Spiel weiter, Alessandro, lass deine Finger weiterhin so anmutig über den Hals der Gitarre gleiten. Lass es mich nochmals hören, dieses scharfe Glissando, und dazu der kurze Aufschrei deiner rauen Stimme. Nicht satt kann ich mich an dir sehen, dein feines Antlitz gelöst wie selten, und nicht satt wird meine Kamera, dich abzubilden trotz des spärlichen Lichtes, das uns umgibt, hervorgerufen von ein paar funzeligen Kerzen auf dem Tisch zwischen uns im Kampf gegen das Dunkel des toskanischen Nachthimmels.
Denn wieder einmal ist einer unserer Abende in den Zustand der Zeitlosigkeit abgetaucht, einzig durchflutet von unserer abgrundtiefen Freundschaft, dem Durchfluss blinden bedingungslosen Vertrauens zueinander, der vor gefühlten Jahrhunderten seinen Anfang genommen hat. Du weißt schon, damals in Udine, als du mich Unbekannten, mich Fremden von jenseits der Alpen an deinen Tisch in Paolos Taverne geladen hast, und wir uns mehr mit Händen und Füßen als mit Worten unterhalten haben, so erbärmlich ist mein Italienisch damals gewesen, aber in der Kunst der Handbewegungen spielst du als Italiener sowieso in einer eigenen Klasse.
Sing weiter, Alessandro, stimme nochmals diesen melancholischen Refrain des Lebensglücks an, der so gut zu dem toskanischen Hügel passt, auf dem wir hier sitzen, wir beide ganz alleine, umgeben einzig von stummen Olivenbäumen, die sonderbare Schatten werfen.
Sonderbar auch der Zufall, als ich dich einige Monate später zur erbarmungslosesten Winterzeit in Wien aufgelesen hatte, der Stadt, die du nicht ausstehen kannst, und die du nur besucht hattest, um es mir gleichzutun, im Springen über die Alpen – und das gerade du, der so heimatverwurzelt in seiner udinesischen Ebene ist. Und wie du deinem Ärger über das bitterkalte Wien Luft gemacht hast, im Kaffeehaus nebenan bei unserem vergeblichen Versuch einer Partie Schach, als du ausgezogen bist, deine Bauern gegen ihre eigenen Reihen aufzuhetzen, sie zur Revolution aufzuwiegeln gegen das altersschwache Adelsgeschlecht hinter ihnen mit dem verkalkten König, der hochnäsigen Königin und den anderen zu Kreuze kriechenden Vasallen. Und als sie deinem Ruf des unheilbaren Anarchisten nicht folgen wollten, hast du nach der nächst erreichbaren Zeitung gegriffen und dich trotzig in das Kleingedruckte eines Artikels vertieft, verfasst in einer Sprache, von der du kein Wort verstehst. Keinen einzigen Schachzug haben wir an diesem Tag zustande gebracht.
Ja doch, Alessandro, ich schenke uns noch den Rest der Flasche nach, und die nächste ist ebenfalls bereits offen, aber du mach weiter mit dem Drehen der Kräuterzigarette für uns anstatt so viel zu quatschen. Ja, allen erdenklichen Schabernack werden wir treiben, wir Lausbuben allein unter uns, die ohne Obhut sich selbst überlassen sind, nichts davon werden wir bereuen und schon gar nichts werden wir daraus gelernt haben, am nächsten Morgen.
Es tut mir leid, Alessandro, dass mir über die Lippen gekommen ist, du würdest zu viel reden, gut hat es uns getan, dass wir die Sache mit Filomena zwischen uns aus der Welt schaffen haben können, dass du nicht – wie von mir angenommen – es mir übel genommen hast, dass ich mich damals mit deiner Schwester so tief eingelassen hatte. Sondern im Gegenteil, dass du es ihr zum Vorwurf gemacht hattest, mich so unentrinnbar in den Bann gezogen zu haben, so gefährdet und gefährlich wie sie war, keinem noch so hässlich gähnenden Abgrund abgeneigt. Und dass ich endlich die Gelegenheit habe wahrnehmen können, dir die Wahrheit zu erzählen, was sich auf Staglieno, dem Friedhof von Genua, tatsächlich zugetragen hat, dass ich gezwungen gewesen war, deine Schwester zurückzulassen, Filomena sich nicht mehr von mir finden hatte lassen wollen, am Ende ihres lebensmüden Weges war sie gewesen. Und wie knapp es auch für mich gestanden hatte, für immer dort zu verbleiben, ebenfalls hinter der Kurve in der Straße zu verschwinden, hinter der man nicht mehr gesehen werden kann. Hoch hatte das Schicksal damals mit mir gewürfelt, einem Wunder gleich, dass wir beide, Alessandro, jetzt und hier in einer nachtverträumten Toskana bei zu viel Wein sitzen und uns in die Arme fallen können, nun, da unser letztes Missverständnis aus dem Weg geräumt ist.
Komm schon, Alessandro, ein letztes Lied noch, auch wenn ich bereits so berauscht bin, von all den Dingen, die wir zu uns genommen haben, und besonders von der endlosen Wertschätzung dir gegenüber sowie der hemmungslosen Zuneigung zu dir, denn wahrlich abgrundtief auch unsere Freundschaft, die uns fast aufgezehrt und umgebracht hätte, in der Sehnsucht, der eine im anderen zu sein.
An diese eine sizilianische Klippe kannst du dich bestimmt noch erinnern, Alessandro, zu deiner bleiernen Zeit, in der es dir so schlecht gegangen ist, dir die Seele aus dem Ruder gelaufen ist, und du mich in Fesseln geschlagen und mich unbarmherzig zu treten und zu steinigen begonnen hast, während dir die Tränen unaufhaltsam aus den Augen liefen. Ja, diese schroff überhängende Klippe, das Meer tosend unter ihr, von der du uns beide beinahe in den felsigen Tod gestoßen hättest, in deiner maßlosen Verzweiflung, wäre es mir nicht gelungen, an dein Herz des Italieners zu appellieren: dass ich nicht weit von hier einen Gastwirt kenne, der den besten tonno des gesamten Mittelmeerraums zuzubereiten weiß. Und wie hatten wir diesen Paolo zum Staunen gebracht, als wir blutüberströmt in seine Taverne eingekehrten und aßen wie die Löwen. Überhaupt, ein letztes Geheimnis zwischen uns wirst du mir eines Tages noch lüften müssen: warum alle Gastwirte in deinem Land auf den Namen Paolo hören.
L’alba, der Ausdruck dafür, was als Einziges unser Band zu zerschneiden vermag, das Morgengrauen, das uns aus unserem Zwillingsgefühl reißen, und dessen hartes Licht uns jeweils in die Einzelhaftigkeit entlassen wird. Ach, wie liebe ich dein ansatzloses Auflachen, während ich dir die Doppeldeutigkeit der deutschen Übersetzung erkläre, dieses Lachen, das meine Kamera als letzte Aufnahme zur Unvergesslichkeit dieses Abends stempeln wird – mit einem letzten unvergesslichen Klick.
Harald Schoder
derewigreisende.net
www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 18114