Liebes Einhorn,
du siehst einem richtigen Pferd viel ähnlicher als einer Phantasie-Figur. Vielleicht hat dir ein übermütiges Mädchen die Mähne gefärbt und eine gedrehte Zuckerstange an die Stirn geklebt?
Als Pferd bist du mir viel lieber! Was kann man schon mit einem Einhorn anfangen? Eigentlich nichts, außer es zu bewundern. Wofür eigentlich? Wenn du Flügel hättest, als Pegasus wärest du mir hoch willkommen – jeder Dichter wäre dir ein ergebener Diener, wenn er ab und zu auf dir reiten könnte.
Aber wie schon gesagt, als Pferd wärest du mir viel lieber. Du hast einen gut geformten Kopf, schöne blaue Augen und aufgestellte Ohren – das heißt, du bist gutmütig und neugierig –, also genau mein Partner. Ich habe auch lange Jahre geackert wie ein Pferd, und bei meinem Bauern habe ich auch die Pferde betreut: gefüttert, getränkt, gestriegelt und ab und zu mit einem Stück Zucker verwöhnt. Ich mag deine Kraft, deinen Geruch, deinen gutwilligen Fleiß und deine Zutraulichkeit, Bruder Pferd. Ab und zu bin ich auch auf einem Pferd gesessen, im Schritt oder leichtem Trab; den Galopp habe ich eher gefürchtet, das war mir zu schnell und gefährlich.
Wie gern hast du dich streicheln lassen, deine weiche Schnauze in meine Hand geschoben, um einen Leckerbissen aufzunehmen. Wie hast du dich gefreut, wenn ich dir das Halfter abgenommen und das Tor zur Weide aufgemacht habe, damit du dich austoben und am frischen Futter sättigen konntest. Wie willig hast du mir den Huf aufs Knie gelegt, damit ich dir die eingetretene Erde oder kleine Steine herauskratze. Sogar zum Hufschmied, den viele Pferde fürchten, bist du voll Vertrauen gegangen, nur mit dem Halfter an meiner Seite, weil du wusstest, es wird dir nichts Böses geschehen, die schon lockeren Eisen werden erneuert und zum Schluss bekommst du ein großes Stück Brot für dein Wohlverhalten.
Liebes Einhorn, komm her zu mir, ich will dir diese blöde Zuckerstange von der Stirn lösen und in Stücken verfüttern, damit du auch eine Freude hast. Als Einhorn wirst du nur angestaunt, aber als Kamerad von guten Menschen wirst du gestreichelt, gelobt, gefüttert, geputzt und geschätzt.
Liebes Keinhorn, so bist du mir viel lieber!!! Ich grüße dich mit Sehnsucht und dem Wunsch auf ein Wiedersehen.
Robert Müller
www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 21105