But something whispers to my mind … Emily Brontë (1818-1848) zum 200sten Geburtstag am 30. Juli

Es sind wohl für eine «gerechte» Beurteilung keine guten Voraussetzungen, wenn man – oder besser, hier: frau – gerade einmal 30 Jahre lebt und nur einen großen Roman hinterlässt. (Wobei es, gemäß Verlegerbrief, ein knapp beendetes zweites Manuskript gab, das jedoch nie aufgefunden wurde.) Bekannt ist überdies ein 1846 gedruckter Sammelband unter dem (männlichen) Pseudonym Currer, Ellis, and Acton Bell mit Gedichten auch zweier Schwestern, die eine älter, die andere jünger.

Die drei Brontë-Schwestern empfanden sich mit dem vorwiegend malenden Bruder nicht zuletzt durch die äußeren Lebensumstände – von den identischen Verhältnissen im elterlichen Pfarrhaus im Norden Englands (Yorkshire) mit einem ebenfalls als Verfasser tätigen Reverend-Vater und einer einfühlsamen Tante als Mutterersatz über eine lang anhaltende, an Holzfiguren sich entzündende Phantasiewelt bis zum Sitzen für (Gruppen-)Bildnisse – zumindest bis nach der Pubertät als eine enge Gemeinschaft. So wie, stets aufs Neue herausgearbeitet, dies Gemeinsame auch späterhin in ihren literarischen Werken im Vordergrund gestanden haben soll.

Was sich aber, sieht oder besser: liest man genauer hin, inhaltlich als etwas arg summarisch und, nimmt man einige Äußerungen (gerade der ältesten über die mittlere, eben Emily) hinzu, durchaus als etwas arg eingeschränkt herausstellt. Gleichwohl blieb inklusive des frühen, rasch aufeinander folgenden Ablebens fast aller Geschwister reichlich Stoff für mehr oder minder einfühlsame Hypothesen, die nicht zuletzt zwischen 1943 und 2016 in phantasievollen Filmen einen Niederschlag fanden, und an mehr oder minder gehaltvollen Thesen, deren Wahrheitsgehalt offen, wenn nicht fragwürdig bleibt. Noch bewunderte Virginia Woolf die Leistungen, die aus nicht mehr Lebenserfahrung entstanden, als das Haus eines achtbaren Geistlichen betreten durfte. Solchen Standpunkten lässt sich auch dank wachsendem Dokumentationsmaterial widersprechen, in diesem Fall etwa, indem sich eine erhebliche Bildung außer Haus und der Auslandsaufenthalt in einem Erziehungsheim in Brüssel mit nachfolgendem Plan einer eigenen Schule festhalten lässt.

Besonders bekannt wurden, bei uns, zwei ihrer Bücher, Jane Eyre von Charlotte und Wuthering Heights von Emily, jeweils eine Mischung aus frühromantischer Empfindung und gesellschaftlicher Realistik. Bei Wuthering Heights, 1847 wieder als von Ellis Bell verfasst und erst posthum 1850 unter eigenem Namen herausgegeben, in mehrfacher deutscher Übersetzung als (Die) Sturmhöhe erschienen, ist der Titel trotz der Bezeichnung eines zentralen Ansitzes Programmansage: Es geht zutiefst um leidenschaftliche Gefühle und ihre nicht ausbleibenden Auswirkungen. Ein Mitglied der Gentry bringt von einer Reise ein Waisenkind mit, das trotz ungebärdigen Wesens zum bevorzugten Sohn wird, in den sich, vollkommen erwidert, die Tochter des Hauses vernarrt. Was in der Familie zu erheblichem Missvergnügen und, nach des Oberhaupts Tod, zu starken Gegenmaßnahmen, zur Trennung und zur bitteren indes örtlich nahen Verheiratung von Catherine führt.
Das Unglück nimmt seinen Lauf, als der Findling Heathcliff nach einigen Jahren als gemachter Mann zurückkehrt und sich nun in schockierender Weise als Rabauke ohne Manieren manisch-obsessiv dem finanziellen und menschlichen Ruin aller vor Ort Verbliebenen widmet, in den er die nachfolgende Generation mit einbezieht. Nach dem Triumph im allseitigen Elend lebt er nur noch im Bann seiner heißen, bereits bald verstorbenen Liebe bis hin in den Untergang im (shakespearehaften) Wahn. Was jedoch ein knapp geschildertes, deshalb umso überraschenderes glückliches Ende in dem allein überlebenden jungen Paar ermöglicht.
Berichtet wird, in schriftstellerischer Hinsicht zugleich spannend wie bewunderungswürdig, aus einer zweifachen Perspektive: einer Rahmengeschichte und der sämtliche Ereignisse abhandelnden Erzählung durch die Haushälterin, infolge der mehrfach in die Gegenwart mündenden Erinnerung trotz der (scheinbaren) Kontinuität eine vielfache Verschränkung von Personen, Ereignissen, Reaktionen und feinnervig durchleuchteten Beweggründen.

Zu diesem Roman gehört unbedingt die Rezeptionsgeschichte dazu, weil sie seinen Wert mitbestimmt. Da sind die Zeitgenossen, die zwischen Faszination und Bedenken schwanken; der Mode entsprechende, starke, die gesamte Handlung bestimmende und sensitiv entfaltete Gefühle stehen dem Herausarbeiten einer in ihrem Wirken geradezu abstoßenden, wie die Kritik monierte, amoralischen Hauptperson mit vielfältig konkretisiertem negativen Heldengestus gegenüber. Kritische Äußerungen Charlottes – die die Schwester als eigensinnig bis leicht tyrannisch (bzw. a solitude-loving raven, no gentle dove) beschrieb – führten gemeinsam mit dem Blick auf die zweifellos in das Geschehen unmittelbar miteinbezogene autobiographische Landschaft, einer feuchten stürmisch-windigen Moorgegend, zu die Mystifizierung nur anheizenden Versuchen, des Romans Hauptfigur mit der Autorin enger zu verbinden.

Die Gewalt der sich allein am Fortgang der Geschichte ausrichtenden psychologischen Studie, in der theoretisierende Erklärungen fehlen, allenfalls dann und wann durch leicht altklug anmutende Bemerkungen ersetzt, blieb in der kompromisslosen Darstellung erst späteren Lesern zugänglich. Sodass der Roman schließlich als eines der wichtigsten literarischen Zeugnisse der vorviktorianischen Epoche, gar als Teil der englischen «Klassik» bewertet wurde und wird.

Die feministischen Würdigungen konnten – vor dem Hintergrund einer weiteren schwesterlichen Charakterisierung, die Emily stärker als ein Mann, einfacher als ein Kind empfand – nicht ausbleiben; noch einmal Virginia Woolf: Nur Jane Austen und (…) Emily Brontë (…) schrieben wie Frauen schreiben, nicht wie Männer schreiben, (…) setzen nur sie allein sich völlig über die unaufhörlichen Ermahnungen des ewigen Pädagogen hinweg – schreibe dies, denke jenes. (…) Man muß etwas von einer Aufrührerin haben, um sich zu sagen: (…) Die Literatur steht allen offen. Nicht zuletzt von dieser Warte aus folgten über die Jahrzehnte – bis hin zu Elfriede Jelinek – mehr oder minder freie Adaptionen des Stoffs und wiederum zahlreiche Verfilmungen, zuletzt in Irland 2011 durch die Regisseurin Andrea Arnold, und zusätzlich der Song von Kate Bush 1978 mit mindestens sechs späteren Adaptionen.

Versuchen wir bei all diesen Transkriptionen, Umformungen, Umwandlungen uns aufgrund einiger Porträts durch ihren Bruder ein Bild Emilys aus anderer Perspektive zu machen. Da ist die häufige abgebildete, traditionelle Büste im Profil: ein schmales Gesicht mit auffallend hoher Stirn, geradlinig langer, keineswegs überlanger Nase, abgesetztem schmallippigen Mund, weich zum Hals überleitendem Kinn, das volle dunkle Haar kompakt auf die rasch sich senkenden Schultern herabfallend – und, im weißlichen, nur stellenweise «Farbe» annehmenden Inkarnat-Ton des Pastells speziell auffallend die dunkelbraunen Augen unter geraden kurzen Brauen, insbesondere Träger des Ausdrucks: in die Welt blickend, studierend-nachdenklich und zugleich ebenso stark auf das Innere der Person bezogen. Ein früheres Bild, zusammen mit den Schwestern, erfasst, fast frontal, eher mädchenhafte Züge, die «halbe» Strenge verliert sich, der Mund wirkt weicher und der Augenausdruck heller, die etwas größer angegebene Figur bleibt schmal, wodurch, wenn Emily in einem dritten Beispiel ein Buch mit langgliedrigen Händen vor die Brust hält, die Kontur fast silhouettenhaft geschlossen wirkt.

Auch wenn, im deutschsprachigen Raum, der eine, jedoch umwälzende Roman sicherlich die Bedeutung Emily Brontës «ausmacht», erscheinen ihr literarisches Gewicht und ihr literarischer Verdienst in den angloamerikanischen Ländern mindestens gleich groß bezüglich ihrer Gedichte, die, sehe ich es richtig, bei nur wenigen Übersetzungen hierzulande eher unbekannt blieben. 74 an der Zahl, naturgemäß in verschiedener Kürze oder Länge, schrieb man ihr zu, ein sehr respektables Opus also, partiell bis 1850 von Charlotte, 1908 als Gesamtedition herausgegeben.
Emily empfand sehr stark ihre inspiration, für sie eine die Phantasie übersteigende Vorstellungskraft, die sie sogar personalisiert zu sehen vermochte. Der Inhalt der Poems orientiert sich erneut oft an der heimatlichen landschaftlichen Umgebung: I know not how it falls on me, / This summer evening, hushed and lone; / Yet the faint wind comes soothingly / With something of an olden tone. Hochsensibel erfasste Stimmungen rufen auf zu Meditationen über das Leben, in denen die Lyrikerin insbesondere die Endlichkeit besingt. It will not shine again: / Its sad course is done; / I have seen the last ray wane / Of the cold, bright sun. Sie ist stets präsent wie – auch – die Romanfiguren früh, was heißt etwa im eigenen Alter der Autorin, die Erde wieder verlassen.

Was macht das (mein) Dasein aus? Emily Brontë gibt in ihrer Biografie und in ihrem Werk eine überraschend(e) klare Antwort: Der Wert besteht darin, das jeweils individuelle Leben in seinem singulären Lauf anzunehmen. Damit ist kein Laissez-faire, kein simples Es-drauf-ankommen-Lassen gemeint, sondern ein Akzeptieren, was «es» mit sich bringt und dieses «es» nicht nur ernst zu nehmen, sondern in der Annahme voll auszuloten, mehr noch: ein volles Auskosten.
In dieser Fülle relativiert sich die Zeit: Nicht ein möglichst langes Leben (wie heute häufig bis hin zu den Anti-Aging-Versprechen) ist anzustreben, sondern ein zutiefst, genauer: in der Tiefe erfülltes Leben. There is not room for Death / Nor atom that his might could render void / Since thou art Being and Breath / And what thou art may never be destroyed. Erfüllt bedeutet dabei buchstäblich in der gesamten Bandbreite, die es bereithält, in der wach erlebten Spannweite von innen und außen, von Himmel und Erde, von Gefühlen und Realität(en). Dazu gehört Mut: No Coward Soul is Mine, heißt der Anfang ihres wohl letzten Gedichts.

Just in den Tagen, in denen dieser Essay entstand, macht eine neue Studie in Fachkreisen Aufsehen, die dank vieler Belege mit der These aufräumt, die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit sei mit dem Alter von 30 Jahren abgeschlossen. Wenn sich die nunmehr (gemäß Poppers Methodik) falsifizierte These gleichwohl bis dato als gültig «hielt», wirft das immerhin ein, wenn man will: sehr positives, Schlaglicht auf Emilys Erdenleben, zu dessen Länge auch diejenige anderer Künstler (allen voran Schubert mit knapp 32 Jahren) hinzugedacht werden muss. Und, rufe ich mir die zahlreichen Äußerungen von und über Emily auf, zeigt sich das eindeutige Bild eines Menschen mit hohem Selbstbewusstsein, genauer: einer Frau, die sich in beeindruckendem Maß des eigen-artigen Selbst bewusst war. Das gilt ungebrochen bis zu ihren letzten Tagen, als eine Krankheit ausbricht, die mit der Verunreinigung des Wassers in unmittelbarer Friedhofsnähe in Verbindung gebracht oder/und als Tuberkulose diagnostiziert wurde.

Entscheidend bleibt Emilys Verweigerung von Arzt und Medizin. In diesem Sinn lautet die erste Strophe des genannten Gedichts: No Coward Soul is Mine / No trembler in the world's storm-troubled sphere / I see Heaven's glories shine / And Faith shines equal arming me from Fear … Und nicht von ungefähr wünschte sich die große amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson diese Zeilen bei ihrer Beerdigung 1886, ebenfalls ein Hinweis auf die starke Wirkung, die bis heute anhält: Das Pfarrhaus in Haworth ist ein aus aller Welt vielbesuchtes Museum der Brontë-Schwestern.

(Verwendet wurden Die Sturmhöhe, übersetzt von Grete Rambach, Frankfurt/Main 1975 insel tb 141 und verschiedene Gedichteditionen, auch im Internet verfügbar. Die Zitate Virginia Woolfs stammen aus: Ein eigenes Zimmer, übersetzt von Heidi Zernig, Fischer tb 50906, Frankfurt/Main 2005, S. 70 und 74/75; das engl. Original 1929.)

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 18119

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