Thomas steigt den Dobratsch hinauf. Es ist ein warmer Augusttag. Er ist allein – mit dem Berg und dem Himmel darüber. Seinen Volvo S60 hat er auf einem öffentlichen Parkplatz in der Ebene abgestellt. Allein bis zum Fuß des Berges waren es einige Kilometer, aber das macht nichts, im Gegenteil – er geht gerne. Tom hat es sich angewöhnt, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen. Zu Fuß findet er es am besten, man lernt die Gegend genauestens kennen, man nimmt am meisten auf – weil es die langsamste Fortbewegungsmöglichkeit ist. Bereits wenn man mit dem Fahrrad unterwegs ist, übersieht man einiges. Und man kann richtig schnell werden – wenn man einen Berg hinunterfährt, man kämpft dann damit, das Rad auf dem Untergrund zu halten, es ist gefährlich. Natürlich, das ist ein eigener Thrill, früher hat er sich dem auch öfters ausgesetzt, aber jetzt will er ihn eher nicht mehr. Er fährt ja auch nicht umsonst einen Volvo – dazu ist zu sagen, dass er sich am liebsten den S80 zugelegt hätte, aber den hat sein Chef, und seinen Chef soll man ja nie übertrumpfen. Ja, so ist das. Tom klettert auch nicht auf Berge, er wandert auf sie.
Heute ist es eben der Dobratsch. „Dobratsch“ ist der slowenische Name, es gibt noch einen deutschen, und zwar „Villacher Alpe“. Der Volksmund bezeichnet den Berg meist aber als Dobratsch. Tom ist schon vor dem Morgengrauen losgegangen. Fast niemand wandert von ganz unten den Berg hinauf. Tom tut es. Da muss man sich seinen eigenen Weg suchen. Es gibt eine Straße, die bis auf über 1700 Meter hinaufführt, sie ist mautpflichtig, dann kann man unterschiedliche Wanderwege nehmen bis zum Gipfel in 2166 Metern Seehöhe. Das ist Bergwandern in der Light-Variante. Für Tom ist das gar nichts.
Während er Fuß vor Fuß setzt, fällt ihm ein, wie er als Jugendlicher auf diesem Berg Schifahren war, einige Male, mindestens einmal auch in einem Kurs, früher war es ein populäres Schigebiet. Einmal fuhr sein Vater in ihrem Ford Taunus, am Beifahrersitz die Mutter, hinten links Tom und neben ihm seine kleine Schwester, im Winter. Links und rechts der Straße waren Schneewände, zirka 2,5 Meter hoch. Die Straße wurde mit einer Schneefräse mit schrägem Auswurf sozusagen herausgeschnitten. Dem Vater hat das gefallen, und Tom auch.
Inzwischen gibt es hier kein Schigebiet mehr. Die Liftanlagen sind abgebaut. Tourengeher nutzen die alten Abfahrten gern. Aber das sind ein paar vereinzelte Leute im Winter, früher waren es tausende.
Der Berg ragt heraus, er ist hoch. Darum geht es Tom, ihn mit eigener Muskelkraft zu begehen. Es ist kein Streit, der Berg gegen ihn, er gegen den Berg. Im Gegenteil, es ist eine Symbiose. Es soll gar nicht gefährlich sein. Das reine Naturerlebnis, so ist es gedacht.
„Das willst du dir ja wohl selbst weismachen. Du weißt, dass es nicht stimmt. Die Strecken, die du heute gehst, bist du vor zwanzig Jahren gelaufen. Du bist ganz einfach alt geworden“, sagt eine Stimme in Tom. Es ist eine Wiederholung, eine Denkschleife, zum zweiten Mal gedacht. Die Stimme kann schon im Recht sein, überlegt er. Er ist jetzt 45. Wahrscheinlich ist es dasselbe Prinzip, nach dem sich Frauen ab 40 für Gartenarbeit interessieren. Melissa, seine Frau, ist seit drei Jahren sehr aktiv im Garten. Sie ist jetzt 43. Eine korrigierende innere Stimme ist nichts Schlechtes, räsoniert Tom. Sie hält einen in der Spur.
Man beschränkt sich darauf, was möglich ist. Das Alter schärft den Realitätssinn und macht einen abgeklärt. Gleichzeitig ist einem bewusst, dass die schönen Träume sich nicht erfüllen werden. Man hört auf, sie zu träumen.
Aber das ist alles jetzt egal. Warum eigentlich begibt Tom sich in den negativen Bereich, wenn er mit sich selbst Zwiesprache hält? Wohl der geborene Pessimist, anders kann es nicht sein. Nicht weiterdenken, ruft Tom sich selbst in die Gegenwart zurück. Er ist schon einiges an Höhenmetern zurückgelegt. Die Sonne ist heiß, dieses Jahr besonders heiß, da kühlende Sonnenflecken fehlen, ein bisschen schweißtreibend. Er setzt sich ins Gras, trinken und ein Brot essen.
Was haben seine Freunde und er früher bei einem Grashang gemacht? Sie sind ihn hinabgerollt, die Drehachse führte durch den eigenen Körper. „Aber ich bin alt. Ich mache das nicht mehr“, weist ihn die korrigierende innere Stimme zurecht. „Ich will aber nicht alt sein“, sagt die unvernünftige, spaßige innere Stimme. Und natürlich gewinnt diese die Oberhand.
Tom legt sich ins Gras und dreht sich, einmal, zweimal, dreimal, unzählige Male, er beschleunigt. Zwischendurch schließt er immer wieder die Augen. Und plötzlich spürt er kein Gras mehr unter sich, auch keinen anderen Untergrund. Er befindet sich in der Luft. Das ist der Bergsturz des Dobratsch. Die Südostflanke ist abgebrochen. Mehr als tausend Meter nacktes Gestein. Und Tom fliegt daneben herab.
Ich sterbe, ich werde sterben, denkt er. Die Zeit dehnt sich jetzt. Zeitlupe. „Willst du leben? Ich gebe dir die Gelegenheit dazu“, Tom hört die Stimme laut. „Ja, will ich. Was muss ich dafür tun?“, schreit er. „Jemand aus deiner Familie muss an deiner Stelle sterben. Vielleicht dein Sohn?“, schlägt die Stimme vor. „Maxi? Niemals“, schreit Tom. „Du musst dich entscheiden, Thomas“, dröhnt die Stimme, du stirbst oder jemand für dich. Nenn einen Namen, sonst erwischt es dich.“ „Melissa!“, schreit Tom.
Augenblicklich wird sein Fall gebremst. Komprimierte Luft trägt ihn hinunter, und Wolken verstecken ihn, dass niemand sehen kann, welch unnatürliches Ereignis hier passiert. Schließlich liegt Tom in einem Maisfeld. Der Mais steht hoch. Um ihn sind einige Stauden geknickt. Kurz rastet er. Er realisiert: Er hat überlebt. Dann steht er auf. Der Dobratsch ragt vor ihm in die Höh. Sein Rucksack fehlt, dadurch weiß er, dass der Sturz und das ihn Hinunterheben keine Halluzination waren, sondern sich wirklich ereignet haben.
Jemand hat ihn gerettet. Wer? Ein Engel sicherlich nicht, der fordert nicht dafür das Leben eines anderen. Der andere, den man gut kennt? Eher natürlich. Die Stimme des Mephistopheles, und er war Dr. Heinrich Faust. Aber die Stimme hat nicht nach seiner Seele verlangt.
Thomas fühlt sich unwohl. Er schämt sich. Er hat sich als schäbiger Feigling erwiesen. Seine Frau ist für die Kinder viel wichtiger als er. Maxi, 17, Sopherl, 15, sie sind noch nicht selbständig. Er müsste neben der Arbeit den Haushalt führen. Wie sollte das gehen? Er hat keinen 8/17- Bürojob. Er war Projektmanager, viele Überstunden, öfters Reisen, ständig auf Abruf sein. Er müsste …
Er müsste vieles. Ja, das ist klar. Aber als Erstes müsste er einmal nach Hause gelangen. Er orientiert sich, der Berg, die Sonne, dort ist eine Straße. An dieser Straße hat er sein Auto abgestellt. Aber war das nun in Richtung weiter vorm Berg weg oder näher zu ihm, links zu gehen oder rechts? Es müsste die rechte Seite sein, er ist jetzt näher, kein allzu weiter Weg, vielleicht drei, vier Kilometer. Tom tastet nach seinem Schlüsselbund im rechten vorderen Hosensack. Er nimmt ihn heraus, Haustorschlüssel, Wohnungsschlüssel, Aufzugsschlüssel, Firmenschlüssel, Autoschlüssel, sogar mit einem Volvo-Schlüsselanhänger, alles vorhanden. Auch die Brieftasche im rechten hinteren Hosensack ist komplett, Geld, Führerschein, Zulassungsschein, Karten, alles hier.
Tom geht am Rand des Feldes, dann über eine Wiese, dann ist er an der Straße angelangt, und jetzt nach rechts. Zuhause würden ihn zwei Teenager erwarten, wahrscheinlich in Angst und Schrecken, weil die Mutter bei einem häuslichen Unfall gestorben ist. Vielleicht ist sie auch im Auto verunglückt, und die Kinder wissen noch nichts davon. Am Leben ist sie nicht mehr, Tom zweifelt keine Sekunde daran, dass es die Stimme ernst gemeint hat. Gut, sie hat ihm das Leben gerettet, aber so etwas dürfte doch nicht passieren, auf keinen Fall dürfte es das, dass jemand anderer für einen stellvertretend stirbt. Das ist doch sicherlich schon millionenfach geschehen. Das verändert doch viel, sehr viel. Hätte Melissa umgekehrt ihn sterben lassen? Im ersten Moment würde Tom antworten: Nein, auf keinen Fall. Aber wenn jemand wirklich ganz kurz vor dem Tod steht, weiß man absolut nicht, wie er reagiert. Tom jedenfalls, das ist unbestreitbar, hat Melissa sterben lassen.
Aber, nun andererseits, ist es nicht so, dass Menschen, die ihr Leben retten, bei Flugzeugunglücken beispielsweise, über andere steigen, sie abdrängen, hässliche Dinge tun? Nur der Starke, Rücksichtslose überlebt. Ist es nicht so? Doch, das ist so. Trotz allem, seine eigene Frau für sich zu opfern, die geliebte eigene Frau? Was sollte Tom sagen? Es ist bereits passiert. Er muss nach vorn schauen.
In der Ebene ist die Sonne heißer. Zusätzlich strahlt der Asphalt Hitze zurück. Tom geht auf der linken Straßenseite. Die Autos würden auf ihn zukommen. Es sind drei Autos, lediglich drei, bis er den Parkplatz erreicht hat. Einige Autos stehen dort, auch zwei Motorräder. Doch wo ist sein Volvo? Tom sieht ihn nicht. Der Volvo ist hellblau – Celeste, eine seltene Farbe, in Metallic, er würde geradezu herausleuchten – wenn er denn hier wäre.
Das Auto ist aber nicht hier, zweifelsohne. Tom erinnert sich genau, auf welchem Platz er es abgestellt hat. Dieser Platz ist leer. So wie es aussieht, gibt es das Auto nicht mehr.
Und jetzt? Wie kommt er jetzt nach Hause? Er hat kein Handy mit, um jemand anzurufen, der ihn fahren könnte. Manni hätte sich angeboten, der hat keine Familie, ein paar Biere mit ihm hintennach in einem Lokal getrunken, Manni hätte Unterhaltung und wäre zufrieden. Warum hat Tom kein Handy mit? Er hat ein Dual-SIM-Handy, zwei SIM-Karten – eine beruflich, eine andere für private Angelegenheiten. Nur ist es so, dass ihn häufig Geschäftspartner anrufen, zu jeder Tageszeit, wochentags oder am Wochenende, das ist ihnen egal. Es ist wohl möglich, die beruflichen Kontakte zu blocken, doch wenn die das merken würden, wäre es schlecht. Schon seit langem will sich Tom darum ein zweites, privates Handy zulegen, aber bislang hat er es nicht getan. Sein einziges hat er zuhause liegen lassen, um wenigstens heute bei der Bergtour seine Ruhe zu haben.
Telefonzelle? Ist fast immer kaputt, außerdem ist hier keine. Außerdem hat Tom Mannis Nummer oder eine andere nicht im Kopf.
Taxi? Das hier ist eine ländliche Gegend, zwar nicht weit von der Stadt Villach entfernt, aber dennoch – Land.
Autostoppen? Es ist wenig Verkehr, aber immerhin etwas, ungefähr ein Auto alle zehn Minuten, ja, das kommt hin. Trotzdem, mit 45 den Daumen raushalten, das ist peinlich. Nein, das ist keine Alternative.
Die einzige Möglichkeit ist: der Postbus. Tom ist sich nicht ganz sicher, aber er vermutet stark – weil er mit diesem Bus vor einigen Jahren schon einmal in dieser Gegend gefahren ist –, dass eine Haltestelle an der Bundesstraße sein müsste, die diese Landstraße quert, in der Richtung, aus der er zu Fuß gekommen ist.
Er geht also zurück. Heiß, aber was hilft es? Schritt um Schritt unter der Sonnenglut. Nach einer guten halben Stunde hat er die Bundesstraße erreicht. Und jetzt kommt die Frage auf – links oder rechts? Wo sitzt das Herz? Okay, also rechts.
Also nach rechts, Fuß vor Fuß, die Sonne steil im Nacken, staubig ist die Bundesstraße. Meter für Meter. Hoffentlich bin ich hier richtig, denkt Tom. Doch, ja, in der Ferne taucht schon die gläserne Überdachung mit der Sitzbank und dem Haltestellenzeichen auf. Wie Tom sich nähert, wird die Haltestelle größer. Jetzt ist er angelangt. Um 15:12 Uhr kommt der Bus Richtung Villach. Auf Toms Armbanduhr ist es 14:45 Uhr. In Ordnung, er setzt sich auf die Bank. Er ist in der prallen Sonne. Die Sonne kann man nicht vertreiben, man kann nur den Standort wechseln, um ihr auszuweichen. Aber Tom hat müde Beine, er bleibt, wo er ist.
Tom wartet, die Minuten vergehen. Warteminuten sind Minuten ohne Sinn, denkt Tom. Sie haben keinen Inhalt, sie vergehen bloß. Doch das tun sie zuverlässig, tick – tick – tick. Ein Auto kommt von rechts, 14:55 Uhr. Tom sieht geradeaus, die Landschaft ist ein unbewegtes Bild, 15:00 Uhr. Jetzt steht Tom doch auf, geht hin und her, nirgendwo Schatten, 15:05 Uhr. Er sieht einem Schmetterling beim Flattern zu, 15:10 Uhr. Rumms – rumms – rumms, 15:11 Uhr, der Postbus naht von links. Tom steigt ein, zahlt, der Bus fährt an, Tom setzt sich. Er ist Passagier Nummer drei, Nummer eins ist eine alte Dame, Nummer zwei ist ein Teenie-Mädchen. Es ist kühl – Klimaanlage – optimal!
Der Postbus fährt an Wiesen, Feldern und Häusern vorbei. Mit Fortschreiten der Zeit werden es mehr Häuser und weniger Land, schließlich gar kein Land mehr, die Stadt Villach ist erreicht. Der Bus fährt durch die Stadt, beim Busbahnhof ist Endstation. Tom erkundigt sich beim Fahrer, welcher Bus nach Klagenfurt fährt, dort muss er hin, dort lebt er. Der Fahrer zeigt ihm die Haltestelle. „Und wann fährt er los?“, fragt Tom. „Um 16:50 Uhr“, sagt der Fahrer.
Es ist noch Zeit. Tom kehrt in einem Lokal ein, bestellt ein großes Cola. Er trinkt in großen Schlucken. Jetzt noch einen Verlängerten. Die Kellnerin kommt anscheinend aus einem früher jugoslawischen Land, sie ist dunkel und hat überall Sommersprossen. Es sieht gut aus. „Aber ist das normal?“, fragt sich Tom. Fragt er sich, doch nicht – scherzhaft – die Kellnerin. Er ist nicht in Stimmung dafür. Natürlich nicht – er hat gerade seine Frau verloren. Er hat sie getötet – um es zu präzisieren.
Er blättert ein wenig in der Kronen Zeitung. Er sieht gerade vor sich hin. Er holt sich den Kurier. Tom will nicht über seine Situation nachdenken, auf gar keinen Fall will er das. Es wird schlimm genug sein, wenn er zuhause sein wird, die aufgelösten Kinder sieht und die Frau eben nicht, weil sie tot ist. Sie werden seine Frau, die Mutter der Kinder betrauern und – dann wird es weitergehen. Weil es immer weitergeht. Weil die Erde nicht aufhört, sich zu drehen, wenn ein Unglück geschieht.
So, jetzt aber weiter, bitteschön! Es ist knapp vor dreiviertel fünf. Tom geht zur Theke, hinter der die Kellnerin steht, zahlt dort. Dann macht er große Schritte zum Postbus, löst eine Fahrkarte, hier sind mehr Leute, setzt sich links ans Fenster. Der Fahrer schließt die Türen und fährt los.
Aus der Stadt wird wieder Land, ein sehr schönes Land, es kommen Velden, Pörtschach, Krumpendorf, die Orte an der Nordseite des Wörthersees, gerade paradiesisch – wenn man nur die Fassade betrachtet. In der Villacher Straße, am Ende des Lendkanals, steigt Tom aus.
Nun wird er seinem Schicksal entgegentreten. Es sind nur hundert Meter, im Rothauer Hochhaus, dort ist die Wohnung seiner Familie, besser gesagt: ein Penthouse. Es ist ein richtiges Haus auf dem Flachdach des Hochhauses, ein Bungalow mit 210 Quadratmetern, mit riesiger Dachterrasse. Tom geht durch die unversperrte Eingangstür im Erdgeschoß. Er drückt den Knopf, der den rechten Lift ruft, der Fahrgäste ab dem achten Stock nach oben transportiert.
Jetzt wird es hell im Liftschacht, der Lift ist hier. Tom öffnet die Tür und tritt ein. Er nimmt seinen Schlüsselbund in die Hand, wählt den Aufzugsschlüssel. Er will ihn in das passende Schloss stecken, damit der Lift über das oberste Stockwerk hinauf in das Penthouse fährt – nur die Mitglieder seiner Familie haben diesen Schlüssel –, aber da ist kein Schloss. Tom sieht ganz genau hin – es gibt kein Schloss, es ist einfach nicht vorhanden. Der Aufzugsschlüssel hat keine Funktion mehr. Tom drückt den obersten Liftknopf. Das ist Nummer 14. Der Lift bewegt sich aufwärts. Eine gleichmäßige Bewegung, niemand steigt zu, dann bleibt der Lift stehen. 14. Stock, Tom steigt aus dem Lift. An einer der vier Wohnungstüren steht „Schurrer“. Das ist Toms Nachname. Der Wohnungsschlüssel sperrt. Tom tritt in seine Wohnung.
Die Wohnung ist penibel aufgeräumt. Küche, zwei Zimmer, Bad und WC sowie ein Balkon. Maxi und Sopherl haben je ihr eigenes Zimmer. Ja, wirklich? In dieser Wohnung gibt es keine Zimmer von Jugendlichen, und nichts in dieser Wohnung lässt darauf schließen, dass hier Jugendliche leben, überhaupt gar nichts. Es ist anscheinend ein Singlehaushalt.
Toms Handy liegt auf der Kommode im Schlafzimmer. Unter seiner Dienstnummer sind fünf Anrufe und drei WhatsApp-Nachrichten eingegangen, doch das interessiert jetzt nicht. Auf seiner privaten Nummer nichts eingegangen. Tom sucht die Namen seiner Kinder – Max, Sophie –, kein Eintrag.
„Maxi, Sopherl, wo seid ihr?“, schreit er. „Es gibt sie nicht“, sagt die Stimme, die eine männliche ist. „Aber warum denn nicht? Melissa hat doch sterben sollen“, schreit Tom weiter. „Sie ist auch gestorben“, sagt die Stimme. „Ja, aber warum sind dann die Kinder nicht hier?“, fragt Tom schreiend. „Weil sie vor zwanzig Jahren gestorben ist“, sagt die Stimme. „Aber, das darf doch nicht sein“, schreit Tom. „Wieso? Vom Zeitpunkt ihres Todes war nicht die Rede“, sagt die Stimme.
Tom sitzt auf dem Doppelbett, das Handy liegt rechts neben ihm. Er wirkt wie jemand, der seine ganze Welt verloren hat. Er hat ja auch nur noch seine Arbeit, die kleine Wohnung und sich selbst. Er hat drei Leben ausgelöscht. Drei Leben für eines, für seines, neutral betrachtet, war das ein schlechter Tausch.
„Kann ich es wieder gutmachen?“, fragt Tom, etwas unter normaler Lautstärke. „Wie meinst du?“, erkundigt sich die Stimme. „Ja, mein Leben für das von Melissa, Max und Sophie. Ich bin beim Absturz vom Dobratsch gestorben“, erklärt er. „Natürlich, das ist möglich“, sagt die Stimme. „Wenn du das willst, schnippe dreimal mit Mittelfinger und Daumen der rechten Hand.“
Ich habe mehr zu gewinnen, als zu verlieren, denkt Tom. Schnipp – schnipp – schnipp.
Er sitzt auf dem Sofa im Fernsehraum des Penthouses. Melissa steht auf der Terrasse und sieht hinunter. Maxi sitzt neben ihm und blättert in einem Buch. Sopherl setzt sich auf ihren Vater, sie setzt sich durch ihn hindurch und schaltet den Fernseher ein. „Wo bleibt nur Papa?“, fragt sie. „Ach, der wird schon bald kommen“, sagt Maxi. „Mama hält nach dem Volvo Ausschau, wie ich sie kenne.“
Johannes Tosin
(Text und Foto)
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