Ich weiß nicht, ob das wirklich alles passiert ist. Nachdem, was sie mir an diesem Julisamstagabend am Telefon über sich und ihre Familie erzählte, war mir mehr als klar geworden, daß sie an einer mehr als tiefgreifenden Bewußtseinsstörung beziehungsweise einer gleichwertigen, durch sogenannte verbotene Substanzen hervorgerufenen seelischen Störung litt, wie sie selbst zugab, als ich sie frage, ob sie selbst schon eine therapeutische Behandlung angedacht hatte und sie zögernd erwiderte, daß sie schon seit beinahe vier Jahren in Betreuung sei.
Am nächsten Abend lud sie mich für acht und es gab Kabeljau und Weißwein, mit einem rauchig-gehauchten Hey empfing sie mich wieder in ihrer kleinen Wiener Wohnung, ihr schönes Gesicht und das quadratische Zimmer mit Doppelfensterblick aus dem zweiten Stock empfingen mich freundlich.
Von ihrem Internationalen Kongress in Rom, zudem sie morgen aufbrechen würde, erzählte sie mir. Sie würde dort mit Agathe und Hans in einem Zimmer schlafen, Hans sei außerdem ohnehin bereits vergeben. Ich bemerkte, daß ich hoffte, daß er wenigstens häßlich sei, sie meinte neckisch, daß sie sich in Rom gemeinsam die Nächte um die Ohren schlagen würden. Beschwipst vom Weißwein begann ich auf der Couch Gitarre zu spielen.
Klein war sie, aber verführerisch, wir gingen nach noch einem Bier in ihr heißes Schlafgemach mit Fenster zum taubenübersäten Innenhof und erkannten einander heftig. Danach frug sie mich, wir waren damals gerade drei Wochen zusammengewesen, ob ich Kinder mit ihr wolle, ich sagte, ja, schon irgendwann, sie meinte, sie müsse nur mit den vielen Tabletten aufhören. Gegen vier schliefen wir schließlich ein, das Bewußtsein entschwand uns in der Gluthitze der Bratpfanne im zweiten Stock und wir wachten gegen neun auf, als die Tauben laut gurrten.
Es ging alles sehr rasch, ein paar Kleidungsstücke verschwanden im Rucksack, als plötzlich der Anruf von Agathe, ihrer Kollegin, kam, die nun doch nicht mitreisen konnte, da deren Oma im Sterben lag. Ich war perplex und meine Eifersucht flackerte lichterloh, was ich aber zu verbergen suchte. So würde sie wohl in Rom im selben Bett alleine mit Hans schlafen! Daß ich ja nun anstelle von Agathe das vorreservierte Ticket beanspruchen könne, also den Sitzplatz im Nachtzug und den Platz im Appartement in Rom, meinte sie, ich war plötzlich in einen unglaublichen Entscheidungsnotstand geraten und mir überschlugen sich die Gedanken beim Hinuntergehen der Stiegen.
Am Westbahnhof angelangt, meinte sie, ich solle doch wirklich spontan mitkommen, mit nichts als Jeans und einem Poloshirt bekleidet wäre es doch ein echtes Abenteuer, nach Rom mitzureisen, ich entgegnete, daß dies zu wenig Kleidung sei, sie führte ins Treffen, daß mir Hans ja etwas von seinen Sachen borgen könnte, worüber ich etwas lachte und worauf ich wahrheitsgemäß erklärte, daß ich meinen Reisepaß nicht mit mir führte, sie meinte, ich solle einfach nachher rasch in meine Wohnung fahren und meinen Paß mitnehmen und den späteren Zug nehmen.
Ich geriet in Anfechtung angesichts dieser Verheißung. Schon schossen wir über die Rolltreppe hinaus und trafen Agathe, die sich entschuldigt hatte und Hans mit dessen Lebensabschnittspartnerin Anna. Anna war rotblond-gedrungen und bäuerlich-feist, Hans stämmig, dunkelhaarig mit einem vollbärtigen Wissenschaftlerlächeln und Wiener Dialekt. Die weißroten ÖBB-Lokomotiven standen stoisch auf den Geleisen wie stumme Sklaven. Wir stießen zum Waggon vor, sie beklagte, keine Zigaretten mehr gekauft zu haben und küßte mich, ich wiederum umarmte sie und warf noch einen prüfenden Blick auf Hans, der mir freundlich aus dem Schlund des Railjets entgegenlächelte. Schon waren sie am Horizont verschwunden und das weite Land hatte sie beide verschluckt.
Ich fuhr heim, voll des Grübelns, ich war unschlüssig und rang mit mir selbst. Plötzlich kam ein SMS vom ihr. Ob ich mich schon entschieden hätte, frug sie mich, denn sie würde ansonsten den noch vakanten Platz im römischen Appartement an Hemma, eine reifere Tiroler Kollegin, vergeben. Daß das ganze eben viel Geld kosten würde, daß ja auch dauernd Hans im Zimmer sei, daß sie ja tagsüber auf der Tagung sei gab ich ihr rasch zur Antwort, es war ein Kreuzfeuer der Gefühle und Gedanken, eine absolute Zermürbung. Ach komm, schrieb sie, wenn die vier Kinder daseien, ginge das alles ja eh nicht mehr. Und ich würde ja nicht an Zufälle glauben.
Nach einer Weile rief ich sie dann an, sie sagte, sie sei gerade in Wels und es wäre echt schön, wenn ich mitkäme. Ich sagte, ich überlege, aber es sei echt nicht einfach für mich. Sie sagte, ich solle einfach noch überlegen, aber es wäre zu schön, ich sagte, ich überlege. Wir legten auf und in Villach rief sie mich nochmals kurz an und ich sagte ihr, daß es mir so leid täte, daß ich aber nicht einfach so nach Rom fahren könne, sie meinte ernüchtert und ernüchternd, daß wir nun wenigstens eine Entscheidung hätten. Ich schickte noch eine verzweifelte SMS-Nachricht nach, daß das alles so zermürbend sei und daß es mir leid täte und soff steirischen Whisky mit Schampus. Sie antwortete nicht mehr an diesem Tag und ich grübelte weiter.
Am nächsten Tag erwachte ich um halb elf in erheblicher Besorgnis, denn sie hatte immer noch keine SMS-Nachricht gesandt. Ich kreiselte und verlor fast das Bewußtsein, dieser Kreisel, dieser Sog war sie. Ich fuhr an die Uni, endlich, eine Mail von ihr, sie habe ihren Vortrag am nächsten Tag, ich solle an sie denken. In mir wuchs dennoch die Unruhe stets mehr und mehr zu einem unheilvollen Gebräu heran und wilde Gedanken überschwemmten mein Herz.
Als ich am Fenster zum Innenhof des Institutsgebäudes stand, um zu einer endgültigen Entscheidung zu gelangen, hatte ich eine Vision, ich erblickte im dritten Stock an der gegenüberliegenden Seite ein rosafarbenes Kolosseum, das an eines der oberen Fenster geklebt war. Die Entscheidung war also klar. Ich rief nochmals die Auskunft an, es gebe noch ein Ticket nach Rom, ich war hin- und hergerissen.
Schließlich buchte ich per Telefon die Tickets, packte ein paar Sachen in den Rucksack. Ich war mehr als gespannt, wie sie das wohl aufnehmen würde. Ich fuhr mit der U 6 zum Bahnhof und setzte mich gespannt in den Zug, kurz vor Klagenfurt rief sie mich aus Rom mit einem freudigen Unterton in der Stimme an, sie sagte, ich solle ein Hotelzimmer für uns finden und sie freue sich und ich war glücklich. Ich dachte an Rom mit seiner erotisch-inhärent-tragisch-morbid-sexuellen Atmosphäre, eingetunkt in die Schwaden des Vergänglichen und emporgehoben in den Olymp des Emotional-Libidinösen.
Als ich gegen halb zehn aus dem Zug ausstieg, atmete ich römische Luft, berührte römischen Boden, ich fühlte mich frei wie ein Adler, ich sprintete zum Ufficio del turismo und buchte ein Zimmer für zwei neben der Piazza di Spagna. Das teilte ich ihr gleich freudig per SMS mit, und ich war etwas stutzig, als sie plötzlich ungewohnt kühl schrieb, daß sie noch einiges am Kongress zu tun habe, sich aber zeitgerecht melden werde, das unterfertigte sie mit den Worten Enjoy Rome.
Ich war innerlich etwas enttäuscht, fuhr per Metro, in der sie traurig Albinoni musizierten, in die Unterkunft in der Via Romagna, zahlte und bezog das Zimmerchen im fünften Stock, der Lift war klapprig, die Rezeptionistin freundlich.
Ich packte meine Sachen aus, fuhr nach unten und setzte mich in ein Caffè. Ich schrieb, daß sie sich Zeit lassen solle, auch wenn mir zunehmend mulmig wurde, die Distanz zwischen uns war nun kleiner geworden, die Atmosphäre zwischen uns jedoch um Klassen entfernter. Sie schrieb sehr trocken zurück, daß ich sie gegen vier abholen solle in ihrem Appartement in der Nähe der Via di Panico.
Schließlich bewegte ich mich zu Fuß in ihre Richtung und gelangte schließlich zu der von ihr genannten Adresse, eine belebte Straße, ich klingelte, niemand meldete sich, ich schrieb ihr ein SMS, sie schrieb zurück, daß sie gleich kommen würde. Nach etwa fünf Minuten war sie endlich da, klein wie immer, mit etwas zerrauftem Haar, anders, zerzauster als sonst, ihre Augen waren kalt und trugen eine bestimmte Boshaftigkeit in sich, da waren zwei schmale Augenschlitze, ein Trolleykoffer und eine Umhängetasche. Sie umarmte mich zaghaft, ein Anflug eines Kusses auf meine Lippen. Sie, die mich drei Tage zuvor noch beschworen und bedrängt hatte, ihr in die sogenannte ewige Stadt nachzureisen, sie wies mich in diesem Moment beinahe von sich, sie behandelte mich nun wie einen Fremden. Sie war gekippt, war auf Droge.
Ich war ein Unwillkommener in einer fremden Stadt. Da war kein Anflug von Freude, sie fragte lediglich, ob mein Ticket nicht sehr teuer gewesen sein müsse, ich stieß innerlich angeschlagen, nach außen hin Contenance wahrend, hervor, daß mich eben Rom sehr gelockt hatte. Wir nahmen die Metropolitana und die Fremde neben mir, meine instabile Freundin, und ich fuhren zur Piazza di Spagna, nahmen im Hotel angekommen in aller Stille den Lift, und schließlich zeigte ich ihr unser Gemach, sie frage mich, ob ich mit ihr zum Abendbankett im Senatorenpalast gehen wolle, es koste siebzig Euro, ich war einverstanden. Ich solle mir aber unbedingt einen Anzug oder zumindest ein Sakko kaufen, sagte sie, denn das, was ich mitgenommen hatte, Poloshirts, sei für ein Abendbankett im Palazzo Senatorio untragbar.
Auch der Hans habe schließlich ein Sakko mitgenommen, ließ sie mich wissen. Ich bekam ein schlechtes Gefühl, schließlich zog ich ein blaues Ralph-Lauren-Poloshirt an und darüber meiner grüne abgewetzte britische Wachsjacke. Sie frug mich, ob sie zum mitternachtsblauen Kleid dunkelviolette Strümpfe tragen solle, ich meinte, dunkelviolett stünde ihr gut, die liturgische Farbe der Buße und der Trauer, passend für sie, tief, unberechenbar, undurchsichtig-gläsern, das alles war sie, sie war als römische Diva sehr hübsch anzusehen und ich mußte ihr den Reißverschluß schließen. Ihr gutgeformter Busen, Größe Bella, der mir schon viel Freude bereitet hatte, war ansehnlich verpackt, ich war schon jetzt eifersüchtig auf Hans gewesen.
Was Hans denn gesagt habe, als er erfuhr, daß ich nachgereist sei, frug ich sie, nichts, meinte sie, angeblich nichts, dachte ich.
Wir fuhren ein paar Stationen mit der Metro, sie erzählte, daß sie gestern noch bis spät in die Nacht hinein mit Hans ihren Vortrag gefeiert habe, im Café neben ihrem Appartement, und wie herrlich das nicht gewesen sei. Schließlich erreichten wir in der inhärenten Tragik des kühlen römischen Regens den Senatorenpalast. Er bot einen vornehm-feudalen Anblick, bei der Garderobe nahm man uns charmant die Oberbekleidung ab und wir bahnten uns den Weg in den kleinen Festsaal, wo uns Kir Royal und Brötchen dargeboten wurden. Eine besondere Schwere lag über diesem feierlich-traurigen Festsaal, so als ob ihn Albinoni selbst in die zärtlich-venezianisch-maritime Trauer seines Adagios in g-Moll eingehüllt hätte.
Sie nahm links von mir Platz und am restlichen Tisch versammelten sich irgendwelche internationalen Wissenschaftlerkollegen und sie plauderte mit ihnen über ornithologische Resultate und Methoden und über die angeblich zu üppige Opulenz des römischen Rathauses. Dann schlug sie plötzlich an, frug laut, wo denn der Hans sei, der Hans, ihr Freund, ja wo sei denn der Hans, frug sie abermals, sie lugte auf ihr Handy und rief ihn an, schließlich, wir waren bereits alle dabei, zu essen, erschien er wie ein Pfau, leger, mit offenem, weißem Hemd, Brusthaare zeigend, das Sakko lässig in der linken Hand haltend, unrasiert, grinsend, sie fiel ihm beinahe um den Hals, er nahm links von ihr Platz, denn sie hatte ihm vorsorglich einen Platz reserviert und er nahm ebendiesen in Besitz und ignorierte mich völlig. Weder grüßte er mich, noch sah er je in meine Richtung.
Er bestellte roten Wein, schlürfte ebendiesen und fraß dann die Gänseleberpastete mit wenigen Bissen wie der letzte Bauer. Das Rülpsen verhielt sich dieser Vogel gerade noch, als er nach dem Mahle meinte, er dürfe nicht soviel fressen und saufen, da er schon so fett sei, und grinste. Dann quasselte er wieder pseudointellektuell irgendwas daher und sie, die neben mir Sitzende, eigentlich meine Freundin, tätschelte ihn am Oberarm und sagte dann laut, ja, der Hans, der macht einmal Karriere, gell, Hans, so himmelte sie ihn an.
Es war nur noch traurig. All das lag wie der göttliche Himmelsfrost kandierter Veilchen bitter auf meiner gepeinigten Seele, die Musik hinter uns war mir einerlei geworden, betroffen war ich, unselig. Ich wandte meinen Kopf in die andere Richtung. Das durfte alles nicht wahr sein. Schließlich verschwand sie, meine vermeintliche Freundin, noch auf die Toilette und just nach einer Minute war auch er verschwunden, in meinem Kopf wuchsen wilde Verschwörungstheorien, und nach kurzer Zeit kehrten sie aus der gleichen Richtung kommend wieder.
Endlich war es Mitternacht geworden und die Farce schien endlich ein Ende zu nehmen, wir gingen hinaus, erhielten unsere Kleidungsstücke wieder und sie hatte unbedingt auf den Hans zu warten, der sich wieder irgendwo im Suff verplaudert hatte.
Als ich dann vor dem Palazzo, da es regnete, ein Taxi für sie und mich herbeiwinken wollte und mich der Fahrer von ebendiesem ignorierte, meinte der dumme Hans neben mir grinsend, winke-winke, hat net funktioniert, gell, nun platzte mir endlich der Kragen und ich grollte in seine Richtung, du bist ja viel zu bekokst dazu!, um ein Haar hätte ich die Contenance verloren, schließlich gingen wir per pedes, ich schwieg, sie schwieg, wir beide voran, etwa zehn Meter hinter uns Hans und Hemma, sie packte pseudodemonstrativ meinen rechten Oberarm beim Gehen, als sich die Wege von Hans, Hemma und ihr und mir bei der Bastille trennten, grinste mich Hans nochmals an und rief mir auf Spanisch Que tu duermes con los angelitos zu, ich nahm sie bei der Hand und fragte sie dann nach ein paar Schritten, was das bedeute, sie sagte, dies bedeute, schlafe mit kleinen Engelchen.
Ich machte mir meine Gedanken darüber, wie Hans dies wohl gemeint hatte. Nach ein paar Schweigeminuten sagte ich zu ihr, daß ich keineswegs auch noch den nächsten Abend mit den beiden verbringen wolle, denn schließlich hatte sie die beiden schon die ganze Zeit gehabt und ich sei eigens wegen ihr nach Rom gefahren, woraufhin sie mich anfuhr und mir entgegenzischte, daß ich zu sagen hätte, daß ich mit ihr alleine sein wolle und wir deshalb den Abend miteinander verbringen sollen.
Es tat alles nur mehr weh. Endlich hielt ein Taxi an. Endlich erreichten wir gegen ein Uhr morgens das Hotel, wir fuhren wortlos in den fünften Stock, sie legte sich grinsend, vom Bankettwein leicht besoffen seiend, auf das Bett, ich legte mich auf sie, wir küßten uns rasch, sie zog sich Strumpfhose und Höschen aus und schließlich beschlief ich sie respektive ihren betäubten Körper, selbst benommen seiend, zu ein, zwei minderberauschten Höhepunkten. Ich spie mich endlich aus, und uns ausgewürgt habend entschliefen wir blitzartig, und über all dem lagen die traurigen Kadenzen von Albinonis Adagio.
Elmar Mayer-Baldasseroni
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(Auf Wunsch des Autors wurde bei diesem Text auf manche Lektoratskorrektur verzichtet und der Text großteils im Original belassen.)