntschaft eingeleitet hatte, er liebte es, ihren Rufen zu lauschen, die ab und an von männlichen Vertretern der Gattung Strigiformes beantwortet wurden, doch als diese herangeflogen kamen und des schwarzen Taggreifvogels ansichtig wurden, der neben der vermeintlich paarungswilligen Eule auf dem Ast saß, flogen sie verstört und wohl auch mit dem Gefühl, zum Narren gehalten worden zu sein, keine einzige männliche Eule ließ sich ein zweites Mal blicken, davon.

Im Fall des Bussards verhielt es sich ähnlich, jedes Mal, wenn ein Bussardweibchen dem Bussard ihre Aufwartung machen wollte, und die Eule in dessen Nähe erblickte, stieß es gellende Schreie aus und ward nicht mehr gesehen.
Die Eule, die herausgefunden hatte, dass es unmöglich war, Nachwuchs mit dem Bussard zu haben, stellte die Nahrungssuche fast zur Gänze ein, nur ab und an brachte sie eine Maus oder ein Eichhörnchen, eine Krähe oder ein Rehkitz an den Horst, und verlegte sich an Mordes statt auf das nächtliche In-den-Schlaf-Singen ihres Gefährten, der tagsüber die Nahrung beschaffte und den Horst sauber hielt. Mit der Zeit begann auch der Bussard, einen Hang zu nächtlichen Aktivitäten zu entwickeln, welcher ihn den Horst verlassen ließ, sobald die Dämmerung hereinbrach und ihn oftmals erst spätnachts zurückkehren ließ. Es ergab sich einige Male, dass er in bemitleidenswertem Zustand wiederkehrte, was die Eule anfangs hinnahm, doch mit der Zeit wurde sie seines Verhaltens überdrüssig, und um herauszufinden, was er trieb, während er weg war, was die Ursache für sein zerzaustes Gefieder und seine fallweise abgebrochenen Federn war, folgte sie ihm eines Abends heimlich, was ihr ein Leichtes war mit ihrem kein Geräusch verursachenden Gefieder und ihren an das Sehen in der Dunkelheit angepassten und gewöhnten Augen, und was sie da sehen musste, verstörte sie.

Er flog zu einem vom gemeinsamen Horst ein gutes Stück entfernten Baum, auf welchem sich eine große Anzahl Raben niedergelassen hatte, um auf diesem die Nacht zu verbringen. Er suchte sich einen ausgewachsenen Raben aus, nicht viel kleiner als ein Bussard, und lieferte sich mit diesem einen mit Klauen und Schnäbeln geführten Kampf auf Leben und Tod. Der Bussard siegte, doch ließ er seinen im Kampf getöteten Kontrahenten einfach liegen, er fraß nicht von ihm, und flog zurück in Richtung des gemeinsamen Horstes. Als die Eule die nähere Umgebung des Schlafbaumes der Raben in Augenschein nahm, entdeckte sie etliche Kadaver von Raben auf dem Boden verstreut, offenbar alles Opfer ihres Gefährten. Auf dem Weg zurück zum Horst schlug die Eule einen Fuchs, der aufgrund seiner Jugend noch unerfahren, was die Gefahren des nächtlichen Waldes anlangt, und dementsprechend unvorsichtig war, um sich den Anschein zu geben, als wäre sie gerade von der Jagd zurückgekommen. Sie fraßen den Fuchs, der Bussard glättete mit dem Schnabel sein zerzaustes Federkleid und strahlte dabei eine Art Zufriedenheit aus, die die Eule ängstigte.

Der Bussard setzte seine nächtlichen Aktivitäten fort und die Eule konnte sich diese nicht so recht erklären, bis er einmal mit einer klaffenden Wunde auf seiner Brust in den Horst zurückkehrte. Da war ihr klar, aus welchem Grund er sich beinahe allabendlich mit den Raben einließ. Er musste seines Daseins überdrüssig geworden sein.
Diesen Umstand konnte und wollte die Eule weder ignorieren noch hinnehmen. Sie dachte daran, mitten in der Nacht zu dem Baum, auf dem die Raben schliefen, zu fliegen und die Stärksten von ihnen zu töten, um ihrem Gefährten die gefährliche Beschäftigung zu verunmöglichen, doch verwarf sie diesen Plan. Einige Male rückte sie dicht an ihren Gefährten heran, wenn dieser arg mitgenommen an den Horst kam, versuchte auf diese Art und Weise Nähe zwischen ihnen beiden herzustellen, doch nachdem dies keinen Erfolg einbrachte, verwies sie ihn des Horstes.

Ein weiteres Mal war er schlimm verwundet angeflogen gekommen, schon aus der Ferne hatte die Eule erkennen können, dass es ihn arg erwischt haben musste, denn sein Flug war ungleichmäßig, er taumelte in der Luft, und als er Anstalten machte, sich im Horst niederzulassen, verhinderte sie dies, indem sie ihre Flügel spreizte, sodass er nicht hätte landen können, ohne sie dabei mit seinen Krallen zu verletzen, was er keinesfalls wollte, ihn mit ihren großen Augen, die sie überdies weit aufgerissen hatte, anstarrte und ihn anfauchte, so furchteinflößend, dass er im Flug wendete und sich auf einem Ast niederließ, der aus einem Baum neben dem wuchs, auf dem sich der ehemals gemeinsam bewohnte Horst befand. Der Bussard saß auf dem Ast, sah die Eule an, die sich beinahe demonstrativ abwandte und verbrachte die Nacht dort sitzend.

In den Nächten, die auf seine Abweisung folgten, verzichtete er darauf, mit den Raben zu kämpfen, er ließ diese intelligenten Vögel in Ruhe auf ihrem Baum schlafen. Er kam oft an den Horst, ließ stets zwei Beutetiere, meist handelte es sich bei diesen um Mäuse, die er sorgfältig ausgeweidet und deren Fell er abgezogen hatte, in den Horst fallen und nahm wieder Platz auf seinem Ast des Nachbarbaumes. Die Eule nahm die Mäuse mit ihrem Schnabel auf, schleuderte sie aus dem Horst und wandte sich um, um den Bussard nicht sehen zu müssen. Nach vielen Versuchen, sie doch noch umzustimmen, verschwand der Bussard.

Nach einer Weile begann die Eule, nach ihm zu rufen, sie suchte in den Nächten die Umgebung nach ihm ab, doch konnte sie ihn nicht finden. Sie begann, die Sache als erledigt abzutun und lernte eine männliche Eule kennen. Bald jedoch war sie sich der Tatsache bewusst, dass diese männliche Eule dem schwarzen Bussard in mehrerlei Hinsicht unterlegen war. Zum einen hatte sie den Eindruck, dass der Bussard über ein größeres Denkvermögen verfügte, zum anderen hatte dieser Euler die Angewohnheit, zwar sich selbst mit Nahrung zu versorgen, ihr jedoch nichts von dieser abzugeben, außerdem war er, was die Reinhaltung des Horstes anlangte, ein wenig aktiver Vogel. Die Eule verwies ihn auf die selbe Art des Horstes, die sie im Fall des Bussards zur Anwendung gebracht hatte, noch bevor sich hätte Nachwuchs einfinden können.

Sie begann abermals den Bussard zu vermissen und suchte erneut nach ihm. In einer tiefen Schlucht wurde sie schließlich fündig. Von ihrem Bussard war nur noch das Gefieder übrig, verstreut auf dem Grund der Schlucht, zwischen den Federn fand sie Bruchstücke zerschmetterter Knochen. Die Eule konnte die Umstände seines Todes nicht erkennen, doch sie hatte da so eine Vermutung.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques |Inventarnummer: 17140

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