Obwohl die fünftgrößte der Adria-Inseln, ist Pag ähnlich unbekannt wie die Rückseite des Mondes. Und so schaut sie auch aus. Und wenn berühmt, dann nicht für ihren Reichtum, sondern für ihre Kargheit. Und diese karge Schönheit muss man auch noch suchen.
Oder man hat Glück, und sie überfällt einen. Der Mai dieses Jahres machte es mir nicht schwer.
Der Weltuntergang hat hier schon vor langer Zeit stattgefunden, die Abholzung der Bäume für die römischen Galeeren und in Folge das Verschwinden der gesamten Vegetation. Das lässt den Großteil der Insel Pag seit 2000 Jahren wie eine Marslandschaft aussehen. Apokalypse heißt ja auch „Enthüllung“ (hab ich gegoogelt), und enthüllter kann eine Erdoberfläche nicht sein. Aber doch nicht ganz. Ihr nordwestlicher Zipfel mit dichten Steineichenwäldern und den ältesten wilden Olivenbäumen der Welt überrascht und versetzt einen dann in einen Olivenbaum-Wahn. Die wilden Oliven – diesen Unterschied muss man machen, denn die ältesten kultivierten wachsen auf Kreta. Sorry, Pag.
Auf den Hügeln hinter dem kleinen Hafendörfchen Lun erstrecken sich in lichten Wäldern die alten Baumriesen, die die Bewohner seit Generationen veredeln. Knorrig, vielfach in sich selbst verdreht und gewunden, manchmal wie Drachen am Boden geduckt, in alle Richtungen gestreckt und gequält wie Christusse am Kreuz, nehmen sie die Steine in ihre Stämme auf und leben in Harmonie mit ihnen. Offenbar bekommen sie etwas von ihnen. Ihre Früchte trotzen sie dem steinigen Boden ab und kämpfen Jahr für Jahr mit den Stürmen der Bora und des Scirocco, hier Jugo genannt. Auch in der gnadenlosesten Sonne harren sie aus, nichts anderes gewöhnt, die heiteren, silbergrauen Wächter des Paradieses, selig in ihrer Wildnis, von nichts umgeben als von Licht, Luft, Feld und Meer. Schafe, unsichtbar irgendwo hinter Natursteinmauern. In Gigantenarbeit graben die Inselbewohner die Felsblöcke aus der Erde, türmen sie auf und schaffen Reihen von Unendlichkeiten, mäandernde Traumlinien in Weiß, Grau und Rosa durch die Landschaft, dazwischen knallt sich baumhoher, goldgelber Ginster hinein.
Natürlich gedeihen die Oliven auch wegen der Liebe und wegen dem Stolz ihrer Besitzer. So einer ist Edo, unser Gastgeber und jetzt unser Führer.
Mit Ante Gotovina will er nichts zu tun haben. Er schüttelt unwillig den Kopf und macht eine wegwerfende Handbewegung, als ich auf das Denkmal hinweise. Unter einem 1600 Jahre alten Ölbaum haben Kameraden dem verurteilten Kriegsverbrecher des „vaterländischen Krieges in ewiger Liebe und Dankbarkeit“ einen Stein gesetzt.
Weiter oben sitzen wir dann unter dem ältesten mit 2000 Jahren, lange schweigend. Es sind auch einige Baum-Umarmer-Leute dabei.
In keiner Mythologie, in keinem Epos ist von Pag die Rede. Keine Helden sind hier gestrandet, keine Göttinnen an Land gestiegen oder in den Hades gefahren, keine Schlachten wurden geschlagen, es gibt keine Höhlen mit Riesen, auch keine schönen Mädchen am Strand, die die müden Krieger verzaubern oder laben. Auch ist nichts bekannt von Tempeln und Klöstern, in denen weise Männer Visionen hatten und aufschrieben, über die die Menschheit jetzt noch rätselt. Pag ist einfach nie ein Thema in der Weltgeschichte gewesen. Und in der Geografie nur ein unscheinbarer Steinhaufen. Ein zorniger Gott hat seinen Schlatz über diesem Meer hinterlassen, und er wurde zur Insel Pag. In Griechenland habe ich einmal die Geschichte des Schöpfungsmythos gehört, der auch auf diese Adria-Insel zutreffen könnte: Sie sind bei der Länderverteilung zu spät gekommen, da sagte Gott, er hat nur noch ein paar Gebirge und Felseninseln zu vergeben. Aber er schenkt ihnen den Olivenbaum, wenn sie ihn gut behandelten, würden sie nie Mangel leiden.
Noch eine andere Pager Delikatesse verdankt sich der Kargheit, der Schafkäse. Außer im kurzen Frühjahr gibt es kaum grünes Gras, die Tiere ernähren sich hauptsächlich von Strohblumen und Disteln, von Minze, Salbei und Thymian, was den Paski sir so besonders würzig macht. Wenn sie können, knabbern sie auch an Feigenbäumen, Steineichen und Rosen. Wahrscheinlich ist es genauso bei den Schweinen, die den köstlichen Paski prsut, den Pager Schinken, hergeben. Was Schafe und Schweine vielleicht nicht so wahrnehmen wie wir (aber wer weiß das schon so genau?), sind die Gerüche, die von diesen bescheidenen Felsenhaufen ausgehen.
Pag ist eine Duftinsel. Ich gehe die Straße hinunter zum Hafen unter Palmen, Feigenbäumen und Oleander, neben mir eine Hecke aus Rosmarin, höher als ich und dick wie ein Autobus, wuchert sie aus dem Zaun heraus, weiter ein Wäldchen aus hochgewachsenen Ginster- und Lavendelbüschen, ausladend wie Palmenkronen. Das sind nur die sichtbar auffälligsten, aber die vielen ebenso stark duftenden Kräuter und Gräser kann ich nicht beim Namen nennen. Wenn wir am frühen Morgen und am Abend von unseren Übungen zurückkommen, umgibt einen die Luft wie eine Geruchssymphonie, die einhüllt wie ein weicher, wohliger Mantel. Sie schmeichelt und streichelt so zärtlich, dass man sie umarmen und esstrinken möchte. Die Möwen mit ihrem Kampfgeschrei sind immer da.
Auch der dritte Reichtum wird der Natur nur mit Mühe entzogen – das Meersalz in den Salinen von Pag. An manchen Stellen ist die Insel so schmal, dass man glaubt, mit der Hand einmal auf dieser, einmal auf der anderen Seite eintauchen zu können. Überall sieht man übers Meer hinweg. Jenseits des tiefblauen Wassers fallen die schroffen Felswände des Velebit-Gebirges in einer Fülle von wechselnden Farben und Formen in die Fluten. Und auf der anderen Seite, zur offenen Adria hin, reihen sich Inseln an Inselchen, Vorgebirge an Halbinseln und große an kleine Buchten. Manche Landnadeln ragen so schmal und spitz ins Meer hinaus, dass man sich wundert, warum dort keine Schiffe und Segelboote aufgespießt sind wie Schaschlik.
Auf das Festland hinter dem Velebit schaue ich anfangs nur mit Scheu hinüber und schnell wieder weg. Mit Schaudern kommt die Zeit vor 25 Jahren zurück, als dort der jugoslawische Bruderkrieg tobte und ich dabei war. Die Linie von Karlobag bis Karlovac erobern, hieß damals die großserbische Losung. Bei der Bezirkshauptstadt Gospic lag ich anstatt an Adria-Stränden in kroatischen Schützengräben. Die Naturwunder der Plitwitzer Seen waren heftig umkämpft und vier Jahre lang von serbischem Militär besetzt. Als die kroatische Propaganda verbreitete, die barbarischen Tschetniks hätten angeblich den Nationalpark geflutet, zerstört, kämpfte ich mich dorthin durch, um festzustellen, dass das eben nur, wie vermutet, politische Gräuelpropaganda war. Für die Natur ein Glücksfall: Nie konnte sie sich so gut erholen, als damals, als die Touristenpestilenz ausblieb. Nie hab ich eine köstlichere Forelle gegessen, die mir ein illegaler Fischer zugesteckt hatte.
Und um den Vergleich auf die Spitze zu treiben, lassen sich noch die Pager Spitzen anführen. Die Inselfrauen zaubern aus einem dünnen Zwirnsfaden und sonst nichts außer Luft in den langen Wintermonaten Kunstwerke hervor. Die Touristen kaufen die Spitzendeckerl im Sommer gerne und legen sie dann im nördlichen Eigenheim unter ihre mickrigen Gummibäume und Philodendren.
Edo erzählt, dass auf den Inseln kein einziger Schuss gefallen ist, und trotzdem brauchten sie 15 Jahre, um sich zu erholen.
Erinnern, gedenken, nicht vergessen. Noch früher – aber gar nicht so lange her – war Pag die Hölle auf Erden: Das faschistische Ustasha-Regime ließ hier das KZ Slana anlegen und ermordete zwischen Juni und August 1941 tausende Menschen – Serben, Juden, Bulgaren, Armenier, Roma, Sinti und regimekritische Kroaten, Kommunisten und Agrarier. Das Nebenlager Metanja wurde extra für Frauen und Kinder errichtet. Sie ließen sie in den Saline-Feldern verrotten, warfen sie in Bergwerksschächte oder schlachteten sie einfach ab. Die Strände der neuen Party-Destination Novalija sollen meterhoch mit Leichen übersät gewesen sein. Die italienischen Besatzer waren so entsetzt, dass sie die KZs schlossen. Die kroatischen Ustasha-Schergen ließen sie aber zusammen mit ihren Opfern abziehen, die fast alle im innerkroatischen KZ Jasenowac ermordet wurden.
Man sieht es sofort, wenn man ankommt: Diese Insel ist eine Bezwingerin, Überwinderin, Überlebenskünstlerin. Sie hat nichts. Nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag von berühmten Söhnen und Töchtern. Sie hat keine berühmte Zauberin aufzubieten, sie ist selbst eine. Sie macht aus dem Mangel eine Fülle, aus Wirrnis Ordnung, aus Eintönigkeit Abwechslung, aus Einfachheit Komplexität, als wäre sie die Inkarnation der dialektischen Philosophie.
Der Mangel schärft die Sinne und macht empfänglich für alles, was möglich ist. Weckt das Schlummernde auf und befördert es ins Leben.
Das müssen die Entdecker und Erfinder der Pager Woche unmittelbar gefühlt haben, als sie sich hier niederließen und ihnen Gleichgesinnte seither freudig folgen. Vom Gefühl zur Erkenntnis und zur Tat, dass Qigong, Taiji und Shaolin besonders gut hierher passen, in eine Abstraktion von Natur, wie das Bild einer chinesischen Steinabreibung. Die Umwandlung von Energien in etwas Neues, Besseres, Reicheres.
Diese Insel strickt wie im Märchen aus leer gedroschenem Stroh Gold. Das macht demütig und dankbar.
Wien, 8.6.2018
Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/
Erstveröffentlichung: Der Standard, 14.7.18, Album, S. A4/5
unter dem Titel: "Eine Insel als Überlebenskünstlerin"
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