Vom Stinken und Stänkern

„Du stinkst ja erbärmlich! Hörst du, ich rede mit dir.“
Sie hatte ihr unbekannte Gegenden Wiens auf dem Stadtplan betrachtet, während sie auf die U-Bahn gewartet hatte. In der Station hatte es nach Abfall gerochen.
„Geh dich duschen! Du bist so grindig.“
Hatte der junge Bursche mit ihr gesprochen? Unsicher hatte sie den Kopf zur Seite gedreht und ihn angeschaut. Sein herausfordernder Blick hatte ihr bestätigt, dass er tatsächlich sie gemeint hatte. Die Mädchen neben ihm hatten gekichert.

Jetzt stand sie starr unter der heißen Dusche und imaginierte viele Male, was sie ihm hätte antworten können. Sie hatte versucht, ihn, seine lächerlichen Anschuldigungen und die gackernden Mädchen zu ignorieren. „Du bist gemein“, hatte die eine lachend gesagt.
Sie hatte so getan, als sei nichts gewesen, war stehengeblieben, wo sie war, und hatte ein paar elendlange Minuten auf die vermeintlich erlösende U-Bahn gewartet.
Er hatte noch nicht genug gehabt. „Gott sei Dank kommt die U-Bahn. Ich steige auf keinen Fall in ein Abteil mit der. Die verpestet alles.“ Bei der Vorstellung, sich absichtlich direkt neben ihn zu setzen, hatte sie lächeln müssen. Sie hatte sich nicht getraut.

„Also echt, das war doch arg, oder? Das war sicher sie. Gut, dass sie jetzt nicht mehr da ist.“ Er hatte sich in seiner Rolle als Alleinunterhalter der Mädchen gefallen. Was er dabei von sich gab, war vollkommen nebensächlich gewesen.
„Sie steht da hinten“, hatte eines der Mädchen gemeint. „Dort“, hatte ein anderes gekichert und auf sie gezeigt. „Wo?“, hatte er gefragt.
„Hier“, hatte sie so bestimmt, wie sie nur konnte, gesagt und ihn verächtlich angesehen. Mehr Protest war ihr nicht möglich gewesen. Vollkommen unvorbereitet hatten sie seine Beschimpfungen getroffen. Sie war entsetzt gewesen, wie ungeniert er sich so öffentlich über sie lustig gemacht hatte.
„Schleich dich, du grausige Sau!“, hatte er ihr entgegengerufen.

Sie hatte die Wut in sich hochsteigen gespürt. Wut in Form von ohnmächtigen Tränen. „Der kann dir doch egal sein!“, hatte sie sich einzureden versucht. Den Triumph, sie sichtlich verletzt zu haben, hatte sie ihm keinesfalls zugestehen wollen.
Bei der nächsten Station waren er und seine Begleiterinnen ausgestiegen, nicht ohne ihr noch einige derbe Beleidigungen an den Kopf zu schmeißen.
Der Gedanke, all den fremden Leuten in der U-Bahn zu zeigen, wie sehr sie der Vorfall aus der Fassung brachte, war ihr unerträglich gewesen. „Nur noch zwei Stationen“, hatte sie sich gesagt. Dann hatte sie nachgegeben. Heiße Tränen waren ihr über die Wangen geronnen.

Zu Hause hatte sie ihrem Freund den Vorfall geschildert. Wieder hatte sie es nicht geschafft, ihre Tränen zu unterdrücken. Sie schämte sich dafür, der Freund verstand es nicht. „Da musst du drüber stehen. Der ist doch beschränkt. Stell dir vor, was der erlebt haben muss, um so zu werden. Wenn er sich nur traut, Mädchen, die alleine sind, anzugreifen, ist er echt geistig beschränkt.“

Es lag nicht daran, was er zu ihr gesagt hatte. Seine Vorwürfe waren lächerlich und haltlos. All die Passanten hatten nicht ein einziges Wort gesagt, um ihn zum Schweigen zu bringen oder sie zu verteidigen. Warum auch? Nicht einmal sie selbst wusste sich zu wehren. Sie fühlte sich gedemütigt und entwürdigt. Das warme Wasser der Dusche tat sein Bestes, um diese Gefühle wegzuspülen.

Judith Wiesauer

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