Und Stefan stieg in den Bus

Und Stefan steigt in den Bus.
Endlich entspannen!
Die tägliche Fahrt von seiner Firma nach Hause ist für ihn wie ein Ritual.
Wie eine Meditation. Über eine Stunde hat er Zeit, der Realität zu entfliehen.
Dieser Welt mit diesem ständig unter Strom stehenden Chef.
Und diesen stupiden Arbeitskollegen mit ihren oberflächlichen Witzen.
Er lacht nur mit, weil er nicht als totaler Außenseiter gelten will.
Stefan zeigt seine Jahreskarte und bewegt sich in Richtung hinteren Teil des Busses, so wie jeden Tag.
Er hasst diese Blicke. Aber er liebt es, andere die einsteigen auch genau zu mustern.
Immer die üblichen Verdächtigen:
Der Typ um die vierzig mit den schicken Klamotten. Der muss irgendwas Besseres sein.
Dieser Halbstarke mit seinem Piercing sitzt auch immer am selben Platz.
Stefan zieht seinen Bauch ein, als er bei der hübschen Blondine vorbeigeht. Wieder sieht sie nicht mal her.
Die alte Oma mit den zwei Taschen fährt nur einmal die Woche, immer dienstags, sicher zu ihren Enkeln.
Natürlich setzt er sich rechts ins hintere Drittel, das ist der beste Platz im Bus.
Erstens setzen sich nachkommende Schüler immer ganz hinten hin, zweitens blendet die Sonne von links, und drittens sieht man, wer hinten so alles wieder aussteigt.
Ja, das ist definitiv der beste Platz!
Stefan setzt sich entspannt und glücklich, als ob es sein Wohnzimmersessel wär.
Das ist fast schon ein Teil seines Lebens. Rechts hinten im Bus. Das hat was!
Er nimmt sein Buch heraus und beginnt zu lesen.
Die ersten zwei Haltestationen nimmt er nicht mal wahr, so vertieft ist er in seinen Roman.
Inzwischen wechseln die wenigen Fahrgäste, so wie üblich. Der Takt des Lebens. Blinker, Bremsen, Tür auf PFFFT.
Stefan nimmt das gar nicht mehr richtig wahr. Aber diese vertrauten Klänge tragen zu seiner Entspannung bei.
Und dann passiert das, was ihm immer Unbehagen bereitet. Was ihn immer kurzzeitig aus seiner Konzentration reißt.
Es setzt sich jemand vor ihn. Und dann auch noch ein Kind.
Stefan zuckt kurz mit dem Kopf nach links, ohne hochzuschauen. Eine Art Nein, muss das sein, das ist mein Bereich!
Er blättert um. Weiter gefesselt von dem Buch.
Der Junge um die zehn Jahre dreht sich plötzlich um, kniet sich auf seinen Sitz und sieht ihn an.
Stefan schwenkt mit den Augen kurz nach oben, ohne den Kopf zu heben und liest irritiert gleich weiter.
Einfach nicht beachten.
Der Junge schiebt sich einen Kaugummi in den Mund und beginnt laut zu schmatzen, die Augen weiter auf ihn gerichtet.
Stefan wird nervös. Er tut nur so als ob er liest, denn natürlich kann er sich nicht mehr konzentrieren.
Und es kommt so wie es kommen muss, der kleine Mann formt mit seinem Kaugummi eine große Blase – BFLOBB.
Wenn er nicht grundlegend schüchtern wäre, würde Stefan ihn anreden, aber ignorieren ist besser, irgendwann muss er sich doch wieder hinsetzen.
Stefan spürt, wie er verkrampft. Dieser Tag ist anders!
Der Bus bleibt stehen und tatsächlich, der dumme Bengel steigt wortlos aus.
Ein leises, siegreiches JA kommt über seine Lippen.
Stefan spürt, wie er wieder entspannt in den Sitz zurücksinkt.
Doch seine Augen treffen zwangsläufig auf den gerade eingestiegenen dicken Typen mit der Lederjacke, der nach hinten trottet.
Los, setzt dich doch, ist alles frei. Wieso geht der so weit nach hinten?
Bei seinen Schritten spürt Stefan, wie sich der Boden bewegt. Er mag keine dicken Menschen.
Sport hat er nie wirklich gemacht, es müssen seine Gene sein oder seine Schilddrüse, warum er immer so dünn war.
Wieso, verdammt, setzt der sich nicht einfach irgendwo da vorne hin?
Klar, natürlich setzt er sich genau hinter Stefan.
Er zieht die Mundwinkel nach unten und runzelt die Stirn. So ein Scheißtag!
Na wenigstens hat er sein Buch. Wieder versetzt ihn seine Phantasie in eine andere Welt, als er plötzlich von lautem Gehuste aufgeschreckt wird.
Das darf doch nicht wahr sein, der fette Typ hinter ihm hustet herum, verbreitet seine Bazillen und hält sich vermutlich nicht mal die Hand vor den Mund.
Stefan überlegt kurz, den Sitz zu wechseln, aber das wär einfach zu auffällig.
Diese verdammte Schüchternheit! Er hat das nie verstanden, wie andere Menschen das so locker nehmen können, einfach so aufzustehen.
Der dicke Mann mit der Lederjacke hustet weiter und beginnt, sich auch noch zu schnäuzen.
Stefan klappt frustriert das Buch zu. So macht das einfach keinen Sinn.
Zum ersten Mal blickt er aus dem Fenster... und... und ein Schock durchfährt ihn.
Was ist das für eine Gegend? Hier war er ja noch nie!
Er ist in einer Zehntel Sekunde hell wach.
Sein Gesicht zieht sich nach unten und Gänsehaut überzieht seinen ganzen Körper.
Stefans Puls rast hoch und hundert Fragen schießen ihm durch den Kopf.

Plötzlich schreit der Busfahrer laut nach hinten: "Endstation"
Robert hört auf zu lesen, klappt sein Buch zu und steigt aus dem Bus.
Er freut sich schon, morgen weiter zu lesen.
Der arme Stefan, wo ist er bloß gelandet?

Habibi777

www.verdichtet.at | Kategorie: Vorhang auf für den Nachwuchs | Inventarnummer: 14033

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