Ruhig Blut, Lucy, meine geliebte Kamera, du verbrennst ja mir beinah die Hand, so wie du vor Neugier glühst; auch ich kann es kaum erwarten, nach einem langen Jahr wieder in die Altstadt von Genua abzutauchen, meiner Gegenstadt zu Wien, aber lass mich meinen morgendlichen Cappuccino in Ruhe fertig trinken, schätzt du es doch, mit gelassener Hand geführt zu werden. Und lass mich noch etwas mit dem alternden Transvestiten mit feuerrotem Haar und seinem gewinnenden Lächeln schwatzen, der diese Bar führt, hat er doch meinen Kaffee so liebevoll mit Kakaopuder bestäubt. Besser soll das Wetter demnach werden, aufklaren soll es im Laufe des Vormittags, also gute Nachrichten für dich und dein klares Auge, Lucy.
Selten, nur selten gelingt er einem, der perfekte Schuss, vollendet in Farbe und Belichtung, und mit Senken der Kamera umspielt ein Lächeln der Gewissheit einem die Lippen, dass dieses Bild keiner Nachbearbeitung bedarf, im Gegenteil, seinen Zauber würde ihm all das virtuelle Pixelschieben rauben. Wie auch in diesem Fall, der Hausfassade mit den hervorstehenden Fratzen, ihr höhnisches Gelächter würde verschallen und der beißende Spott in ihren Augen würde erlöschen, den diese Teufelchen für die Passanten unter sich übrighaben, denn in der Gewissheit treiben sie ihren Schabernack, jeden einzelnen in der Hölle wiederzutreffen.
Schwärzer als letztes Jahr scheint mir mein Genua geworden zu sein, noch mehr Afrikaner beleben die alten Viertel, mein Gefühl, denn auch an ihren Rändern sind sie mittlerweile unverrückbares Bild der Straßen. Und bestätigt wird mir dieses Gefühl, als ich auf drei afrikanische Mädchen im Stiegenhaus des ansonsten herrschaftlichen Palazzos meiner Unterkunft treffe, von denen zwei der dritten mit aller Sorgsamkeit das Haar flechten, während der Ghettoblaster zu ihren Füßen Lieder aus ihrer fernen Heimat weint. Mein freundlich gesinntes buon giorno scheint sie noch mehr zu verschrecken als die üblichen Drohungen und Beleidigungen, die sie wahrscheinlich täglich über sich ergehen lassen, aber als im zweiten Blickkontakt misstrauische Neugier in ihren Augen aufblitzt, bin ich an meine tägliche Fahrt mit der Wiener U6 erinnert, in der Deutsch mittlerweile den Minderheitensprachen angehört, und wohlig stellt sich in mir das bekannt heimatliche Gefühl ein, Ausländer unter den Ausländern zu sein.
Und ihr Gesicht zeigt die Altstadt zur Abendstunde, wenn in einer Gassenecke übergewichtige Hafenhuren sich die Füße platt stehen und keine zwei Meter nebenan sorgsame Mütter ihren aufstrebenden Nachwuchs in die Buchhandlung zur Kinderbuchlesung führen. Bebrilltes intellektuelles Bürgertum kann ich durch die Schaufenster im Vortragsraum erkennen, und auch den schrulligen Vermieter meiner Unterkunft mache ich in dieser Gruppe aus, Ausgaben der lotta communista versucht er an den Mann zu bringen, einer Zeitschrift, die in mir die Nostalgie weckt, fünfzig Jahre zu spät erschienen zu sein. Und verstärkt wird diese Nostalgie mit jedem meiner Atemzüge, denn in der Luft liegt der allzu bekannte Geruch einer Kräuterzigarette, die zwei an der Hauswand lehnende Asiaten zwischen sich hin- und herwandern lassen, hier in aller Öffentlichkeit ohne Scheu vor allfälliger Obrigkeit.
Und allmählich lerne ich, dieses für eine andere Stadt undenkbare Kaleidoskop des absurd unterschiedlichen Nebeneinanders selbstverständlich zu finden, mich selbst als Teil dessen zu fühlen in dieser erzwungenen Dichtheit des Zusammenlebens in den tiefen Gassen der Altstadt von Genua, in der jeder unablässig ein Auge auf jeden wirft. Und ich glaube damit eine Erklärung gefunden zu haben, weshalb hier alle Rassen- und Klassenkämpfe im Ansatz erstickt sind und weshalb er nicht ausbricht, der eigentlich in den nächsten fünf Minuten zu erwartende Bürgerkrieg …
Harald Schoder
derewigreisende.net
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