Mit der Zeit lernte ich zu verstehen. Anfangs bekam der Patient, üblicherweise ein Student, der als Proband fungiert, ein Kontrastmittel gespritzt, zwanzig bis dreißig Minuten später legte man ihn in einen Gehirnscanner, und ich beobachtete seine Gehirnaktivität. Es begann mit einem großen Durcheinander, einem Wirrwarr von unterschiedlichen Gedanken, einem chaotischen Zustand. Allerdings, was man ja auch annimmt, liefen diese Gedanken nacheinander ab. Viele Gedanken bewirkten einen weiteren, andere hörten auf. Aber woran dachte der Patient?
Die Gedanken in Sprache umzuwandeln gelang nicht, da der Patient ja nicht in Buchstaben dachte. Er dachte in Bildern, und verschiedene Bilder hintereinandergeschaltet ergaben einen Film. Es gelang mir wirklich, diese Bilder zu visualisieren. Sogar auf meinem Smartphone konnte ich sie anzeigen lassen. Auf das Kontrastmittel konnte mittlerweile verzichtet werden, und der Gehirnscanner wurde zu einem Ring verkleinert, den der Patient aufsetzte – es sah dann aus, als ob er einen Heiligenschein hätte.
Inzwischen konnte ich mithilfe dieser Apparatur die Gedanken vieler Menschen ansehen, aber niemals testete ich sie an meiner Freundin, aus Angst, dass ich in ihren Gedanken gar nicht vorkommen würde.
Johannes Tosin
(Text und Bild)
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