Küchenkulturen von New York bis Moskau 4

Brautkauf in Tiflis bei Chatschapuri und Zinandali

Winter und Frühjahr 1991 waren in der verbleichenden Sowjetunion eine sehr unruhige Zeit.
Für Journalisten gab es natürlich nichts Aufregenderes, als einer Supermacht beim Sterben zuzusehen. Unabhängigkeitsbewegungen und nationale Streiks flammten im ganzen Land auf, keine der 15 Sowjetrepubliken blieb verschont. Es war klar, das Haus brannte lichterloh, es gab nichts mehr zu löschen.

Ich raste mit meinem Team durch das Riesenland und machte Momentaufnahmen von einer Zeitenwende. In der Ukraine gärte es schon seit den späten 80er-Jahren, zuerst die heftigen Bergarbeiterstreiks, wo soziale Fragen im Vordergrund standen und später in nationale Bewegungen übergingen. Am Beginn des Jahres meldeten sich die baltischen Staaten mit Unabhängigkeitsforderungen, dann kam Belarus und schließlich im April war der Kaukasus an der Reihe. Besonders heftig war der Kampf um die Macht in Georgien. Also flogen Vladimir, mein Kameramann, und Pavel, der Assistent, nach Tbilisi, wo gerade der letzte Präsident Swiad Gamsachurdia in bürgerkriegsähnlichen Tumulten gestürzt worden war und sich die Provinz Abchasien für selbständig erklärt hatte.

Im Informationsministerium, wo wir uns akkreditieren mussten, teilte man uns einen Dolmetsch für Georgisch zu, obwohl wir natürlich alle Russisch sprachen, also ein Aufpasser und Berichterstatter für das MI. Das war Gigi, ein junger Übersetzer für Englisch. Es war ein außergewöhnlich schöner Mann, hochgewachsen und imposant wie ein mittelalterlicher Held. Er war lustig und gesprächig, voll von den herrlichsten Geschichten. Schnell stellte sich heraus, dass er den Job in diesem KGB-Ministerium nur angenommen hatte, um ins westliche Ausland zu kommen. Von unserem ersten, verordneten Einsatz an in Gori, Stalins Geburtsdorf, verstanden wir uns prächtig mit Gigi. Er war durch und durch westlich geprägt, keine Funke von KGB-Mentalität.
Was mich besonders interessierte, war, dass sein Vater ein Cousin des gestürzten Präsidenten war. Meinem Wink, diesen Abkömmling eines der ältesten Adelsgeschlechter kennenzulernen, kam Gigi gern nach und verschaffte uns eine Einladung ins Patriarchenhaus. Eine Stadtburg hoch über dem wilden Fluss Kura, am Rande einer Schlucht gelegen, öffnete sich für mich, und ich fühlte mich wie im siebenten Himmel. Ja, ich hatte einen Traumjob, hochaktuell im Zeitgeschehen mit Einblicken in die tiefste Geschichte.

Ein Raum, groß wie ein Rittersaal, hatte in der Mitte eine voll gedeckte Tafel, an der das ganze Geschlecht der Gamsachurdia Platz gehabt hätte. Auf einem thronähnlichen Stuhl saß ein alter, bärtiger Mann von imposanter Größe, Gigis Vater. Die Mutter und andere weibliche Personen hielten sich zum Servieren im Hintergrund. Ich wollte das Gespräch sofort auf die politische Lage bringen, hatte aber nicht mit dem georgischen Brauch der Trinksprüche gerechnet. Nach den Runden an die Gäste mussten diese ihrerseits mit den Toasts antworten, ein langes, streng festgelegtes Ritual, das in keiner georgischen Runde fehlen durfte, sei es eine Königstafel, ein Familientisch oder ein Holzbrett bei Weinbauern. Frauen sprachen keine tosti, durften nur nicken und zuprosten, daher kam ich nie zu Wort. Es dauerte gefühlte zwei Stunden, und dann brachten die Frauen die Teller und Flaschen, das Gelage konnte beginnen.

Ich bat mir aus, die starken Getränke auszulassen und gegen einen Traubensaft einzutauschen. Der Hausherr genehmigte es gnädig, befahl dafür noch mehr Obstsäfte zu bringen, von Granatäpfeln und Zwetschken, dazu alle Arten von Mineralwässern, an denen Georgien reich ist. Zu allen Arten von Getränken erklärte der Patriarch, welches Stalins Lieblingsgetränk gewesen sei: Zinandali, der Weißwein aus Kachetien, Saperavi, der dunkelste Rote, Borschomi, das grässlich salzige Mineralwasser, und Ararat 7, der armenische Edelcognac.
Die Hausfrau hatte alle berühmten Gerichte der georgischen Küche aufgetragen; die Speisen wurden nicht hintereinander serviert, sondern alles stand gleichzeitig auf dem Tisch: Chatschapuri, das Käsebrot, gefüllte Auberginen, riesige Platten mit Schaschlikspießen, Lobio, die Bohnenpaste, Sazivi, das Hähnchen in Nusssauce, Chinkali, die gefüllten Teigtaschen, Tkemali, die Pflaumensauce, das beste Ketchup der Welt.

Gigis Vater wandte sich kein einziges Mal an mich, sondern nur an die drei Männer. Obwohl ich ihm als Chefin des Teams vorgestellt worden war, begann er mit Vladimir über mich zu verhandeln. Er redete nicht um den heißen Brei herum, sondern sprach seinen Plan offen aus: Ich sollte Gigi heiraten, damit er aus dem unruhigen Land rauskam. Der alte Haudegen war sicher, dass es zu einem Krieg kommen würde, und Gigi sollte in Sicherheit sein. Er bot dafür 20.000 DM. Wir zwinkerten einander zu. Vlado ging scheinbar ernsthaft auf den Handel ein, trieb aber den Preis höher bis auf 30.000 DM. Die Eheschließung würde mich nicht belasten, denn dem Vater schwebte vor, dass Gigi einen österreichischen Pass bekommen würde, mit dem er dann weiter nach GB oder USA gelangen könnte, wo die Familie Gamsachurdia eine weitverzweigte Verwandtschaft habe.

Dass ich 15 Jahre älter war als Gigi, machte ihm auch kein Kopfzerbrechen. Die Familie würde schon das richtige georgische Mädchen für ihn finden. Er blinzelte fröhlich mit den Augen, die schon langsam glasig wurden. Ich amüsierte mich köstlich, wie der Patriarch mit Vlado einen Pakt schloss, mit vielen tosti besiegelte und mit viel Ararat begoss. Der Brautpreis war inzwischen auf 50.000 DM geklettert. Er wollte zeigen, dass es ihm ernst war, und machte sich zu einem Nebenzimmer auf, um das Geld zu holen. Aber es muss ihn jemand aufgehalten und abgefangen haben, wahrscheinlich seine Frau oder andere Verwandten, er kam nicht mehr ins Zimmer zurück. Was der Alte wahrscheinlich nie erfahren hat, war, dass Gigi und ich uns tatsächlich näherkamen und er in den nächsten Monaten jedes Wochenende etwas Wichtiges in Moskau zu erledigen hatte.

Ich lernte Georgisch, Gigi brachte Schallplatten mit georgischer Musik mit, dazu viele Speisen und Getränke, solange, bis ich auch schon bald meinen Lieblingsweißen- und -roten hatte, meine Wohnung füllte sich mit Souvenirs, und ich begann unter Gigis Aufsicht, mit georgischen Speisen zu experimentieren, und habe bis heute damit nicht mehr aufgehört.

Veronika Seyr
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