Er war immer schon „der Elefant“, von der Entbindungsstation bis zur Pension. Eins-neunzig hoch, mit einem Gewicht, das zwischen 110 und 120 Kilo schwankte, gutmütig, eher bedächtig in Rede und Gedanken, mit einem breitflächigen, aufmerksamen Gesicht. Seine schaufelartigen Hände, die seine Rede mit Gesten begleiteten, waren wohlgepflegt, aber doch irgendwie naturbelassen wie die Beine eines Elefanten, eines richtigen. Auch seine Bewegungen, sein ganzes Gehabe waren schwerfällig, aber nicht wirklich langsam, er strömte ganz einfach ruhig dahin wie ein breiter Fluss, der die Kraft hat, zwanzig Mühlen anzutreiben.
Schon bei der Geburt wog er über fünf Kilo! Seine Mutter, eine schmächtige kleine Frau, erzählte später, sie habe nie geglaubt, dass sie ihr Riesenbaby auf normalem Weg zur Welt bringen könne. „Es hat mich fast zerrissen, ich hab gefürchtet, ich springe auf wie eine Nussschale“, sagte sie nach der mühsamen Entbindung, „und was er allerweil für einen Hunger gehabt hat! Gott sei Dank war im Bett neben mir eine dicke Wirtin, die immer zu viel Milch gehabt hat, so hat er schon im Spital eine Zusatzration bekommen. „Geben S’ her den klein’ Elefanten“, sagte sie bei seinem ersten Brüllkonzert und legte ihn an die Brust, „na schaun S’, jetzt lacht er!“
Ich selber kannte den Erwin schon von der Volksschule her, er besuchte die Klasse über mir und wohnte drei Gassen weiter. Wir waren nicht eng befreundet, trafen einander aber oft auf der Straße, unterhielten uns fallweise über Bezirks- und Schulangelegenheiten, und ein paarmal hat er mir bei Mathematik-Hausübungen geholfen. Rechnen konnte er immer gut, und später ist er auch Buchhalter in einer großen Firma geworden. Nach der Schule haben sich unsere Wege wohl getrennt, aber die Nachbarschaft ließ uns immer wieder einmal zusammenkommen.
Erst mit 27 hat er, nach sehr kurzer Bekanntschaft, ein jüngeres, quicklebendiges Mädchen geheiratet, und trotz ihrer total verschiedenen Temperamente und Neigungen lief ihre Ehe sehr gut. Sein geliebtes „Annamirl“ war schlank, knapp eins-sechzig, hatte rötliches Haar und ein Tempo, das ständig auf 100 war. Fröhlich, lebhaft, arglos, immer neugierig und optimistisch, kam sie allen Menschen offen entgegen und machte aus jedem Tag ein Fest, während er, der Erwin, sein Tagwerk und sein Leben gelassen und eins nach dem anderen mit hartnäckigem Fleiß bewältigte. Sie ergänzten einander ideal: Ihre vorschnellen unbedachten Entscheidungen bügelte er geduldig hintennach immer wieder aus, ihre bühnenreifen Auftritte hinterlegte er mit seiner breiten Anwesenheit, Verlässlichkeit und respektablem Charakter. Es hatte eben alles, was er sagte und tat, Hand und Fuß, weshalb er bei Bekannten und Kollegen gut angesehen war.
Er hieß Erwin Doppler, was ältere Menschen an die Zweiliter-Weinflaschen erinnert, aber in Hinsicht auf seine Körpermaße durchaus passend war. Bei einem zufälligen Zusammentreffen im Café Hummel in Wien ergab sich einmal ein längeres Gespräch, wo er mir auch über seine erste Beziehung erzählte:
„Ich hab sie, da war ich 25, bei einer Vernissage am Cobenzl kennengelernt, wir haben uns sofort gut verstanden. Es hat eben ganz einfach gefunkt. Warum es nicht lange gehalten hat? Weil, wir waren einander zu ähnlich. Ich hab immer gewusst, was sie gerade braucht, und die Hannelore hat genau dieselben Vorstellungen vom Leben gehabt wie ich. Es war schön, es war harmonisch, aber halt manchmal ein bissel fad – wie ein altes Ehepaar. Dabei war sie, als Frau, verstehst’, verdammt gut, und hat super ausg’schaut, immer gepflegt, aber dezent, und sehr g’scheit. Mit der Hannelore hast überall hingehen können! Aber das Spontane, Lebendige hat halt gefehlt, weißt eh, ich brauch das, weil ich ja selber ein ruhiger Typ bin. So ist das nach ein’ halben Jahr wieder auseinand ’gangen. Ja, schon auch schade. Und weißt’, was das Interessante war? Sie hat mir dann auch g’sagt, sie möchte mit einem flotteren Burschen beinand sein, was sie mitreißt. Komisch, gell?“
Gewohnt haben der Erwin und sein Annamirl dann am Stadtrand von Wien. Er hat dort sein geerbtes Gartenhäuserl schön ausgebaut. Das war auch irgendwie ungewöhnlich. Der Erwin hat kein Handwerk gelernt, nie praktisch gearbeitet, aber die ganze Holzarbeit hat er selber gemacht. Jedes Brettl, was der abgeschnitten hat, war gerade und hat auf den Millimeter gepasst, jede Schraube ist wie von selber ins Holz gerutscht, und auf der Baustelle war nie ein Chaos. Dafür hat man im Zimmer vom Annamirl (sie hat nebenbei ein bissl geschneidert) einen Kompass gebraucht, um wieder rauszufinden. Dort hat auch ihr Liebling, der schwarze Kater Mohrli, untertags geschlafen, und jede Nacht neben ihrem Bett.
Ja, so haben die zwei sehr glücklich dreiundreißig Jahre miteinander verlebt, bis das Annamirl plötzlich an Krebs erkrankt ist. Der Erwin ist verfallen, er hat sich frühpensionieren lassen und ist jeden Tag bei ihr im Spital gewesen. „Ich möchte immer bei dir sein“, hat sie da bei seinem letzten Besuch gesagt, „versprich mir das, ganz nah bei dir!“ Der Erwin hat geweint und gesagt: „Na freilich, du kommst zu mir, nix kann uns mehr trennen.“ Tags darauf ist sie gestorben und Erwin hat dann ihre Urne mit Sondererlaubnis in eine Nische seiner Gartenmauer gestellt.
Und wie vom Teufel bestellt, musste knapp danach auch sein Mohrli eingeschläfert werden. Da ist der Erwin zu mir gekommen: „Bitte, fahr du morgen mit ihm zum Tierarzt, ich bring das net z’samm“, hat er mich mit Tränen in den Augen gebeten. Er hat den Kater ja auch sehr gern gehabt, und gerade jetzt hätte er was zum Liebhaben gebraucht. Ich habe noch mit ihm Kaffee getrunken und wir haben über vieles geredet, auch über seine stärker gewordenen Herzprobleme.
Da ist er auf einmal eine Minute still, schaut mich geradeaus an und sagt: „Du, wir kennen uns schon ewig, kannst du mir einen großen Gefallen tun? Bitte sag ja, es ist mir sehr wichtig: Mein Annamirl, du weißt ja von der Urne im Garten, soll einmal gemeinsam mit mir bestattet werden. Würdest du sie mir dann in den Sarg legen? Am liebsten hätte ich ja den Mohrli auch dabei, aber das geht halt nicht.“ Ich habe es ihm versprochen, ja, ich mach das, wenn ich ihn überlebe.
Die Geschichte hat mir keine Ruhe gelassen, ich hab von Erwins Begräbnis geträumt, und da kam mir eine Idee. Der tote Kater wurde, in Plastik geschweißt, von mir bis zum Tag X eingefroren. Ein halbes Jahr danach ist Erwin an seinem Herzleiden gestorben, er hat mich zum Testamentsvollstrecker ernannt. Der besuchte Bestatter hat zugestimmt, die Urne beizupacken. Gut. Beim Hinausgehen habe ich gesehen, wie sein Gehilfe in der Werkstatt aus einem versteckten Doppler getrunken hat – den konnte ich wohl anreden! Ich habe mit einem Geldschein gewachelt und ihn gefragt, ob er mir heimlich helfen würde. „Ja, klar, bringen S’ den Kater am Begräbnistag um halber achte, der Chef ist eh erst um achte da.“
So haben wir den Mohrli heimlich unter Erwins Füße geschoben. Ich weiß nicht, was Erwin in seiner letzten Stunde gedacht/geträumt hat, aber da war in seinem Gesicht dieses verschlagene Grinsen, wie als Bub, wenn ihm was gelungen war. Vielleicht hab ich mir das auch eingebildet. Jedenfalls wurde es ein würdiges, schönes Begräbnis mit vielen Besuchern, weil den Erwin haben alle Bekannten geschätzt, und das lustige Annamirl hat jeder gerne gehabt. Der Pfarrer hat in berührenden Worten gesagt, dass wir nicht auf den Himmel warten, sondern uns schon zu Lebzeiten ein Stück Paradies schaffen sollen, wie es uns der Verstorbene und seine Frau vorgelebt haben. Ich habe dann ein zerkrümeltes braunes Katzenstangerl ins Grab geworfen und in die Hand mit dem Erd-Schauferl einen kleingefalteten Schein geschoben. Der Totengräber und ich haben verstohlen gelächelt, und Erwin oben wohl auch.
Robert Müller
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