Unbekannte Orte

Wenn ich auf dem sanft abfallenden Hügel stehe, den blauen, ungetrübten Himmel über mir habe, und den Blick über das vor mir liegende Tal schweifen lasse, gelingt es mir, mich als Teil dieser Landschaft zu sehen. Schafe umgeben mich und ihr Blöken ist wie ein schützender Mantel aus Lauten, der sich dämpfend auf alles legt. Das Weiche, das der Anblick der Schafe in der Ferne vermittelt, verliert sich, wenn sie näher kommen. Ihr Fell ist schmutzig und zottelig, ihre Gesichter sind ausdruckslos und ihre Augen schauen mich nicht wirklich an. Ich weiß nicht, ob sie auf das Nahe blicken oder auf das Innere, das Ferne ist für sie ohne Belang. Ihre Münder sind mit dem Abrupfen des Grases beschäftigt und es scheint, als wäre das ihre ganze Bestimmung. Mir kommen sie nicht nahe, sie umgeben mich und ich bin weder ein Teil von ihnen noch interessieren sie sich für mich. Als Futterquelle scheide ich aus, folglich ist meine Anwesenheit für sie ohne Belang. Ich bin einfach da, nur so. Schafe sind friedliche Tiere, sie sind bescheiden, unaufdringlich, sie lassen über sich bestimmen, lassen sich scheren und lassen sich schlachten. Lämmer sind weich und verletzlich, sie werden geopfert. Wofür?

Wenn ich mich bewege, weichen sie zurück, geben mir den Weg frei. Dabei will ich gar keinen Weg nehmen. Ich trete näher an den Baum, der frei und selbstverständlich hier sein Zuhause hat. Zufällig ist er hier groß geworden und nun spendet er denen Schatten, die ihn finden. Seit vielen Jahren graben sich seine Wurzeln in den kargen Boden. Das ist kein leichtes Geschäft, aber sie wissen, dass es für sie weiter nichts zu tun gibt. Verdorren wollen sie nicht unter der Sonne, dazu ist ihnen das Leben zu kostbar. Also suchen sie den Lebenssaft in der Erde und finden ihn auch, aber mühsam. Ihre schwere Arbeit geschieht im Dunkeln und bleibt für immer verborgen. Trotzdem sind es die bescheidenen Wurzeln, die aus der Tiefe das lebensnotwendige Wasser holen und den Baum wachsen lassen. In Jahren gewinnt er an Größe und breitet seine Äste mit einer Selbstverständlichkeit aus, über die ich nur staunen kann.
Unmerklich entsteht ein Blätterdach, das den Zauber der Sonnenstrahlen aufzunehmen und zu verwandeln weiß. Schön ist es, darunter zu stehen, an einem Tag wie diesem. Das Rauschen der Blätter lässt die Macht der Gedanken verstummen und hüllt mich ein in jene Geborgenheit, die manchmal im Traum zu Gast kommt und schwerelos macht. Das Rauschen ist leise, aber es schließt den Kosmos um mich. An den starken Stamm gelehnt bleibt meinem Rücken auch nicht die Kraft verborgen, die sich hinter der Rinde gesammelt hat. Lange dauert es, bis ein Baum diese Größe erlangt, und nicht jeder schafft es, den Widrigkeiten zu trotzen und seine geheimen Kräfte zu entwickeln.
Dieser Baum kann seine Kraft, ohne ein Aufhebens davon zu machen, weitergeben. Gastfreundlich ist er und lädt mich ein, bei ihm zu verweilen. Es tut gut, mich an ihn zu lehnen und seinen Gleichmut entlang meiner Wirbelsäule in mich eindringen zu lassen. Gleichmut kann mich der Baum lehren auf jene gefühlvolle Art, die nur ihm zu eigen ist. Gleichmut und Bleiben. Beides wird einem zuteil, wenn man die Widrigkeiten des Himmels genauso hinzunehmen versteht wie die Sonnenstrahlen.
Und noch eines gehört zum Vermächtnis dieses Baumes. Die Einsamkeit ist sein Begleiter, doch sie macht ihn weder schwach noch traurig. Wahrscheinlich ist sie es, die ihm die Kraft verleiht, mir Schutz zu spenden unter seinem rauschenden Blätterdach und meine Augen mit den tanzenden Lichtpunkten zu erfreuen. Was wären die Sonnenstrahlen, könnten sie nicht durch die vom Wind bewegten Blätter ihre Geheimnisse entfalten und besonders schillern und glitzern und mir so von ganz anderen Welten und Zusammenhängen künden. Diese Lichtflecken sehen und in mein Inneres lassen, ist etwas vom Schönsten, was es gibt. Sie vertreiben die dunklen Flecken und machen Platz, um etwas noch Unbekanntes entstehen zu lassen, das mich gespannt macht.

Jetzt bleiben nur noch die Hände, die nicht anders können, als über die rissige Rinde zu streifen und fühlend das unhörbar pulsierende Leben zu ertasten, das dahinter verborgen ist. Ihnen kann nichts entgehen, sie nehmen am deutlichsten wahr, was im Inneren vor sich geht. Kummer und Schmerz und auch die Verletzungen dringen durch meine Haut. Rasch erzählt mein Blut es dem Herzen. Wunden und Narben sprechen Bände. Sind sie auch nicht sichtbar, so lassen sie sich doch von den Fingern ertasten, denen ein besonderer Spürsinn mit auf den Weg gegeben ist. Ein Baum erlebt viel, sein Leben ist lang und hier auf dem Hügel ist er allein. Die Blätter raunen ihre schwer verständlichen Worte in die Weite, doch außer den Schafen hört sie meist niemand. So vermischen sie sich mit deren Blöken und werden zu einem Geräusch, das dem Pulsieren des Blutes gleicht und ohne auf sich aufmerksam zu machen den Rhythmus der Welt mit anschlägt, nach dem alles auf seine Weise lebt und sich bewegt oder still ist, wenn die Zeit es verlangt. Dem Puls im Innern des Baumes können die Hände nachspüren. Ein gleichförmiges Dahinfließen in den zahllosen engen Kanälen können meine Finger erahnen. Weder Hast noch Stillstand kennt der Puls des Baumes. Er hat gelernt, alles hinzunehmen, in sich aufzunehmen, in Holz zu verwandeln und zu bewahren. Da gibt es viel zu lesen in den Ringen, die sich Jahr für Jahr bilden. Wie eine Blindenschrift entziffern sie meine Finger. Und diese Schrift verbindet sich mit der Erinnerung an all jenes, das ich gehört und gelesen und weiß und ahne, und so entsteht etwas Neues in mir.
Liebevoll streichle ich über die Rinde und lasse meine Zuneigung als Pfand zurück, ehe ich mich verabschiede.

Auf dem Weg über das karge Gras begleitet mich noch das Lied jenes Baumes, der sich mir anvertraut hat, und dessen Botschaft ich mit mir nehme in das Dorf, dem ich entgegengehe. Niedrige, weiß gekalkte Häuser erwarten mich. Freundlich blicken mich ihre kleinen quadratischen Fenster an. Die Wimpern unten sind mit roten Blumen geschminkt und die Lider zieren perlenbehangene Spitzen, so dass die Fenster in der Tat Augen gleichen, die den Besucher mit einem Lächeln begrüßen. Ich nicke zum Gruß, als wären wir seit langem bekannt, dabei war ich niemals zuvor hier.
Anscheinend bekümmert das niemand. Kann sein, wir kennen uns von alters her. Nur mir ist die Erinnerung verlorengegangen, während das Auge des Hauses mich sehr wohl wiedererkennt.

Ja, so ist das mit Häusern, man darf sie nicht unterschätzen. Haben sie jemand ins Herz geschlossen, so sind sie ihm treu und heißen ihn wieder willkommen. Mit einem Lächeln gehe ich entlang und fühle die Wärme, die die weiß gekalkte Mauer für mich gespeichert hat.
Ich bin in einer Gasse, deren Boden mit hellem Kalkstein gepflastert ist. Er ist glatt geschliffen von den abertausend Füßen, die darübergegangen sind und unsichtbare Spuren hinterlassen haben. Der Klang meiner Schritte fängt sich in den Mauern und gibt mir das Gefühl, nicht allein zu sein. In die Häuser führen bunt gestrichene Türen, die die Fröhlichkeit der Bewohner erahnen lassen. Die Tür muss bunt sein, rot am besten, das ist einladend. Links von mir führt eine Steinstufe zum Eingang des Hauses, eine schmale Tür, so ist es recht. Nicht jedem wird sie sich öffnen.
Eine Katze liegt auf der von der Sonne erwärmten Stufe. Sie räkelt sich und genießt. Das können uns die Katzen lehren. Den Weg zwischen den Häusern gehe ich entlang. Hier sind es die zurückhaltenden Farben Weiß und Grau, die für Ruhe sorgen. Aber die Blumen auf den Fenstersimsen und an den Haustüren sorgen für Aufheiterung. Gelb mischt sich mit Blau und Rot und immer wieder Weiß. Grün sind die Blätter, das Beiwerk der blühenden Blumen. Meist nimmt man es als selbstverständlich hin und schenkt ihm keine besondere Aufmerksamkeit. Es ist satt vom Licht, das es im Übermaß getrunken hat und reckt sich schützend zurückhaltend um die Blüten. Stolz ist das Grün auf seine Schützlinge und weiß sich zu bescheiden.

Nun sind es die Stimmen, die an meine Ohren dringen, unverständlich und fremd. Die Gasse mündet in einen Platz, auf dem reges Treiben herrscht. Es ist Markt und ich werde mit einem Übermaß an Lebendigkeit empfangen. Ganz selbstverständlich werde ich ein Teil davon. Hier kann ich eintauchen und teilhaben. Niemand scheint meine Fremdheit zu bemerken, so fühle ich mich heimisch und drängle mich wie all die anderen zu den einzelnen Ständen. Ich werde angelächelt und lächle zurück, ich blicke in dunkle Augenpaare und kann ihnen begegnen, ohne ausweichen zu müssen. So macht es Spaß, sich unter Menschen zu bewegen. Es gilt das grundlegende Recht des Angenommenseins. So kann die Seele anfangen, sich zu öffnen und frei zu werden. Dieses Geschenk empfange ich hier unter Fremden. So fangen meine Augen an, sich zu öffnen für die Vielfalt der Waren, die feilgeboten werden. Bunt ist alles und laut, so wie ich es lange nicht erlebt habe, dennoch spüre ich eine Harmonie, die wohltuend ist. Bunte Stoffe werden vor mir ausgebreitet. Es sind Farben, die mit ihrer Leuchtkraft nicht geizen müssen: Grün und Orange und Blau und Pink und Violett und Gelb. Die Muster besitzen eine Selbstverständlichkeit, die durch nichts zu überbieten ist. In diesen Stoffen ist das Leben eingefangen, mit dem ich mich einhüllen will. So kann mir nichts geschehen.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 15078

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