„Auf einer Skala von 1 bis 10, als wie seltsam würden Sie sich einschätzen?“, fragt die Beamtin in der Amtsstube. „10 ist am höchsten“, setzt sie nach. „Ich würde mir eine Vier geben“, sagt der Mann mittleren Alters. „Na, dann lassen Sie mal hören, was Sie so tun!“, fordert ihn die Beamtin auf. „Wissen Sie, es ist nämlich so“, beginnt der Mann ein wenig vorsichtig, „dass ich fliegen kann. Ich bin ein Vogel, ein Star. Wer, während ich in der Luft bin, auf dem Boden verbleibt, ist nur ein Automat, der funktioniert, wie er funktionieren soll, aber nicht mehr.“
Er blickt auf den Wandkalender, dann fährt er fort: „Wir haben heute den 7. Februar, in Wirklichkeit bin ich ja noch in Südafrika. Vor Ihnen sitzt bloß jener Automat, der Alfred Binder heißt.“ „Gut, Herr Binder, ich denke, ich werde Sie sogar auf eine Fünf hochstufen“, sagt die Beamtin, „was meinen Sie dazu?“ „Alfred Binder, Alfred Binder, Alfred Binder“, sagt die Figur, die kerzengerade vor ihr sitzt, „Alfred Binder, Alfred Binder, Alfred Binder.“ Aus ihren Augen strahlt gebündeltes Licht.
„Huch“, sagt die Beamtin. „Danke für den Besuch, Herr Binder, Sie können jetzt gehen.“ Nachdem die Figur weiterhin „Alfred Binder“ vor sich hinspricht und sie mit ihren Augen anleuchtet, ruft die Beamtin den Sicherheitsdienst. Zwei Uniformierte erscheinen und tragen Alfred Binder hinaus. Ein interessanter Fall, überlegt sie, Herr Doktor Krinkenmöller wird sich freuen. Dieser Herr Binder kann natürlich an einer zerrütteten Persönlichkeit leiden, aber vielleicht stimmt, was er behauptet, dass seine menschliche Gestalt tatsächlich nur ein Automat sei und er wirklich ein Vogel. Man kann nie wissen, man kann nie wissen, denkt die Beamtin, je länger ich diese Tätigkeit ausübe, desto weniger sicher bin ich mir, was der Wirklichkeit entspricht. Sie füllt das Formular fertig aus. „Ein satter Fünfer“, sagt sie sich, „das ist schon einmal gut.“ Doch weil sie sich nicht sicher ist, setzt sie ein Fragezeichen in Klammern neben die Ziffer. Dann legt sie das Formular in das rote Fach mit der Aufschrift „Weird aktuell“.
Jetzt klopft es an die Tür. „Herein!“, ruft die Beamtin. Eine schmale Frau, zirka Mitte dreißig, tritt etwas zögerlich ein. „Nehmen Sie bitte Platz, Frau ..?“ „Bittmann“, sagte die schmale Frau, die aschblonde kurze Haare hat und blaue Augen. „Frau Bittmann, ja“, sagt die Beamtin, „und der Vorname?“ „Kerstin“, sagt die Frau. Für sich nennt die Beamtin sie Mausfrau, Kerstin Mausfrau. Sie legt ein neues Formular vor sich und beschriftet es mit dem Datum und „Kerstin Bittmann“.
„Was haben Sie anzubieten, Frau Bittmann?“, fragt die Beamtin. „Anzubieten?“ „Ja, Frau Bittmann, Sie wissen ja, wir untersuchen hier Menschen, die Phänomene hervorrufen können, Zustände, die landläufig als nicht normal bezeichnet werden würden. Sie sagten mir telefonisch, Sie wären ein derartiger Mensch. Also, auf der Seltsamkeitsskala von 1 bis 10, 10 ist das Maximum, wo würden Sie sich einreihen, und was beherrschen Sie?“ „Ich würde mich in der Mitte sehen, demnach auf Fünf“, sagt Frau Bittmann. „Meine spezielle Fähigkeit besteht darin, dass ich mich unsichtbar machen kann, wenn ich will.“ „Gut, Frau Bittmann, dann zeigen Sie das mal!“, fordert die Beamtin sie auf. Plötzlich ist der Stuhl vor ihr leer.
„Umwerfend“, sagt sie, „das ist toll! Sie können sich mit allem, was Sie an sich tragen, unsichtbar machen, wie ich sehe, beziehungsweise eben nicht sehe“, stellt die Beamtin fest. „So ist es“, erklingt die nun ziemlich feste Stimme von Frau Bittmann. „Sie können jetzt zurückkommen“, sagt die Beamtin. Und Frau Bittmann zeigt sich wieder, auf dem Stuhl sitzend. Sie lächelt leicht. „Sehr beeindruckend, wirklich!“, lobt sie die Beamtin.
Kurz denkt sie nach. Verwenden nicht Illusionisten Spiegel, um eine Person scheinbar unsichtbar zu machen? „Sagen Sie, Frau Bittmann, haben Sie technische Hilfsmittel verwendet?“, fragt die Beamtin. Jetzt ist der Stuhl vor ihr wieder leer, einige Sekunden später sitzt Frau Bittmann wieder vor ihr. „Nein“, sagt sie. „Können Sie sich immer unsichtbar machen, wenn Sie wollen?“, fragt die Beamtin. „Grundsätzlich schon“, sagt Frau Bittmann, „außer wenn ich schwer krank bin.“ „Das ist sehr aufschlussreich“, sagt die Beamtin. „Ich stufe Sie, vorsichtig betrachtet sogar, auf eine Sechs ein.“
Sie notiert diese Zahl im Formular. „Wow!“, sagt Frau Bittmann. „Ja, das kann man so nennen“, sagt die Beamtin. „Wir sind jetzt fertig. Danke, dass Sie hier waren, Frau Bittmann.“ „Es hat mich sehr gefreut“, sagt Frau Bittmann.
Sie steht auf, verschwindet, man hört ihre Schritte, die Bürotür öffnet und schließt sich. Die Beamtin füllt das Formular fertig aus und legt es in das rote Fach mit der Aufschrift „Weird aktuell“. Ein Sechser, super wirklich!, überlegt sie, bislang der erste. Herr Doktor Krinkenmöller wird begeistert sein.
„So, ich werde jetzt schnell einmal eine Pause einlegen“, sagt die Beamtin zu sich selbst. Sie verlässt ihr Büro, sperrt mit dem Schlüssel ab und dreht das Schild an der Tür um, auf dem jetzt „Nicht besetzt“ steht. Draußen sitzt ein dünner junger Mann mit schulterlangen Haaren. Er sieht die Beamtin an. „Wollen Sie zu mir?“, fragt sie. „Ja, genau“, erwidert er. „Bitte gedulden Sie sich noch ein wenig. Ich bin in spätestens einer Viertelstunde zurück“, sagt die Beamtin. „Kein Problem“, sagt der junge Mann lässig. Sie holt sich vom Kaffeautomaten einen Cappuccino im Plastikbecher um 50 Cent und geht ins Freie, lehnt sich dort gegen das Aluminiumgeländer und zündet sich eine Zigarette an. Das tut gut, denkt sie, der einzige Vorteil, den das Rauchen hat, ist ja der, dass, wenn man Pause macht und eine Zigarette raucht, man dadurch wirklich merkt, dass man Pause hat. Leider lässt es aber auch meine Haut altern und pergamentartig wirken. Ich sehe wohl nicht jünger als, als ich bin.
Ihr Kollege Walter Kohlweg kommt auf sie zu, ebenso mit einer glimmenden Zigarette, die aber soeben erst angezündet wurde. „Hallo Elena“, sagt er. „Hallo Walter“, sagt sie. „Frau Elena Weber“ steht auf ihrer Bürotür, das ist ihr Name. „Elena, bist du‘s wirklich?“, fragt er. „Ja klar“, sagt sie, „ich bin aus Fleisch und Blut.“ Sie tapst auf seine linke Hand. „Du hast das gespürt, ja?“, fährt sie fort, „das bin ich.“ „Aber Elena, ich verstehe das nicht“, sagt ihr Kollege, „ich war gerade in deinem Büro, um eine Akte zu holen, die bei dir liegt. Du bist an deinem Schreibtisch gesessen, dann bist du aufgestanden und hast sie mir herausgesucht. Schau, hier ist sie.“
Er deutet auf die rote Akte in seiner linken Hand. „Nicht logisch zu erklärende Vorfälle, Teil 1“, steht auf ihr. „Das kann nicht sein, Walter“, sagt die Beamtin, „erstens habe ich die Tür von außen zugesperrt, und zweitens bin ich hier, wie du siehst.“ „Du hast die Tür zu deinem Büro zugesperrt?“, fragt ihr Kollege. „Ja, mit einem Schlüssel, schau, mit diesem hier“, sie fischt ihn aus ihrer Jackentasche. „Da stimmt etwas nicht, da stimmt etwas ganz und gar nicht, Elena. Sag, fühlst du dich gesund“, fragt Walter. „Ja natürlich, ich bin topfit. Was soll nicht stimmen, Walter?“, fragt sie. „Unsere Bürotüren werden nicht mit einem Schlüssel versperrt. Sie fallen im Türrahmen ins Schloss und bleiben zu. Geöffnet werden sie über eine Kamera, welche die Iris scannt. Wir sind schließlich ein fortschrittliches Institut“, erklärt Walter. „Oh“, sagt die Beamtin.
Sie ist verwirrt, aber gleich fängt sie sich wieder. „Das kann nicht sein“, sagt sie. „Doch es ist so“, sagt ihr Kollege, „vielleicht hast du heute nur einen schlechten Tag. Der Schlüssel ist wahrscheinlich für eine Tür bei dir zuhause. Du wirst es ja sehr bald selbst sehen, wenn du nämlich vor deiner Bürotür stehst. Aber das ist ja noch das weit Geringere, Elena, das andere ist, dass es dich doppelt gibt. Ich habe dich in deinem Büro und eineinhalb Minuten später hier draußen gesehen. Deine Zigarette brennt aber bestimmt schon seit mindestens drei Minuten. Ich irre mich ganz bestimmt nicht.“ „Das ist völlig unmöglich“, sagt die Beamtin. Walter hat doch früher ein heftiges Alkoholproblem gehabt, wenn ich mich recht erinnere, denkt sie. Jetzt hat er zwar keine Fahne, aber vielleicht trinkt er Industriealkohol mit Fruchtsaft vermischt, der ist geruchslos, Walter sieht sie skeptisch an. „Schau nicht so!“, würde sie am liebsten sagen, aber sie lässt es bleiben, um nicht einen möglichen Streit vom Zaun zu brechen. Sie raucht ihre Zigarette fertig und tötet sie in einem Aschenbecher aus. Ihr Kollege raucht noch. „Soll ich dich begleiten?“, fragt er. „Wozu denn?“, erwidert die Beamtin. „Gehen kann ich schon selber.“
Sie legt den kurzen Weg bis zu Ihrem Büro zurück. Draußen sitzt der junge Mann, wie zuvor. Aber ihre Bürotür ist nun aus Aluminium und nicht mehr aus Holz. Und es gibt kein Schlüsselloch, sondern eine Kamera. Zum Glück steht „Elena Weber“ noch an der Tür. Sie sieht in die Kamera. Ungefähr zwei Sekunden vergehen. „Zutritt gestattet“ scheint auf einem kleinen Display an der Tür auf. Es macht klack und die Tür öffnet sich von selbst. Die Beamtin tritt in ihr Büro. Sie sieht sich selbst, wie sie am Schreibtisch sitzt und etwas schreibt.
Sie hat keine Zwillingsschwester, was eine gängige Erklärung für dieses Ereignis wäre, es ist sie selbst. Es gibt sie, Elena Weber, die Beamtin, zweimal.
Jetzt schaut die Elena am Schreibtisch auf und erblickt die Elena, die im Raum steht und sie ansieht. In diesem Moment verschmelzen die beiden Elenas zu einer Person. Diese Person ist die Elena, die am Schreibtisch sitzt.
Das kann nicht sein, das ist total verrückt. Ich bin doch kein Chromosom. Ich bin ein Mensch, eine Frau, ich kann mich nicht teilen. Hoppla, ich rufe ja einen Fall hervor, wie wir ihn hier in diesem Institut untersuchen. Und dort bin ich ein Zehner. Doktor Krinkenmöller wird begeistert sein, wenn er davon hört, oder er würde begeistert sein, wenn er davon hörte.
Womöglich bilde ich mir doch alles nur ein. Dann würde ich in der Psychiatrie landen, in einer geschlossenen Abteilung, und das für lange Zeit, mit der Diagnose einer astreinen Schizophrenie. Nein, ich weiß wirklich nicht, ob ich das melden soll.
Und nun etwas anders: Nehmen wir an, es gibt mich wirklich doppelt, welche Person ist dann dominant?
Die Beamtin verlässt noch einmal das Büro. Der junge Mann sieht sie fragend an. „Sofort“, sagt sie, „ich bin gleich fertig.“ Sie lässt erneut ihre Iris scannen, klack, die Bürotür öffnet sich. Die zweite Elena sitzt am Schreibtisch. „Grüß Gott, Frau Weber“, begrüßt sie ihr zweites Ich, „falls Sie interessiert sind, ich kann Ihnen eine ganz spezielle Besonderheit vorstellen.“ Sie spricht bewusst laut, und am Schluss klatscht sie in die Hände. Jetzt schaut die am Schreibtisch sitzende Frau Weber auf und sieht die vor ihr stehende Frau Weber, ihre beiden Blicke treffen sich. In diesem Moment verschmelzen die beiden Frauen Weber, diesmal zur im Raum stehenden Frau Weber.
„Aha“, sagt die Beamtin zu sich selbst, „nun bin ich etwas schlauer, aber wie ich jetzt weiter vorgehen soll, weiß ich noch nicht, noch lange nicht. Fürs Erste werde ich weitermachen wie immer.“ Sie dreht sich um und öffnet ihre Bürotür. Sie sieht zu dem jungen Mann und sagt: „Grüß Gott, jetzt bin ich endlich fertig. Wollen Sie bitte eintreten?“
Johannes Tosin
(Text und Bild)
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