Kapuzinergruft

Paul sank tiefer, immer tiefer in die Polsterung seines Lehnstuhles. Es bereitete ihm große Mühe, die Augen offen zu halten. Die letzte Zigarette hatte zarte Rauchschwaden hinterlassen, die sich feig in Richtung sichtundurchlässiger Gardine, zum halb geöffneten Fenster hin davonmachten, um sich von dort in trägen blauen Windungen den Weg nach draußen zu suchen, wo sie hoffen konnten, Anschluss an die sonntags eingetroffene Westströmung zu finden.

Er las den letzten Absatz der Zeitung immer und immer wieder. Vielleicht machte ihn gerade das so müde. Niemand könne verhindern, dass sich Täter mit Sprengstoff unter die Menge mischen! Keiner könne eine Messerattacke verhindern! Was für Zeiten! So was hatte es immerhin zu Kaisers Zeiten auch schon gegeben, beruhigte er sich. Schöne Beruhigung! Was für eine Welt, dachte Paul. Die offene Zeitung glitt sanft seine Beine entlang zu Boden.
Als wandelte er wie im Traum seinen gewohnten Weg, die Josefsgasse hinunter, vorbei an dem Haus, wo Oskar Werner gewohnt hatte, an den er sich noch erinnerte, als wäre es gestern und auch an das Gasthaus an der Ecke zur Josefstädterstraße, in dem jener gerne verkehrte, jetzt Restaurant zur „Frommen Helene“. Von dort aus überquerte er die Auerspergstraße, davor der berüchtigte und vor hundert Jahren beliebteste Duellplatz der jungen Herren aus gutem Hause. Duelle gab es hier heutzutage keine mehr, zumindest nicht mit Degen, aber dafür andere, solche mit Autos.

Warum sollte ausgerechnet diese Stadt vielleicht jetzt auch noch Zielscheibe des Terrorismus werden? Pauls Stirne zeigte deutlich Falten. Erst viel später war hier die legendäre Vergnügungsmeile entstanden, eine zwei Kilometer lange Demarkationslinie zwischen Neubau und Josefstadt bildend, zwischen Musik und revolutionärem Geiste. Doch heute – heute donnerte der Verkehr an den ehrwürdigen Palais vorbei und färbte ihre ehemals blendend weißen Kalksteinfassaden grauschwarz. Das vielgerühmte Walzerviertel, in dem einst Strauß und Lanner gewohnt hatten, war mittlerweile alles andere als romantisch, aber – was sollte es, heute war trotzdem ein besonderer Tag, nämlich der Tag des hundertsechsundachtzigsten Geburtstags des Allerhöchsten, der heute gefeiert wurde, posthum quasi, wenn auch nur in kleinem Kreis, und bei weitem nicht so pompös wie damals.

Vom Burggarten her waren Trommeln und Blechmusik zu hören, sie kamen näher und näher, hin in Richtung Kapuzinerkirche am Neuen Markt. Paul schob sich unauffällig unter die Menge, die sich, bunt gemischt, aus Alt und Jung, mit Dirndl und Lederhose oder im T-Shirt, militärbemützt, mit und ohne Regimentsfahne durch die widerspenstige, immer wieder zufallen wollende Kirchentür drängte. Es gab noch freie Plätze. Paul setzte sich in eine Bank nahe dem rechten Seitenaltar. Neben ihm eine ältere Dame mit weißen Handschuhen und Gehstock.

Niemand könne verhindern, dass sich Täter mit Sprengstoff unter die Menge mischen! Der Satz ließ ihn nicht los. Wer würde solche Menschen wie diese Frau hier und diese Menschen hier wegen ihres Glaubens zu Opfern machen wollen?, dachte Paul. Für wen würden solche Sinnlosigkeiten Sinn machen? Was stand wirklich hinter diesem Wahnsinn, der nun schon seit Jahren beinahe weltweit tobte? Paul sah sich um. Das Altarbild zeigte Jesus Christus, auf einer Wolke schwebend, mit der Linken ein mächtiges Holzkreuz umklammernd. Nie zuvor hatte ihn der Anblick dieses Bildes so sehr berührt wie eben. Die Schar der Begeisterten würde auch immer kleiner, raunte ein Besucher hinter ihm. Vor zwanzig Jahren hätte man hier keinen Platz mehr gekriegt um diese Zeit, meinte ein anderer.
Paul schaltete sein Handy ab und schob es in die Rocktasche. Die meisten der Anwesenden waren nicht besonders festlich gekleidet, und unter die Uniformierten und Trachtenbejoppten hatten sich zahlreiche neugierige Touristen gemischt, mit offenen Blusen, verschwitzt, mit allerlei Souvenirzeug beladen. Draußen - ein warmer Augusttag, wo sich Radfahrer auf Radwegen tummelten, drinnen - angenehme Kühle und leises Geflüster. Autolärm drang herein. Rechts von Paul, am Boden, eine von unten her beleuchtete Öffnung, in Stein eingelassen, die Gruft des Marco d´Aviano. Eine Dame links von ihm blätterte laut raschelnd im schwarz-gelb gehaltenen Festprogramm.
Paul rutschte unruhig auf der harten Holzbank hin und her und suchte nach einer bequemen Sitzposition, was ihm nicht so ganz gelingen wollte. Hinter ihm zischelte man sich alte Geschichten längst vergangener Tage zu, wohl um sich einzustimmen auf die Zeitreise für diese alljährliche Feier. Und ob man schon gehört hätte, es wäre wieder wo eine Bombe hochgegangen. Naja, im Ausland, sagte einer.
Nicht nur anderswo, auch bei uns wäre so ein Anschlag möglich, dachte Paul. Schrecklich der Gedanke! Er war neulich im Wiener Musikverein. Ein herrliches Konzert, aber schon in der Eingangshalle überlegte er, da befinden sich Hunderte Menschen völlig unkontrolliert in einem öffentlichen Gebäude. Wenn sich da ein paar Typen mit Sprengstoffgürteln daruntermischten, konnte Fürchterliches geschehen, und er hatte sich besorgt umgesehen. Ausschau halten, dachte er, nach Personen, die so aussehen wie…

Ein kahlköpfiger Pater in brauner Kutte entzündete bedächtig die mächtigen Kerzen am Hauptaltar. Dann strömten ordenbeladene, mit Umhängen ausgestattete, trotz allem Prunk sehr bürgerlich aussehende Würdenträger den Mittelgang entlang, hin zu den vordersten Reihen, um dort ihre Plätze einzunehmen. Mitglieder des Malteserordens wohl, durchfuhr es Paul. Das is´ ja der Präsident!, raunte jemand hinter ihm, do schau her! Was denn für ein Präsident, überlegte Paul fieberhaft und verrenkte sich beinahe den Hals. Zwölf rosarote Gladiolen zierten den Altarraum, in einer überdimensionalen Bodenvase steckend, links und rechts davon stand Grünes, in lehmgebrannten Töpfen. Ein Militärbemützter sank stöhnend auf die Sitzbank nieder, in der Paul saß, dass alles bebte.
Das Alter, dachte Paul. Wie würde er es erleben? Die Weißbemäntelten der ersten Reihen tuschelten untereinander und steckten die Köpfe zusammen. In schwarzem Tüll erschien eine offensichtliche Nachfahrin des Allerhöchsten, würdigen Schrittes, ganz nach vorne stelzend, sich ihrer Schirmfrauenschaft dieser Feier wohl bewusst und von allen begafft, setzte sie sich in die erste Reihe. Hinter ihr, Uniformierte eines Traditionsregimentes, mit Fahne, vorneweg tragend, ein dicker Hauptfeldwebel mit gezogenem Säbel, linke Hand abgewinkelt, Klinge auf seiner linken Schulter ruhend, Tschako schief am Kopfe sitzend, Gesicht hochrot.

Er selbst wäre zwar ein liberaler Mensch, dachte Paul, aber sollte man nicht jetzt überall Metalldetektoren aufstellen? Oder würde man die Leute damit bloß verunsichern? Noch mehr verunsichern als sie ohnehin schon waren? Dann kämen die mit den Säbeln hier erst gar nicht herein, musste Paul schmunzeln. Man muss sich bewusst werden, welch großartige Freiheiten man eigentlich hatte und dass man bislang relativ sicher gelebt hatte. Aber diese neuen Zeiten brachten einen völlig durcheinander.

Die Uniformierten verteilten sich im Kirchenschiff, sozusagen einzeln abfallend, jeder irgendwo, drei von ihnen etwas enger beisammen als der Rest. Der mit der blanken Klinge schritt bedächtig den Mittelgang entlang und musterte mit prüfendem Blick die Seinen und die Übrigen. Ein Säbel gegen Handgranaten oder Dynamit, dachte Paul. Was tun wohl die geheimen Nachrichtendienste vorausblickend, überlegte er? Ob die alle wirklich effizient zusammenarbeiten würden? So betrachtet wäre neun/elf mit hoher Wahrscheinlichkeit vielleicht zu verhindern gewesen, hatte einmal einer gemeint, die Geheimdienste hatten doch alle Informationen beisammen? Man hätte sie nur richtig zusammensetzen müssen.
Irgendwo fiel eine Münze zu Boden. Es gab ein klirrendes Echo. Vielleicht hatte man das große Ganze nicht gesehen, damals? Abgesehen davon hätte man denken müssen, wer heute dein Freund ist, kann schon morgen dein Feind sein. Ist doch lächerlich! Misstrauen wäre ein essenzieller Faktor. Und wenn schon, was könnte man selbst tun?
Paul zermarterte sich das Gehirn. Menschenansammlungen meiden, durchfuhr es ihn. Er betrachtete nochmals die Säbel, die da in die Luft ragten. Ein Ungleichgewicht. Und die Träger dieser archaischen Waffen wankten. Besonders glücklich sah keiner von ihnen drein. Ein alter Major, schief, mit Hohlkreuz, hielt die ihm anvertraute Fahnenstange mit beiden Händen fest umklammert. Seine Backenknochen mahlten hin und her. Die schmalen Lippen eng zusammengepresst, das graue Schnauzbärtchen hochgezogen, dann wieder gesenkt, hochgezogen, gesenkt. Was ging wohl in dem jetzt vor? Hatte er sich mental ins vorige Jahrhundert gebeamt? Oder war im bewusst, in welcher Zeit er eben lebte? Seine Augen lagen in faltenreiche Tränensäcke gebettet und glänzten etwas rot. Er stand Paul am nächsten von allen Militärs. Die Übrigen schienen gleichfalls einen äußerst müden Eindruck zu vermitteln, ja, einen beinahe hoffnungslosen, in ihren schlotternden Gewändern, und so krumm, wie sie alle dastanden.

Da plötzlich setzte die Orgel zu spielen ein, und die Leute begannen schleppend dazu zu singen, obwohl der Organist bemüht war, etwas Tempo in die ganze Sache zu bringen. Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken? Zwei Kapuzinerpater waren da vorne, der eine etwa Mitte fünfzig, mit langem, grauem Rauschebart, er las die Messe, der andere, wahrscheinlich siebzig oder älter, mit kürzerem Bartwuchs, ministrierte ihm. Paul gähnte. Er nahm erst wieder Anteil am Geschehen, als er die böhmakelnden Worte des Predigers vernahm, was dazwischen geschehen war, fehlte ihm plötzlich in seiner Wahrnehmung.

… und am zweiten Dezember achtzehnhundertundachtundvierzig wird er Kaiser von Esterreich gleichsam von Gottes Gnaden. Seine Arbeit war geprägt von großem Reformwerk und die Frichte seiner Arbeit hielten die Monarchie in ihrer Vielfalt zusammen, wodurch er zum Symbol der Esterreichisch-Ungarischen Monarchie geworden war. In fortgeschrittenem Alter zog er sich immer mehr und mehr aus den Amtsgeschäften zürick und wurde mehr und mehr zur Integrationsfigur dieser velkerverbindenden Konstellation. Er fiehlte sich als Soldat und Beamter, nicht zuletzt auch als toleranter, frommer - der Pater machte eine längere Pause - Katholik. So fiehrte ihn sein Weg vom Monarchen zum konstitutionellen Herrscher, der stets seine Pflicht als oberstes Ziel angesehen hatte.
Welche Botschaften aber, liebe Gleibige, soll uns sein Geburtstag ibermitteln? Er, der die Ideale der Monarchie bewusst gelebt hatte, ja, nämlich Pflichtbewusstsein, Unbestechlichkeit, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Ordnungssinn, religiese Toleranz, Achtung gegen den Feind und gerechte Justiz. All diese Werte werden damals wie heite genauso von uns allen gefordert, wie Ehrehrbietung gegen die Gesetze, Vorgesetzte und Angeherige. Franz Josef hatte stets versucht, seine Ideale in die Praxis umzusetzen.
Der Mensch, liebe Gleibige, ist unvollkommen, auch ein Kaiser, und der Mensch bewegt sich ständig in dem Spannungsfeld zwischen Besem und Gutem, darum braucht er Gottes Kraft, als Basis fir sein Lebenswerk. Und in der heitigen Zeit umso mehr. Drum, seien wir wachsam, liebe Gleibige! Das beginnt schon im Baumarkt. Wenn ein Kunde von einer Chemikalie, etwa einem Lesungsmittel, so viel kauft wie iblicherweise zehn andere Kunden zusammen, dann muss man sich als aufmerksamer Verkeifer zumindest die Frage stellen dirfen, wofir braucht der das eigentlich? Wenn wir wollen, dass es bei uns auf Bahnhefen und in Konzertsälen oder in Kirchen keine rigorosen Eingangskontrollen gibt, dann missen wir die Augen viel offener halten, liebe Gleibige, als bisher!
Daher wird von uns verlangt, dass jeder seine Pflicht tut. Eiropa ist heite zu einem mehr oder weniger friedlichen Vielvelkerstaat zusammengewachsen wie damals die Monarchie. Aber, wie wir alle wissen, wir beheimaten heite auch Menschen mit einem extremistischen Weltbild und wir beobachten Zellen gewisser Briderschaften, die uns nix Gutes tun wollen. Iberall suchen diese verstärkt nach deitschsprachigen Kämpfern, sogar in unserem Esterreich, auf dass diese ausgebildet werden, um dann in Deitschland oder sogar bei uns in Esterreich operieren zu kennen. Wir alle missen befirchten, dass es friher oder später auch in Esterreich zu solch einem Anschlage wird kommen kennen. Was der allmächtige Gott verhindern mege!

Paul war der Kopf nach vorn gekippt, als er jäh erwachte. Was hatte der Pater da gesagt? Er hatte nicht ganz verstanden. Paul rieb sich die Augen und sah unauffällig um sich. Er musste wohl eingenickt sein. Der Pater hinterm Altartisch schickte sich bereits an, seine Predigt mit den Worten zu beenden: Das bedeitet, dass unsere Pflichten heite genauso aufrecht sind wie damals und wir uns umsehen und vorsehen missen, damit wir auf dem rechten Wege bleiben! Amen. Vergelt´s Gott, murmelte die Menge. Die Himmel rühmen ... klang es an Pauls Ohr und er kramte nach seiner Brieftasche. Der Klingelbeutel wurde herumgereicht. Mit einem Male war auch die Kommunion vorbei, zu der sich alle, höchst umständlich, in ungeordneter Schlangenlinie angestellt und vorgedrängt hatten. Paul war gleichfalls aufgestanden, denn er konnte kaum noch sitzen vor Rückenschmerzen, hielt aber tapfer durch bis zum Schluss. Zum Segen hatte man sich erhoben und wartete die präludierende Paraphrase des Organisten ab, nachdem dieser gerade noch an einer wenig ans Ziel führenden, gefährlichen Modulation das Haydn´schen Themas vorbeigeschrammt war, um danach, gemeinsam mit der Menge, in die Melodie des Liedes „Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser, unser Land! Mächtig durch des Glaubens Stütze führ´ Er uns mit weiser Hand! Lasst uns Seiner Väter Krone schirmen wider jeden Feind: Innig bleibt mit Habsburgs Throne Österreichs Geschick vereint“, einzustimmen.

Paul kratzte sich hinterm Ohr, er sah auf seinen Taschenkalender. Es war schon zweitausendsechzehn, aber ganz sicher war er sich nicht. Ein Blick auf den alten Major machte ihn unsicher. Ein Degen blitzte im Licht der Kronleuchter kurz auf. Die Menge sang mehr oder weniger intoniert. Er selbst wagte anfangs nicht mitzusingen, dann jedoch öffnete er seine Lippen, er wollte singen, aber kein Laut kam über seine Lippen - er selbst meinte, dass er sänge, konnte sich aber nicht hören, und plötzlich schreckte er jäh hoch - in seinem Lehnsessel, im ersten Moment unfähig zu lokalisieren, wo er überhaupt war. Unbewusst führte er seine rechte Hand zum schmerzenden Rücken, um sich durch Reiben ein wenig Linderung zu verschaffen, was völlig wirkungslos blieb. Er gähnte lange und stand schließlich widerwillig auf, um sich Kaffee zu kochen.
Währenddessen steckte er sich eine Zigarette an und überlegte angestrengt, wo war er denn nun eigentlich stehen geblieben? Ach ja, da war doch gleich – ah ja, es war ja nur ein Traum, ein Traum, ja. Wenn auch nicht alles. Manches daran war ja Wirklichkeit, dachte er, als er die Zeitung vom Boden aufhob, verdammte Wirklichkeit! Paul warf einen Blick aus dem Fenster. Der Sommer ging langsam seinem Ende zu, er spürte es, und - irgendetwas erinnerte ihn daran, dass man seine Pflicht zu erfüllen – hätte – seine – Pflicht erfüllen .... wie damals .... aber welche Pflicht?

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16041

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