Mathis - schon sein Name verhieß die wohl konservativste Sexfantasie aller Frauen: ein heißer, französischer Sommerflirt.
Auf einer Interrailreise mit Freundinnen traf ich ihn und hatte mich vom ersten Moment an unsterblich in seine großen, dunklen Augen verliebt. Er war mit seinen Kumpels gerade Richtung Italien unterwegs, und wir hatten eine Rundreise in Frankreich geplant. Er war aufregend, schön und der erste Mann, bei dem ich mich selbst auch so gefühlt hatte.
Wir teilten uns Schlafsack und Frühstück, beschlossen schließlich wagemutig, unsere Freunde per Zug weiterziehen zu lassen und zu zweit noch einige Wochen am Meer zu verbringen.
Die klischeehafte Vorstellung eines französischen Sommerflirts versetzte mich in einen Glücksrausch, der nur dadurch gesteigert wurde, dass die Realität genau jener Vorstellung entsprach. Die Wochen vergingen im Liebesrausch und waren voller klebrig-süßer Erinnerungen.
Nach einer emotionalen Trennung, bei der ich von dem Moment an, als Mathis mich zum Flughafen Marseille brachte, nur Rotz und Wasser geheult hatte, begann der Alltag meines Studiums im nebeligen Wien.
Ich sehnte mich so sehr nach der Wärme, der Sonne und seinen Berührungen, dass ich mich in einer Art Trancezustand befand, aus der ich nur für die täglichen Skypeanrufe von Mathis, die oft bis tief in die Nacht dauerten, erwachte.
Die Trance hielt an und überdeckte für lange Zeit alles, was um mich herum und in der Welt geschah. Fast hungernd nach Liebe wartete ich sehnsüchtig auf Mathis, der mich Mitte Oktober für einige Tage in Wien besuchte. So verliebt wie ich war, merkte ich trotzdem, dass sich etwas verändert hatte. Die zwanglosen Plaudereien und die tiefgründigen Gespräche hatten schleichend einen bitteren Beigeschmack bekommen, denn trotz unserer jugendlich naiven Offenheit vermieden wir ein Thema, bei dem wir uns beide wohl zu unsicher waren, wie der andere darüber dachte.
Als Mathis zurückflog, fand ich mich wieder in der Rolle der unglücklich Leidenden, die ich über die Wochen perfektioniert hatte. Meine Mitbewohnerin Marie reagierte auf mein Leiden jedoch nicht mehr wie am Anfang des Herbstes mitfühlend liebevoll sondern abweisend und kurz angebunden. Ihre kaltschnäuzigen Reaktionen brachten mich zum Grübeln. Vielleicht lag es daran, dass sie keinen Freund hatte. Ich beschloss, dieser Version meinen Glauben zu schenken und Maries schlechte Meinung bezüglich Mathis auf ihre Eifersucht zurückzuführen. So erwähnte ich Mathis kaum mehr in ihrer Gegenwart.
Wie sehr ich mich täuschte, erfuhr ich erst Wochen später.
Nun kam für mich die Zeit der Ereignisse, die bereits unaufhaltsam über Europa hereinbrachen, für die mein verklärter Verstand allerdings kein Interesse aufbringen konnte.
Marie war schon vor einiger Zeit sehr aktiv geworden, sie hatte beim Roten Kreuz als freiwillige Mitarbeiterin bei der Koordination und der Verpflegung von Flüchtlingen mitgeholfen. Ich begriff das Ausmaß dieser humanitären Katastrophe erst, als sie Freunde zu uns eingeladen hatte, die davon berichteten, dass sie im Sommer bereits gestrandete Flüchtlingsboote auf Lesbos gesichtet hatten und nun gerade aus Slowenien zurückkamen, wo sie gewesen waren, um Hilfsorganisationen zu unterstützen.
Alle schienen in Bewegung, alle schienen zu wissen, dass sie etwas tun sollten und sie taten es, ohne dabei ihre moralische Überlegenheit zur Schau zu tragen. Es war ein bereits begonnener Prozess, und obwohl dessen Ende kaum absehbar war, hatten sich alle mit Enthusiasmus und nie vermuteter Energie daran beteiligt. Ich kam mir vor wie der letzte Idiot und der größte Egoist.
Schließlich fand auch ich, dem Schicksal einer vom Leben gelangweilten und zugleich verwöhnten Göre entkommend, eine Aufgabe, die mich vollends ausfüllte und zugleich auch von Mathis ablenkte. Ich half eine Zeit lang am Wochenende in Nickelsdorf mit und gab, als es mein Studium nicht mehr erlaubte, Deutschnachhilfestunden für minderjährige Flüchtlinge.
Meine hitzigen Gefühle für Mathis nahmen stetig ab, und das Skypen war nun längst nicht mehr das Wichtigste in meinem Leben. Im Gegenteil: Häufig hielten wir uns beide kurz angebunden und riefen uns vielleicht jeden zweiten, dritten Tag an.
Als die Terroranschläge Paris erschütterten, rief ich Mathis sofort an, er war schockiert, doch er war in Sicherheit. Hilflos und zugleich wortkarg wehrte er jedes meiner Angebote ab, ihn zu besuchen.
Es sei zu gefährlich, es sei momentan einfach das Chaos. Es sei dunkel im Land geworden.
Letztendlich kam der Dezember und mit ihm erstmals eine Erschöpfung in den Augen meiner Freunde. Marie hatte kaum Zeit gefunden, neben ihren Job in der Bibliothek und ihrer Freiwilligenarbeit für ihr Studium zu lernen und auch ich hatte einen Zustand der Erschöpfung erreicht.
Als ich Mathis wieder einmal am Abend hörte, war ich gereizt und präsentierte mich nicht, wie sonst, von meiner besten Seite.
Von meinem erwachten Interesse am Geschehen der Welt lenkte ich unser Gespräch weg von den üblichen Belanglosigkeiten hin zu einem brisanteren Thema: Frankreich und die Regionalwahlen.
Im Hintergrund der Terroranschläge verstand ich die allgemeine Unruhe und das Misstrauen, allerdings fand ich es keine Rechtfertigung für die Wahl einer rechtskonservativen Partei.
Zum ersten Mal stritten wir uns heftig, diskutierten laut, wovor wir beide so lange die Augen verschlossen hatten: unsere unterschiedlichen politischen Ansichten.
Ihm war die Front National zu „weich“, er forderte ein Frankreich, das nur für Franzosen war und nun spürte ich auch seine Verachtung gegenüber meinem erwachten Mitgefühl und meiner freiwilligen Arbeit.
„Euch wird das alles einmal über den Kopf wachsen, ihr werdet noch sehen, was euch eure scheiß liberale Einstellung gebracht hat!“
Seine Worte hallen mir noch immer nach, und ich weiß noch immer nicht, wo sich Europa hin entwickeln wird. Aber ich weiß, dass die Sehnsucht nach Mathis, meiner großen Sommerliebe, nicht mehr andauern wird.
Nene Stark
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16015