Ja, der Volker, mit dem ist es eine eigene Geschichte, ein Exkurs lohnt sich vermutlich, vielmehr hoffentlich.
Eigentlich wollte er ja gar nicht einsteigen, und ebenso eigentlich war das sein Hauptproblem. Immer alles offen lassen, Optionen sollen Möglichkeiten bleiben und keine Entscheidungen nach sich ziehen, wer also in einen Zug steigt, lässt einen anderen sein, auch einen, der vielleicht erst übermorgen kommen mag und der viel schöner, größer, ansprechender wäre als der jetzige.
So kann man auch das Leben verpassen, meint in großer Sorge seine Mutter. Das mit der Ilse lassen wir jetzt aber lieber. Oder wir kommen darauf zurück, falls die Schreibe auf die Folgen von Alkoholmissbrauch kommen soll(te).
Der Volker also sitzt in diesem vermaledeiten Zug, er fragt sich schon, was das soll, da betritt eine auffallend schöne, leicht verwirrt wirkende Frau das Großraumabteil, sofort bricht ein Blickgewitter über sie herein, sie entscheidet sich schließlich für einen Sitzplatz schräg gegenüber Volker. Dieser winkt den Zurückgelassenen müde aus dem Fenster zu und schon ruckelt es und der Zug fährt ab.
Er, der Schläfrige, sieht mit einigem Neid zu, wie sie ihr einziges Gepäckstück, ein recht großes Kopfkissen, an die Scheibe lehnt und erschöpft die Augen schließt.
Die hat recht, denkt er. Das, was sie gerade braucht, hat sie mit, mehr nicht, keinen unnötigen Ballast.
Er hingegen schleppt immer Unmengen an Möglichkeiten mit sich herum, gewappnet für Vorfälle, die sich nie ereignen mögen, einen monströsen Regenschirm am strahlendsten Frühlingstag hat er sich bis heute nicht verziehen.
Vielleicht hat er auch geschlummert, schwierig zu sagen, der Nacken schmerzt, irgendwie wird er schon einge(k)nickt sein.
Er reibt sich die Augen, die Schöne ist offenbar gerade erwacht, schüttelt sich ein kleines aufreizendes bisschen, streckt ihre langen Glieder und hat plötzlich ein Sandwich in der rechten Hand. Der Polster ist nirgendwo zu sehen.
Sie betrachtet das Brötchen und beißt schließlich mit Appetit hinein, was Volker daran erinnert, dass seine letzte Mahlzeit viele Stunden zurückliegt.
Auch ein Schluck zu trinken wäre gut, denkt er und macht sich auf die Suche nach einem Speisewagen. Die Suche bleibt erfolglos, so kehrt er schließlich um und stürzt fast, als der Zug in eine engere Kurve fährt, weil er damit beschäftigt ist, die Frau anzustarren.
Sie trinkt genüsslich aus einer Wasserflasche, die gekühlt zu sein scheint, wie die Kondenswassertropfen verraten.
Sie muss wohl schneller gewesen sein als er, und in der anderen Richtung erfolgreicher unterwegs.
Sie nach dem Speisewagen zu fragen, traut er sich nicht, diese Erscheinung jagt ihm Ehrfurcht oder gar Angst ein. So geht er in die andere Richtung, doch dort befinden sich außer halbleeren Wagons nur die Lokomotive und eine Toilette.
Hier spritzt er sich einige Hände kaltes Wasser ins Gesicht und atmet tief durch.
Wenig überrascht stellt er fest, dass ihr Platz leer ist, als er in das Abteil zurückkommt.
Es wird Zeit, auszusteigen.
Er sieht Ilse fast schon am Bahnsteig stehen, hört sie beinahe lachen und sagen, er hätte gleich auf sie hören sollen.
Ausgerechnet Ilse!
Carmen Rosina
Text veröffentlicht in: Die Zeitgenossin, Heft 8
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