Dorfwind

Es ist eine emotional geführte Debatte im Gemeinderatssaal des kleinen Dorfes Gratwein. Sie hat, zum wiederholten Mal, das Thema Josef Huber zum Inhalt.
Huber ist fünfunddreißig Jahre alt und der örtliche Großbauer und Sonderling in Personalunion. Im Alter von dreiunddreißig Jahren hatte er den Hof von seinem Vater geerbt, nachdem dieser bei einem Jagdunfall verstorben war. Auch das Gemeinderatsmandat hat er von seinem Vater übernommen, wie auch dessen ukrainische Geliebte.
Oswald Heiner ist der Bürgermeister Gratweins. In seiner Jugend war er ein berüchtigter und erfolgreicher Hühnerdieb, doch nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt fand er auf den rechten Weg zurück und heuerte bei der Raiffeisenbank an.

Heiner richtet das Wort an Huber: „Josef, so geht das nicht! Dein Misthaufen verpestet die Luft in unserem schönen Dorf. Wie oft müssen wir dich noch auffordern, ihn endlich abzudecken?“
Josef Huber nimmt einen Schluck aus der Bierflasche, die er während jeder Sitzung, nebst einer Schnapsflasche, neben seinem Stuhl auf dem Boden stehen hat, und lässt seine Faust auf den Tisch krachen.
„Wie oft, Heiner, soll ich dir noch sagen, dass mein Misthaufen nicht stinkt? Falls du seinen Geruch wahrnehmen kannst, hast du dich ihm von der falschen Seite angenähert. Im Gegenwind riecht eben alles anders.“

Edeltraud Knehs ist die Vizebürgermeisterin. Vor ihrer alkoholbedingten Zwangspensionierung war sie als Lehrerin an der örtlichen Volksschule tätig.
Auch sie meldet sich zu Wort: „Es ist schier unglaublich, dass wir in jeder Sitzung über Hubers Mist debattieren! Dieser Mensch“, sie zeigt mit dem Finger auf Josef, „bringt Schande über unsere Gemeinde, olfaktorische Schande!“

Josef nimmt einen Schluck Schnaps, räuspert sich und sagt: „Ich soll Schande über Gratwein bringen? Ich? Denke bloß an deine Tochter! Die bringt Schande über uns!“
„Was meinst du damit?“, gibt Knehs zurück.
„Jeder im Ort weiß doch, was sie macht, deine Tochter! Erst steht sie an der Bar des Grazer Lokals, in dem sie arbeitet, und wenn sie mit den Männern genug gesprochen hat, geht sie mit ihnen in den ersten Stock.“

Edeltraud Knehs wird kreidebleich, doch sie erwidert mit fester Stimme: „Meine Tochter macht nichts Illegales. Sag, wie geht es deiner Russin? Obwohl sie ganze zehn Jahre jünger ist als du, hat sie es schon weit gebracht, weiß Gott! Erst war sie deine Stiefmutter, und heute liegt sie neben dir!“
„Sie ist Ukrainerin!“, ruft Huber, der ansonsten an Edeltrauds Worten nichts richtigzustellen hat.

Schmunzelnd meint Oswald Heiner: „Lassen wir das. Das führt doch zu nichts.“
„Da hast du recht!“, pflichtet Huber ihm bei.
„Dein verstorbener Vater hatte den Plan, den Misthaufen abzudecken, Josef. Warum greifst du dieses Vorhaben nicht auf?“, fährt Heiner fort. „Dann müssten die Kinder, die auf dem Weg zur Schule an deinem Hof vorbeigehen müssen, nicht mehr fürchten, in den Gegenwind zu geraten und dann im Klassenzimmer wie die Hinterlassenschaften deiner Kühe und Ferkel zu riechen.“
„Mein Vater hatte viele Pläne“, gibt Huber lakonisch zurück.
„Das wissen wir, Josef“, sagt Edeltraud Knehs. „Zum Beispiel den, dich zu enterben!“
„Das wollte er nicht!“, brüllt Huber und setzt die Bierflasche an.
„Doch, das wollte er!“, ruft Knehs. „Jeder im Ort weiß, dass dein Vater sämtlichen Wirtsleuten gesagt hat, dass sie dich nicht mehr anschreiben lassen sollen. Dass es das letzte Mal war, dass er deine Trinkschulden übernimmt, das hat er auch gesagt. Und dass du ein Säufer bist, der sein ganzes Geld verprasst, auch das hat er gesagt.“
„Das stimmt nicht!“, ruft Huber.
„Doch, das stimmt. Es stimmt übrigens auch, dass er dir deinen Sportwagen weggenommen hat. Bevor du ihn um die Ecke gebracht hast.“

„Er ist bei einem Jagdunfall gestorben“, sagt Huber mit ruhiger Stimme. „Das hat auch die polizeiliche Untersuchung ergeben.“
„Das wurde festgestellt, ja, und zwar von deinem Vetter, der damals der Postenkommandant der Gratweiner Polizei war. Aber wie erklärst du dir, dass dein Vater zwei Einschusslöcher in der Brust hatte?“
„Woher soll ich wissen, was sich zugetragen hat?“
„Du warst an diesem Tag ebenfalls in eurem Jagdrevier. Ich habe dich nämlich gesehen, als ich Pilze sammeln war. Du hast eine einläufige Schrotflinte dabeigehabt. Plötzlich fielen zwei Schüsse, dann bist du aus dem Wald gelaufen.“
„Das ist eine Lüge, Edeltraud!“, ruft Josef.
„Nein, das stimmt. Sag, Josef, hast du deinen alten Herren beim ersten Schuss nicht richtig getroffen? Oder wolltest du sowieso auf Nummer sicher gehen und hast deshalb nachgeladen?“
„Das sind sehr schwere Anschuldigungen, Edeltraud“, sagt Oswald Heiner.
„Im ganzen Dorf weiß man doch, dass Josef Huber seinen Vater umgebracht hat, Oswald“, gibt Knehs zurück. „Gut, er wurde nicht belangt, und der Fall geschlossen, aber wir alle wissen, was sich wirklich abgespielt hat.“
„Das ist eine Lüge!“, wiederholt Huber.
„Zwei Dinge würden mich interessieren, Josef“, bohrt Knehs nach. „Hast du deinem Alten einen Tannenzweig in den Mund gesteckt, sozusagen als letzte Äsung? Und war es schwer, sich an deinen Vater anzuschleichen? Ich meine, deine übliche Schnapsfahne riecht man etliche Meter gegen den Wind. Hast du dich im Gegenwind angeschlichen?“

„Das reicht jetzt!“, ruft der Bürgermeister.
„Genau!“, pflichtet Huber ihm bei.
„Ja, lassen wir das”, sagt Edeltraud Knehs. „Wenden wir uns wieder den aktuellen Schwierigkeiten mit dem Gemeindebürger Huber zu. Also, Josef, was gedenkst du gegen den Ungeruch, der von deinem Hof ausgeht, zu unternehmen?“
„Gar nichts!“, ruft Huber trotzig.
„Das habe ich mir schon gedacht“, sagt er Bürgermeister. „Die Erfahrung hat gezeigt, dass du uneinsichtig bist. Aus diesem Grund habe ich Vorkehrungen getroffen.“
Er nimmt eine Mappe aus seiner Aktentasche und überreicht sie Josef.
„Was ist das?“, fragt dieser.
„Das ist der beim Land Steiermark eingereichte und bereits bewilligte Plan zur Errichtung einer automatischen Gegenwindanlage, um den Gestank deines Misthaufens auf deinem Hof zu halten.“

Huber sieht sich den Plan an. Sein Blick wird immer ungläubiger, und er benötigt drei Züge aus der Schnapsflasche, bevor er seine Sprache wiederfindet.
„Das also wollt ihr mir antun“, stammelt er. „Ein riesiges Gebläse, das die Luft zurück auf meinen Hof bläst.“
„Die Luft und den Duft, den natürlich auch“, sagt Edeltraud Knehs süffisant.
„Die Sache hat aber einen Haken“, meint Josef.
„Welchen denn?“, fragt Oswald.
„Damit das Gebläse seine volle Wirkung entfalten kann, müsste es auf meinem Grundstück aufgestellt werden. Und das werde ich, wie ihr euch denken könnt, nicht gestatten!“
„Da liegst du falsch, Josef. Das Gebläse ist so stark, dass es neben dem Gehsteig positioniert werden kann, also auf dem Grundbesitz der Marktgemeinde“, sagt Edeltraud.
„Du wirst von diesem Wunderwerk der Technik begeistert sein, Josef“, sagt Heiner. „Es verfügt sogar über einen Sensor, der die Ventilatoren nur dann aktiviert, wenn der Wind aus der Richtung kommt, in der dein Misthaufen steht. Der Wind, den wir erzeugen, wird also dafür sorgen, dass du auf deinem Hof stets von guter Landluft umgeben bist.“

Da springt Josef Huber auf, leert seine Bierflasche, wirft sie an die Wand des Sitzungssaales, nimmt einen Schluck Schnaps und ruft: „Wenn ihr diesen Plan in die Tat umsetzt, verkaufe ich meinen Hof! Und nicht bloß das, ich verlasse Gratwein!“
„Dann sorge dafür, dass dein Misthaufen keinen Gestank verbreitet!“, ruft der Bürgermeister.
Josef verlässt den Saal und überlegt beim Hinausgehen, welche Dimensionen das Loch in seinem Wald haben müsste, der in einem Wasserschutzgebiet gelegen ist.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Perfidee |Inventarnummer: 19101

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert