Halbgedanken, Luftgedanken, Dunstgedanken, mehr an Angedachtem will mir nicht durch den Kopf gehen, hier auf diesem pfeilgeraden Autobahnstrich knapp hinter Villach, diesem sonnenüberfluteten Band Asphalt im Niemandsland vor der Grenze zu Italien. Nicht mehr als ein Gedankenrauschen, das mich durchflutet, eingeharkt den Tempomaten auf milde Hundertdreißig, geistig zu nichts anderem angespannt, als ein Lenkrad schnurgerade in der Spur zu halten.
Spurgedanken, Schnurgedanken, die sich wie Perle an Perle reihen, Erinnerungsperlen an ähnliche Straßenfahrten, denn es ist wohl der Einfall des Sonnenlichts, die Art, in der es auf dem hitzigen Asphalt widerprallt, die Frequenz, mit der es durch die Windschutzscheibe bricht und mich im Augenwinkel blendet, was mich in eine Erinnerung zurück nach Sizilien wirft, die Strecke Palermo – Catania durch einsam hügeliges Hinterland einige Wochen zuvor.
„Non sono stato io – das war ich nicht!“
Blitzgedanken, Schockgedanken, Schuldgedanken durchfahren mich, das bin ich nicht gewesen, das mit der Brücke. Zugegeben, werte Autovermietung, das mit den Stoßdämpfern, das nehme ich auf meine Kappe, in bemitleidenswerter Erinnerung ist er mir noch, der zartbesaitete Kleinmietwagen, konzipiert für feingliedrige Hausfrauenhände auf dem Weg zum nächstgelegenen Supermarkt, sein Aufstöhnen der Stoßdämpfer ist mir noch im Ohr, gleich einer Elefantenfamilie angesichts des rettenden Wasserlochs nach Durchqueren der Wüste. Rauch und Dampf vermeinte ich damals aus den Seitenkästen der Radaufhängung aufsteigen zu sehen, nachdem ich den Wagen schonungslos über die Rippen der Autobahn Palermo – Catania und zurück gejagt hatte, gnadenlos durchgeholpert war ich, die Nadel nicht unter hundertvierzig, hundertfünfzig. Als Bandscheibenvorfall hatte ich den Wagen damals der Autovermietung zurückerstattet, unbrauchbar für den Nachmieter, wahrscheinlich nun statt meiner zur Verantwortung gezogen.
Aber nicht das mit der Brücke, das bin nicht ich gewesen, dass sie ein paar Tage nach meiner Überfahrt in sich eingeknickt ist. Verstörte Gesichter von Brückeningenieuren, Brückenstatikern, Brückenbegutachtern habe ich noch vor Augen, abgebildet in der Internetzeitung, in ihrem Rücken der geborstene Stahlbeton, die in die Höhe gereckten nackten Stahlstreben, die in sich verkeilten Straßenstückplatten inmitten der fröhlichen Frühlingshügel Siziliens. Selbst den Verkehrsminister hatten sie eingeflogen, aus dem fernen, ansonsten mit sich selbst beschäftigten Rom, vor einem geschundenen Pylon hatte er salbungsvolle Worte des Trostes, der Hoffnung und des Wiederaufbaus für die Brücke übrig gehabt, Worte, die der Frühlingswind, sanft das Mikrofon umspielend, sogleich ins Reich des Vergessens getragen hatte – wie auch immer, das bin ich nicht gewesen, das mit der Brücke.
„Das war ich nicht, das war schon so.“
Fließend der Gedankenübergang zum Lieblingssatz meines Sohnes, seine Satzperle gegenüber einer von ihm hinter sich gelassenen Sintflut, und kurz fällt mein Blick hinüber auf den Beifahrersitz, der ihm auf so vielen Fahrten mit mir sein Reich gewesen ist. Dieses Mal ist er allerdings leer, der Sitz, auf der jetzigen Fahrt, auf dem schnurgeraden Straßenabschnitt knapp hinter Villach, knapp vor Italien. Sein Beifahrertum hat er dieses Mal abgesagt, aus Pubertätsgründen, denn wer will schon sich mit fünfzehneinhalb im Beisein seines skurrilen, aus der Zeit gefallenen Vaters ertappen lassen, in Fleisch und Blut, in Zeiten peinlich überraschter Schnappschüsse im Internet? Was soll‘s, schon als Kind die Undankbarkeit schlechthin als Beifahrer gewesen, Müdigkeit, sein erster Einstiegsgedanke ins Auto immer schon gewesen, kaum angegurtet schon entschlafen, kaum dass mir die Zeit geblieben ist, das Auto anzulassen. Verziehen sei dir, mein Sohn, ist er mir wenigstens erspart geblieben, der Lieblingsspruch deiner Altersgenossen, beim Halt an der ersten Ampel:
„Sind wir schon da?“
Achtung! Ein Ordnungsgedanke, ein Aufmerksamkeitsgedanke, ein Habachtgedanke, der mich wachruft, aus dem Bann des Tempomaten und meiner an ein schnurgerades Lenkrad gehefteten Hände, da ist doch etwas gewesen, rechter Hand von mir, ein Verkehrsschild. Von einer Zählstelle hat es gesprochen, mich ermahnt, nicht die Spur zu wechseln, damit hier gezählt werden kann, automatisch wohlgemerkt, der Autodurchfluss, das sogenannte Verkehrsaufkommen, das, wenn ich unbedarft vor mich und durch den Rückspiegel hinter mich blicke, sich allein auf mich beschränkt. Mit dicker Sperrlinie auf dem Asphaltband mahnt sie nochmals zur Aufmerksamkeit, die automatische Zählstelle im Laufe des nächsten Kilometers.
Daseinsgedanken, Existenzial- und Sentimentalgedanken füllen meinen Kopf, denn schwermütig, so male ich mir den Zählstellenbeauftragten aus, wenn er wöchentlich mit einem orangegetünchten Einsatzwagen der Straßenwacht auf dem Pannenstreifen entlangtümpelt, auf dem Weg zu seiner Zählstelle, ebenfalls in Orange ein eintönig kreisendes Warnlicht auf dem Dach über seinem Kopf, und auf der Ladefläche neben unzähligen anderen Utensilien der unvermeidliche Schneebesen, hochgestakt wie eine Fahne. Mittlerweile ein kleines Bäuchlein angesetzt, so stelle ich ihn mir vor, den Zählstellenbeauftragten, wie er vor dem Zählstellenkasten hält und ihn entriegelt, ihm ein Kästchen voll angesammelter Daten entnimmt, und dann steckt er etwas in den Kasten zurück, ein frisches Kästchen, das nun Daten für die nächste Woche sammeln darf. Ja, damals in den Achtzigern, da war das noch etwas gewesen, der letzte Schrei der Technik, diese vollautomatische Zählstelle, besonders seine Vollautomatik, vorbei die Zeiten verschmierter Strichlisten von Hand. Und jetzt? Kontrolldaten, erklären sie ihm seinen archaisch analogen Aufwand, Kontrolldaten zu Datenfluten, die Satelliten in Blitzeseile aus dem Weltall herabschießen, genauer, akkurater, keine die Autobahn querende Ameise, die ihnen entgeht. Alles in allem keine Karriere, deren Früchte mein Zählstellenbeauftragter eines Tages an seinen Erstgeborenen würde weiterreichen können.
Und den Schalk im Nacken bin ich nun erst recht versucht, mich in Schlangenlinien durch diese Zählstellenpassage zu winden, trotz aufwarnender Sperrlinie. Wie wird der auf Automatik geeichte Zählautomat wohl auf mein aufsässiges Mäandern reagieren, wird er mich doppelt, vierfach, achtfach ankreuzen? Oder noch verwegener, nur halb, zu einem Viertel, zu einem Achtel? Oder noch schlimmer, lächle ich vor mich hin, wird am Pannenstreifen wie ein Pappkamerad ein Verkehrspolizist mit Kelle aufklappen, der zu allem Überfluss auch noch mein schwächelndes Rücklicht links hinten entlarvt?
Kreisgedanken einerseits, die sich wohlgefällig abrunden, deren Gedankenkettenglieder sich in sich schließen, und andererseits Scherengedanken, die, bereit zum Ausscheren, mit ihren Scheren nach weiteren Gedanken schnappen, um sie in den Kreis ihres Einflussbereichs zu ziehen, immer tiefer lullt es mich in Gedankenwelten so vieler abgefahrener Straßen, jeder Straßenmeter mit einem Straßengedanken behaftet, der noch daran klebt, wenn ich ihn wieder abfahre. Einen neuen, reiferen Gedankensplitter klebe ich dann hinzu, in den teerigen Asphalt, auf dass er dort haften bleibe, bereit zum Aufklauben bei der nächsten Durchfahrt.
Und an dieser Stelle kleben sie im Dutzend, hier auf dieser endlos zeitlosen Geraden dieses Autobahnabschnitts knapp hinter Villach, knapp vor der Grenze zu Italien, so oft bin ich hier durchgefahren, wie ein treuer Pilger. Zu einem schweren Gedankentropfen haben sie sich zusammengeklebt, teerig wie der Asphalt. Und in diesem Tropfen des Stillstands fühle ich mich gefangen, keine zwei Kilometer vermeine ich auf diesem Autobahnband im Niemandsland während der letzten gefühlten halben Stunde hinter mich gebracht zu haben, im unendlichen Fluss von Halbgedanken und Gedankensplittern.
Zurückversetzt in eine ähnliche Gedankenblase wähne ich mich, zurück an den langen Tisch einer Abendgesellschaft unter freiem Sternenhimmel, umtönt vom Geklirr sich zuprostender Gläser und dem Klappern der Gabeln, dem Schwätzen der Alten und dem spitzen Lachen der Frauen. Und dann stimmen die Jungen die Gitarren an, stacheln sich gegenseitig zu immer steileren Kadenzen hoch, und die Mädchen drehen sich im Rausch der Musik, ihre Hüften schwingen in der Trance des Tanzes, und mit einem vergessenen Lächeln verfolge ich das Schauspiel heraus aus einem Tropfen stillgewordener Zeit. Genauso fern und vergessen auch hier zwischen Villach und Italien der Gedanke an ein Ankommen, an das Erreichen meines Ziels, was auch immer es gewesen sein mag, ob Udine, Triest, Venedig oder gar ein entlegenes Ravenna, auf Wesentlicheres hat sich all meine Gedankenkraft konzentriert, einzig und allein dem Dazwischen gilt jetzt meine Aufmerksamkeit.
Harald Schoder
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