Obwohl journalistisch keineswegs unerfahren, war ich in den letzten Mai-Tagen 1991 ungewöhnlich aufgeregt. Eine persönliche Einladung vom 1. Vorsitzenden des Lensowjets zu bekommen, war auch in jenen stürmischen Monaten des Jahres 1991 nicht alltäglich. Anatolij Alexandrowitsch Sobtschak wollte dem ORF in seinem Amtsitz in Leningrad ein Interview geben. Ein Monat später sollte er als erster, mit fast achtzig Prozent der Stimmen demokratisch gewählter Gouverneur das Ruder in der nördlichen Hauptstadt übernehmen, dessen erste Amtshandlung die Rückbenennung in St. Petersburg war.
Ich hatte den Jura-Professor und Deputierten des „Demokratischen Russland“ im Obersten Sowjet kennengelernt. Es war die Zeit, als diese verkrustete Abstimmungsmaschinerie die ersten Schritte auf dem Weg in den Parlamentarismus tat, sich Parteien und Fraktionen herauszubilden begannen, und die meist wüsten, noch kaum geregelten Debatten schon mal vierzehn oder sechzehn Stunden dauern konnten. Der damals 53-jährige Sobtschak fiel in der Masse von ranzigen Armeeuniformen und mausgrauen Parteifunktionären in mehrfacher Hinsicht auf: Er wirkte jugendlich, sprühte vor Energie und sah gut aus; war schlank und hochgewachsen, hatte einen gepflegten Haarschnitt, saubere Schuhe und kleidete sich gerne entweder in Maßanzüge mit Gilets und exquisiten Krawatten oder machte mit großkarierten Jacketts und grellen Stecktüchern Furore.
Am Rednerpult stellte er regelmäßig sein dialektisch geschultes rhetorisches Talent und die brillante Intelligenz unter Beweis. Den zündenden Vortrag hatte er sich nicht etwa in der Politik angeeignet, sondern als Jura-Professor vor den wachen, westlich orientierten Studenten der Leningrader Universität. Ende der 80er-Jahre war er der unbestrittene Wortführer der Demokraten. Die westlichen Journalisten liebten ihn dafür, dass er sich auch noch nach den längsten Sessionen in den Kreml-Couloirs für Fragen zur Verfügung stellte und dabei mit offenen Worten nicht geizte.
Das war die Gallionsfigur, die das neue, postsowjetische Zeitalter repräsentierte, der Held, in den viele ihre Hoffnung auf eine demokratische Wende setzten und der sogar von den Massen dafür belohnt wurde.
Dieser politische Wunderwuzzi hatte mich also zu einem Interview eingeladen, ihn nicht wie sonst immer im Geschrei und Journalistengewühl zwischen Tür und Angel zu befragen, sondern exklusiv im Lensowjet. Der Termin wurde über die Büros festgesetzt, und wir brachen Ende Mai erwartungsvoll nach Leningrad auf. In der Eingangshalle des imposanten Gebäudes, dem ehemaligen Smolnij-Institut, wo schon Lenin seine Fäden gezogen hatte, wurden mein Zwei-Mann-Team und ich einer für sowjetische Verhältnisse eher lässigen Kontrolle durch bullenartige Sicherheitsleute unterzogen, eigentlich nur unsere TV-Ausrüstung zerlegt. Nachdem wir unsere Sachen wieder zusammengepackt hatten und die breite Treppe hinauf verwiesen worden waren, kam uns in der Beletage ein unscheinbarer, kleinwüchsiger Mann entgegen und erklärte uns, dass wir erwartet würden, uns aber noch gedulden müssten, bis der Genosse Vorsitzende Sobtschak uns empfangen könne.
Er bat uns zu einer langen Lederbank und postierte sich selbst vor einer Doppelflügeltür, die wie alles im Smolnij hoch, groß, massiv, gigantisch war. Welche Pracht in den weitläufigen Treppenhäusern und Korridoren, in deren übermannsgroßen Nischen Imitate griechischer Statuen, Amphoren und Malachitvasen zu bewundern gewesen wären, hätten sie die revolutionäre Zerstörungswut des bolschewistischen Sturmes im Oktober 1917 überlebt. Irgendwo in diesem 1808 in streng klassizistischem Stil von italienischen Architekten als Erziehungsanstalt für Höhere Töchter erbauten Palastes musste sich das Lenin-Museum befinden. Und auch das Zimmer, in dem 1934 der beliebte Leningrader Parteichef Sergej Kirov im Auftrag Stalins erschossen worden war.
Während des stummen Wartens hatte ich Gelegenheit, den Wächter, der vor dem Sobtschak-Heiligtum auf und ab ging, näher zu betrachten: unter vierzig, schätzte ich, das dünne, blassblonde Haar an der hohen Stirn angeklebt, tiefliegende Augen, Farbe nicht erkennbar unter den amphibienartigen Lidern, lange Nase, schmaler Mund, großer Adamsapfel, das blasse Gesicht in absoluter Ausdruckslosigkeit. Dem bräunlichen Anzug in bestem Ostblock-Nylonschick mit den sich wellenden Nähten, zu kurzen Hosen über grauen Socken und schlechtem Schuhwerk, dem grünlichen Hemd und dem würgend-schmalen Krawattenstrick nach zu schließen – ein verkleideter Tschekist.
Mir fiel noch auf, dass der Mann, den ich für einen internen Portier hielt, ständig auf seine Uhr am rechten Handgelenk sah und nervös an ihr herumnestelte, eine große, runde, goldene der Luxus-Sowjetmarke Zenit. Warum ich das wusste? Weil ich die gleiche habe, ich trage sie aber links.
Plötzlich ein Geräusch von innen, der Wächter stürzte an die Tür, riss die linke Hälfte auf und ließ einige Herren heraustreten, verschwand für wenige Augenblicke und bat dann uns hinein. Wir waren mit Ausrüstungsgegenständen voll bepackt, sodass uns der Mann zuerst den Außenflügel aufhielt und dann im Saal den Innenflügel. Für so viel Zuvorkommenheit dankend, drängelten wir an ihm vorbei, wobei mir seine kleine, kaum merkliche Verbeugung nicht entging: Zehn Minuten und nicht länger, murmelte er dabei, weniger autoritär als devot und ängstlich, wie mir schien.
Sobtschak saß am Ende eines endlos scheinenden, holzgetäfelten Saales, der wie alle Bürokratensäle der Sowjetunion mit einer langen Reihen von Tischen und Stühlen längs der Mitte und an der Kopfseite mit quergestellten Tischen in T-Form möbliert war, an deren Kreuzungspunkt Sobtschak seinen Schreibtisch hatte, flankiert von der sowjetischen und der russischen Fahne. Bei unserem Eintreten sprang er auf, umrundete das große T links, kam uns freundlich, offen, lachend mit ausgestreckten Händen wie alten Bekannten entgegen.
Ein solch unzeremonielles Begrüßungsverhalten hielten wir Journalisten am Ende der Sowjetunion noch für die wahre Revolution, es warf mich kurz aus dem Konzept meines Fragenkatalogs, verwirrte die Sinne der einheimischen TV-Leute und entspannte uns alle ungemein. Sein Dreiteiler war übrigens diesmal nachtblauer Nadelstreif, das Hemd lila-weiß mit Knöpfchen an den Kragenenden und die Krawatte in gedecktem Gelb mit bourbonischen Lilien. Geht er schon in Paris einkaufen, schoss es mir durch den Kopf.
Es war auch noch ungewohnt, dass ein Funktionär keine von seinem Büro geprüfte Frageliste vorgelegt bekommen wollte, sondern mich fragte, was ich denn wissen wolle. Er legte frei von der Leber weg mit seinem Vortrag los, was er für die brennendsten Probleme Russlands! – ja, Russlands, nicht der Sowjetunion – hielt. Die bolschewistische Revolution sei ein großer Fehler gewesen, es hätte zuerst die bürgerliche Revolution vollendet und der Kapitalismus entwickelt werden müssen. Ein Voll-Revisionist! Er führte aus, wie jetzt seiner Meinung nach in einem gigantischen Reformprojekt Russland – ja, er sagte Russland, nicht Sowjetunion – umgestaltet werden müsste: Durch die Zulassung des Privatkapitals die Demokratie entfalten, garantiertes Recht auf Geld und Unternehmungen für jeden Bürger als Garant für die Demokratie, das war seine Hauptthese, wie er schon oft im Obersten Sowjet, im Lesowjet und in TV-Runden dargelegt hatte.
Sobtschak sprach immer lebhaft und ungezwungen, geißelte die bodenlose Dummheit der KPdSU-Funktionäre und gab Politschnurren voller Situationskomik wieder – er war wie für das Fernsehen geschaffen. Ein scharfer Denker und brillanter Formulierer, uferte aber immer wieder aus, von der Geschichte der französischen Revolution bis zur russischen von 1905, als fast schon die Weichen gegen die Autokratie und für die Bourgeoisie gestellt waren. Seine Begeisterung galt dem kurzen 20. Jahrhundert vor 1914, als Russland vollständig in die europäische Politik, Wirtschaft und das Bündnissysem integriert gewesen sei. Ebenso verbreiterte er sich über den noch kürzeren Zeitraum zwischen dem Sturz des Zarentums im Februar 1917 mit seiner provisorischen bürgerlichen Regierung und dem bolschewistischen Oktoberputsch.
Ich bemühte mich durch mein Fragen, ihn möglichst lange bei der Stange zu halten. Da bemerkte ich in seinem Gesicht eine leichte Irritation, und er gab in Richtung Eingangstüre einen Wink ab. Ich drehte mich ganz gegen die Interview-Regeln um und sah das Türstehermännlein, das die rechte Hand hochreckte und mit ausgestreckten Fingern eine Fünf zeigte, fünf Minuten Interview hatten wir also noch. Sobtschak verscheuchte ihn ungeduldig wie eine lästige Fliege; er war in seinem Gedankenfluss gestört worden, und wir mussten die Kassette wechseln, diese Passage wiederholen, aber Sobtschak fand von Neuem in seinen Traum von einem durchkapitalisierten, demokratischen, rechtssicheren Russland hinein, das sich in die europäischen und westlichen Entwicklungen einklinken werde. Mit Vehemenz warb er für sein damaliges Lieblingsprojekt, die Schaffung einer wirtschaftlichen Sonderzone St. Petersburg mit den baltischen Republiken und anderen Anrainern der Ostsee. Er sollte damit allein bleiben, die Balten verabschiedeten sich aus der Sowjetunion und strebten auf eigene Faust nach Europa.
Zweimal noch wedelte er den ungeduldig Minuten zeigenden Zerberus hinaus, da waren es aber nur noch drei und dann zwei Finger; im Vorzimmer muss es einen hektischen Besucherstau gegeben haben. Letztendlich hatten wir mehr als eine Stunde Interview auf Band aufgenommen, bevor uns Sobtschak, intellektuell befriedigt und gesättigt wie von einem guten Mahl, entließ. An die Verabschiedung vom Türsteher kann ich mich, wahrscheinlich im Journalistenglück schwelgend, nicht mehr erinnern.
Drei Monate nach dem Mauerfall kam ein abgehalfterter Spion aus Dresden/DDR zurück und wurde vom KGB Leningrad wegen personeller Überkapazitäten als Oberstleutnant in die Reserve entlassen. Anfangs schlug er sich als Taxifahrer durch, bis ihm sein früherer Jura-Professor an der Universität eine Assistentenstelle verschaffte. Als wir im Mai 1991 W.W. Putin trafen, war er im Bürgermeister-Amt Mädchen für alles, nach Sobtschaks Wahl zum Gouverneur von St. Petersburg wurde er einer von dessen Stellvertretern, zuständig für die Außenhandelsbeziehungen, wegen seiner Deutschkenntnisse mit Schwerpunkt Deutschland.
Erst als 1998 ein gewisser W.W. Putin FSB-Chef (Inlandsgeheimdienst, Nachfolger des KGB) wurde, tauchten sein Gesicht und sein Name in einer breiteren Öffentlichkeit auf.
Erst da wurde mir klar, wer mir damals im Smolny die Tür aufgehalten hatte.
Die weiteren Karrieresprünge des W.W. Putin in den Jahren seither sind hinlänglich bekannt. Als Sobtschak 1996 abgewählt wurde, zeigte sich schon das Menetekel an der Wand: Nicht intellektuelle Romantiker mit hochfliegenden Demokratieträumen, sondern die alten KGB-Seilschaften griffen nach der Macht. In einer politischen und medialen Hetzjagd wurde Sobtschak betrügerischer Machenschaften in der Außenwirtschaft beschuldigt und ins Exil getrieben. Zwei Jahre lehrte er an der Sorbonne, kehrte 1999 nach Petersburg zurück, wurde Putins Wahlhelfer und starb 2000 unter ungeklärten Umständen – offiziell an Herzinfarkt – bei Kaliningrad, gerade als W.W. Putin zum ersten Mal russischer Präsident wurde. Dieser hat seither Regierungs- und Kleidungsstil mehrmals gewechselt, die Vorliebe für Protzuhren ist ihm geblieben.
26.12. 2013
Veronika Seyr
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veröffentlicht in Literatur&Kritik, März 2014, Nr. 481/482
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