Nach einer Idee von meinem Sohn Michael
Schließlich hatte man es bewerkstelligt. Zeitreisen waren immer schon ein Traum der Menschheit gewesen. Nun waren sie Wirklichkeit geworden. Anfangs natürlich ein exklusives Vergnügen, wurden sie ständig günstiger, bis eine Reise ungefähr so viel kostete, wie früher in der Videothek einen Film auszuleihen. Deshalb waren jetzt viele Menschen in der Zeit unterwegs.
Das Besondere war, dass man nicht nur in die Vergangenheit reisen konnte, sondern auch in die Zukunft. Das physikalische Prinzip dafür bildete die Überlegung, dass es eine parallele Welt gäbe, wo keine Zeit existierte, in der man jeden beliebigen Punkt ansteuern könnte, der sich in der realen Welt als Zukunftspunkt manifestierte.
Alles war möglich geworden, den Propheten Mohammed in Medina im Jahr 627 zu besuchen, die Ardennenoffensive am 18. Dezember 1944 zu erleben, feingliedrige und kaum behaarte Zukunftsmenschen zu beobachten.
Man konnte in die Szenerie nicht eingreifen. Logischerweise, sonst fände man sich in einer geänderten Gegenwart wieder. Man sah die Menschen, die Bauwerke, die Wälder, die Wiesen, man hörte das Treiben auf orientalischen Märkten, roch die Gewürze, schmeckte den Met der Wikinger, aber man spürte nichts und niemanden.
Plötzlich, eines Samstags um 23:29 Uhr – niemand fand heraus, was dahintersteckte –, ging der Strom aus, überall gleichzeitig, weltweit. Und nicht wieder an, nie mehr, bis heute – 493 Tage später.
Die Menschen erlebten ihre verschiedenen Realitäten, von denen manche echt waren und manche irreal – jene von Zeitreisen. Unzählige verschiedene Realitäten existierten gleichzeitig, unterschiedliche Zeiten. Selbstverständlich ließe sich jeweils herausfinden: War es eine falsche Situation oder eine echte? Könnte ich etwas angreifen, dann war ich im sicheren Hafen.
Doch die Menschen waren so bequem geworden. Sie standen bloß da und schauten mit großen Augen, in das Jahr minus 1286, in das Jahr plus 314, in die Gegenwart.
Johannes Tosin
(Text und Bild)
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