Lange Zeit habe ich mir überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, dass man die Luft irgendwo rauslassen muss. Die Luft sieht man ja nicht und wenn sie weg ist, fällt es gar nicht auf. So dachte ich.
Ich glaube, zum ersten Mal bemerkte ich das Fehlen von Luft im Radlschlauch. Es ist ganz übel, weil man ja nicht mehr weiterfahren kann. Wenn man keine Pumpe zur Hand hat, muss man schieben und das ist ganz schön lästig.
Nach solchen Erfahrungen fing ich an, darüber zu räsonieren, wie es sich mit entwichener Luft verhält. Sie muss wohl oder übel erneut in das dafür vorgesehene Behältnis reingeblasen, -gepumpt oder -gepresst werden.
Ich erinnere mich, dass am Lebensende meiner Mutter einmal im Rollstuhlreifen die Luft ausgegangen war. Wir saßen bei Sonnenschein im Garten des Altenheims. Alles war gut: Die Blumen blühten, die Blätter raschelten ein wenig in der flirrenden Sommerhitze und die Vögel zwitscherten. Nur der Reifen war platt, weil sich die Luft still und heimlich aus dem Staub gemacht hatte. Es war beschwerlich, meine alte Mutter in den Schatten zu schieben. Die Sonne hat sie da schon nicht mehr leiden mögen.
Da ist ein netter junger Mann mit einer Luftpumpe gekommen und hat den laschen Reifen aufgepumpt. Wir waren glücklich und dankten überschwänglich. Meine Mutter suchte nach ihrem Portemonnaie, weil sie dem Zivildienstleistenden ein Geldstück geben wollte. Der aber sagte: „Die Luft kostet nichts.“
Dieser Satz ist mir geblieben. Die Luft kostet nichts, aber man ist froh, wenn man sie hat. Auffallen tut einem die Luft nur, wenn sie es geschafft hat, da, wo sie eingesperrt gewesen war, auszukommen. Und die Luft ist erfinderisch, sie verfügt über Mittel und Wege, ihrem Bedürfnis nach Grenzenlosigkeit Genüge zu tun. Sie liebt die Freiheit wie alles Lebendige und lässt sich nicht gern festbinden.
Der Luftballon ist so ein Gefängnis für die Luft. Wahrscheinlich kommt es nicht von ungefähr, dass von diesem Spielzeug für die Kinder eine solche Faszination ausgeht. Man muss den unscheinbaren Gummisack aufblasen, die Luft aus dem Körper rauspressen und in den Ballon hinein. Das geht schwer und besonders am Anfang erfordert es viel Kraft. Der Blaser muss sich total anstrengen und bekommt einen roten Kopf, bis das Teil endlich bereit ist, die fremde Luft in sich hineinzulassen. Dann bläst man energisch drauflos und freut sich, dass der Luftballon groß und größer wird.
Man will ihn so prall wie irgend möglich und es erfordert ein hohes Maß an Bescheidenheit und auch an Feingefühl, den kritischen Punkt nicht zu übersehen. Die Luft kann nämlich ihren Freiheitsdrang nicht verleugnen. Sie lässt sich nicht zusammenquetschen, bis sie nicht mehr kann. Irgendwann wird es ihr zu blöd, sie macht von der ihr innewohnenden Explosionskraft Gebrauch und lässt den Ballon platzen. Das gibt einen lauten Knall und dem Blaser fliegen die schlappen Gummifetzen um die Ohren. – So ist das, wenn einem das notwendige Einfühlungsvermögen fehlt.
Natürlich kann man sich den Luftdruck, die Pneumatik, für alle möglichen Maschinen zunutze machen. Sie erleichtert uns das Leben. Pneuma ist das griechische Wort für Hauch und Wind. In der abendländischen Religionsgeschichte spielt es eine große Rolle und füllt ganze Regalwände in Bibliotheken. Man spricht es durch die Nase. So spürt man, dass es etwas mit dem Atmen zu tun haben muss. Nach der ersten Silbe wird die Luftzufuhr gestoppt, und wäre hier das Wort zu Ende, müsste man sterben. Gott sei Dank ist man gezwungen, um die zweite Silbe sprechen zu können, wieder Luft zu holen, und wird so vor einem jähen Ende bewahrt. Das Zusammenspiel von Aus- und Einatmen wird einem bei diesem Wort bewusst.
Im Hebräischen heißt ruach Luft. Während man dieses Wort spricht, schiebt sich am gerollten r der Luftstrom vorbei aus der Mundöffnung, und das ch verschließt den Rachen. Sofort verspürt man das heftige Bedürfnis, wieder einzuatmen. Das Sprechen des Wortes ruach verlangt von einem, allen Atem, den man zur Verfügung hat, aus der Lunge rauszupressen. Man erfährt die Leere und weiß, dass man sich verausgabt hat. Man muss sofort wieder Luft holen, sonst wird einem schwindelig. Ruach ist ein Zauberwort. Es meint auch den Lebensatem, den Gott Adam eingehaucht hat.
Die aus Erde geformte leblose Hülle hat sich in einen Menschen verwandelt, in dessen Adern sauerstoffhaltiges Blut fließt. Ruach ist eines der verschlüsselten Wörter für Gott, dessen Gegenwart in jedem Luftzug genauso wie im Wind spürbar ist. Die mittelalterlichen Buchmaler haben diesen Gedanken gerne ganz dezent im Wehen eines Kleidungsstücks angedeutet.
In der Schule machen wahrscheinlich immer noch die Lehrer den Versuch mit der brennenden Kerze unter dem Glassturz. Nach wenigen Sekunden geht die Flamme aus, weil der Sauerstoff verbraucht ist und das Feuer keine Nahrung mehr aus der leblosen Luft ziehen kann. Man sieht es der Luft nicht an, ob sie tot ist, aber das eingesperrte Feuer merkt es gleich.
Das alles fällt mir zur Luft ein. Dabei geht es immer darum, sie irgendwo reinzublasen bzw. sie einzusagen. Der Spruch, der mich aber seit vielen Jahren beschäftigt, lautet: Lass die Luft raus!
Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr wurde mir bewusst, dass Ein- und Ausatmen zusammengehören. Eine Binsenweisheit, könnte man sagen, aber bekanntlich sind die einfachsten Dinge die schwersten. Atmen ist der Grundrhythmus jeglichen Lebens. Das vergessen wir häufig, wenn wir uns den Rhythmus von technischen oder elektronischen Geräten diktieren lassen.
Äußere Einflüsse wie einerseits die Verliebtheit oder andererseits der Kontakt mit Zwiderwurzen bewirken, dass unsere Atemfrequenz schneller oder noch schneller und sogar rasend wird. Manchmal ringen wir aber auch nach Luft.
Musikinstrumente bringen die Luft zum Vibrieren, wodurch Töne und Wohlklänge entstehen, die sich wiederum auf unser Befinden auswirken und unweigerlich auch unsere Atmung beeinflussen.
Zur Luftzirkulation im Körper ließe sich auch noch eine Menge sagen, soweit ich sie begriffen habe. Die Luft sucht sich alle möglichen unkonventionellen Wege, um an die schwesterliche Luft im Außen zu kommen und sich austauschen zu können.
Mir geht es aber jetzt vor allem darum, der Tiefe jenes denkwürdigen Satzes nachzuspüren, der vom Rauslassen der Luft spricht. Es ist nicht so einfach, dem banal klingenden Spruch auf den Grund zu gehen. Dazu muss ich noch etwas weiter ausholen.
Aus dem Hinduismus kenne ich Statuen vom tanzenden Shiva, der mit seinen Händen eine kleine Trommel schlägt. Es heißt, dass diese Gottheit so den Rhythmus der Welt vorgibt, nach dem alles Leben sich regt. Hört Shiva auf zu trommeln und zu tanzen, kommt die Welt zum Stillstand und wir mit ihr. – Zuerst erstarrt die Luft, es gibt kein Ein- und Ausatmen mehr, der Rhythmus kommt zum Erliegen und mit ihm jegliche Bewegung. Aus ist es mit dem anmutigen Tanz, dem grazilen Einherschreiten, aber natürlich auch mit dem Daher- watscheln und -trampeln und allem anderen. – Eine friedliche Vorstellung vom Ende der Welt, wie ich finde. Shiva hat es in der Hand. Er hält die Luft an, schlägt ein letztes Mal seine Trommel, und seine tanzenden Füße verharren für immer in Bewegung. Shiva hält die Luft an, es heißt nicht, dass er die Luft rauslässt. Er kann also jederzeit wieder anfangen zu atmen, und damit begännen auch erneut der Trommelrhythmus und das Tanzen und das bewegte Leben der Menschen und Tiere und Pflanzen. Das Rad des Lebens drehte sich weiter.
Jetzt bin ich dem Satz schon recht nahe gekommen. „Lass die Luft raus!“ ist etwas anderes, als die Luft anzuhalten. Ich habe es mit einer eindeutigen Aufforderung zu tun, mit einem hörbaren Ausrufezeichen. Wo soll ich die Luft rauslassen? Aus mir? Mich nicht so aufblähen, mich zurücknehmen, mich beruhigen? Auf den Boden der Tatsachen zurückkommen? Überflüssigen Dampf ablassen? Das könnte gemeint sein. Dampf ist aber etwas anderes als Luft. Es ist nicht so einfach, wie es scheint.
Der Satz ist mit einer bestimmten Geste verbunden, die ich bisher noch nicht angesprochen habe. Es handelt sich um eine erhobene Hand, wobei nach meiner Beobachtung vornehmlich die linke dafür hergenommen wird. Die Finger umklammern eine leere Bierflasche, die dem Angesprochenen in Kombination mit dem Spruch entgegengehalten wird. Lass doch mal die Luft raus! – Ratlos blickte ich auf die Flasche, als ich zum ersten Mal damit konfrontiert wurde, und hatte keine Ahnung.
So ist das mit den Handwerkersprüchen. Inzwischen ist dieser Satz in unserer Familie zum geflügelten Wort geworden und wird nicht mehr nur vom Papa gebraucht, wenn ihm jemand eine zweite Bierflasche bringen soll. Jeder Eingeweihte möchte gern den anderen auf diese Art und Weise zu seinem Bediensteten machen.
28.02.2020
Claudia Kellnhofer
www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei |Inventarnummer: 20081