Aurouggla – Teil 1
Es herrschte heller Aufruhr im Hause, die Koffer waren gepackt, das Taxi stand mit laufendem Motor vor dem Haus, fehlten nur noch die Fahrgäste. Wenn zwei junge Menschen einander die Ehe versprechen, dann ist das schon ein bedeutendes Ereignis für alle Beteiligten, für die Eltern selbstverständlich, aber auch für die engeren Verwandten und ganz besonders für die Geschwister des Brautpaares. Die Schwester heiratet! Mir, als dem jüngeren Bruder mit meinen vierzehn Jahren eigentlich ziemlich wurscht, wenn nicht – wenn nicht die Hochzeit im Ausland gefeiert worden wäre. Genauer gesagt, in Italien. Obwohl – so sehr in Italien wieder auch nicht, nämlich in Südtirol, in einem kleinen Dorf oberhalb von Meran, welches Avelengo hieß und heute noch so heißt, zu Deutsch – Hafling. Dieses idyllische Dörfchen liegt auf dem Höhenzug des Tschöggelberges, den kennt doch jedes Kind, links der Etsch zwischen Meran und Bozen. Es ist ein bekanntes Schi- und Wandergebiet und, wie sich später für mich herausstellen sollte, auch ein interessantes Klettergebiet.
Westbahnhof Juli neunzehnhundertsiebzig. Der Transalpin wartet geduldig, bis wir den ganzen Plunder an Bord haben. Es gibt noch Dienstmänner mit hölzernen Leiterwagen, die das Gepäck auf den Bahnsteig transportieren, wenn ich mich jetzt daran erinnere, mit Mützen auf und Nummern dran, wie im Film „Hallo Dienstmann“, beinahe unglaublich. Bin ich wirklich schon so alt?, denke ich eben.
Na, Mutter ist hysterisch, sie hat schon lange keine Reise gemacht, noch dazu eine mit dem Nachtzug. Vater ist schweigsam. Ihm gefällt die ganze Sache schon von Anfang an nicht.
Und ich? Ich schaue mir die Gammler an, die ihren Armysack vor sich liegen haben und sich eine Zigarette drehen. So möchte ich auch einmal werden, denke ich. Einmal in die weite Welt hinaus, allein, ohne, dass einem die Alten andauernd dazwischenquatschen. Und so einen grünen Parka möchte ich auch gerne haben. Mit vielen Taschen dran, und sehr weit muss er sein, und ziemlich zerknittert. Nie darf man was! Ich arbeite dran. Immerhin habe ich schon längere Haare als die anderen Jungs in meinem Alter.
Der Zug fährt ab. Wir sitzen zu fünft im Abteil. Meine Schwester, ihr zukünftiger Mann, Vater und Mutter, ich. Um einundzwanzig Uhr verabschieden sich die Eltern, um in den Schlafwagen hinüberzugehen. Mutter macht Zicken, sie faselt was von schwindelig sein und so. Ich kann das nicht verstehen, ist doch aufregend alles, eben! Um zweiundzwanzig Uhr ist sie wieder da, die Mama, hysterisch wie zuvor, kann nicht schlafen und setzt sich zwischen uns.
So, jetzt haben wir alle auch keinen Platz im Abteil. Spinnst du, hat der Schwiegersohn in spe zu ihr gesagt, als sie mit der Decke bei uns aufgetaucht ist. Das hätte er nicht zu ihr sagen dürfen, ein Leben lang hat sie das nicht vergessen und uns immer wieder davon erzählt, obwohl wir die bedauerliche Geschichte bis zum Kotzen kannten.
Ich aber liege in meinem neuen Schlafsack unter der Sitzbank und bin glücklich. So wollte ich schon immer mal reisen. Wenn auch allein. Es geht zwar nicht nach Indien, aber immerhin, das Gefühl ist es, das es ausmacht, das Gefühl! Denn sonst – it quite doesn’t make it! Auf diesen kurzen Satz bin ich stolz, habe ich aus „Good morning, Vietnam“. Man muss eine Olive haben, für den Martini, auch dort, wo es völlig unmöglich ist, eine herzukriegen. Das ist cool!
Um sieben Uhr Früh erreichten wir Innsbruck, stiegen dort in einen Expresszug nach Rom um und erreichten nach nochmaligem Umsteigen einen der schönsten Kurorte der Welt – Meran. In diese Stadt habe ich mich sofort verliebt und denke stets mit Wehmut an ihre blühende Blumenpracht im Kurpark, an die riesigen, exotisch anmutenden Palmen an den steilabfallenden Südhängen, an die sie wie zum Schutz vor allzu neugierigen Blicken umgebenden Berge oder an die reißende Etsch, auf der wagemutige Kajakfahrer für die neugierigen Zaungäste auf den Brücken ihren kunstvollen Wellentanz vorführten.
Was für eine Stadt! Wenn ich mich umsehe, alles in allem ein fein geschliffenes Konglomerat aus knorrigen Eingeborenen in blauer Schürze mit vom Munde hängender Pfeife, das – aufgelockert durch die unverwechselbare Grazie anmutiger italienischer Mädchen in knappsten Hotpants mit wehendem Haar auf ihren knatternden Vespas – (die Vespa, beliebtestes Fortbewegungsmittel aller Altersstufen. Die Jungen fahren eine 50er, führerscheinfrei, die Alten alles ab 75 Kubikzentimeter bis 250. Die kann schon ein wenig flotter sein. Ich kriegte dort eine 50er in Orange ganz für mich allein zur Verfügung, sie gehörte dem Bruder meines neuen Schwagers. Aber davon später.) – äh, wo war ich stehengeblieben? Aja, - seine Gegensätze kaum vielfältiger und bunter hätte erscheinen lassen können. Ich konnte dieses Schauspiel kaum fassen und mich gar nicht daran sattsehen. Auch in späteren Jahren nicht.
Zwei italienische Taxis brachten uns über die Via Winkel, Winkelstraße, diese Bezeichnung hält mich bis zum heutigen Tag in ihrem sonderbaren Bann ihrer Bedeutung , zur Drahtseilbahn nach Avelengo, die, sehr zu meinem Bedauern, bereits vor mehr als zwanzig Jahren durch eine großzügig angelegte Panoramastraße ersetzt worden ist.
Unnötig zu bemerken, dass mit diesem Bau wieder einmal eine Menge Natur zerstört wurde. Der Schwager regelte das alles mit den Taxlern auf Italienisch. Ich fand das sehr mondän. Und erst das fremde Geld. Tausend Lire! Ich dachte weiß Gott, wie viel das wäre.
Damals kriegte ich hin und wieder fünf Schilling Taschengeld. Aus pädagogischen Gründen, wie der Herr Papa immer zu sagen pflegte. Schließlich musste er es wissen, er war ja schließlich einer, ein Pädagoge nämlich.
Mit dieser Seilbahn also ging es hinauf auf das dreizehnhundert Meter hoch gelegene Hafling, an deren Endstation ein niedliches Holzhäuschen stand, Wohnhaus und Gaststätte zugleich, mit großzügiger Veranda, bunten Sonnenschirmen und einer vollschlanken lachenden Wirtin darin, mit roten Bäckchen, nicht zuletzt die Besitzerin sogenannter Bar Diana und – zukünftige Schwiegermama meiner Schwester.
Da war auch gleich der Hausherr zur Stelle, Förster von Gnaden, eher wortkarg und zurückgezogen, aber mit listigem Witz ausgestattet, den er, wenn auch nur selten, dann aber treffend, auf seine Mitmenschen loszulassen verstand. Ich selbst wurde einmal Zeuge seines krausen Humors, als er deutschen Touristen eine Auskunft gab. Es war immer dieselbe Situation. In Intervallen von zehn Minuten spuckte die Bahn täglich zehn bis zwanzig deutsche Gäste aus, die, aufgekratzt wie sie nun mal sind, eine Minute später vor der Bar Diana versammelt waren und sogleich, wie auf ein geheimes lautloses Kommando, die Anweisungen auf den grünen Orientierungsschildern unisono zu lesen begannen: Wandern und Reiten auf Haflinger Pferden! Was wie folgt so klang, und bei allen immer gleich, nämlich: Wandan und Raitn auf Hafflinger Ferdn! (sic!) Nachdem, und obwohl sie auch das Schild „Wanderweg nach Falzeben – Gehzeit zwei Stunden“ gelesen hatten, fragten sie sicherheitshalber dann doch beim Oberförster einmal nach: Sie, guter Mann, wie lange läuft man denn da? Abgesehen davon, dass manche Bundesbürger Probleme mit dem Lesen hatten und anstatt „Falzeben“ „Fallersleben“ lasen, der Namen durfte ihnen offensichtlich irgendwie geläufig gewesen sein.
Seine Auskunft fiel also ungefähr so aus: Erst sah er prüfend in den Himmel, dann rückte er, um die Spannung zu erhöhen, seine Hose über dem Bauch zurecht, knöpfte den obersten Knopf seiner Weste zu und sagte schließlich, während die gehfreudigen Germanen schon langsam zappelig geworden waren, ja, wenn sie laufen wollen, und dabei machte er ein sehr ernstes Gesicht, dann sind Sie in einer halben Stunde dort. Da erhellten sich die Gesichter der Wartenden, denen man die ungeheure Spannung schon an ihren Falten ablesen konnte.
Danke, guter Mann, pflegten die Wandervögel dann überglücklich und sichtlich erleichtert zu antworten und schritten ohne Umschweife, durch die präzise fachmännische Auskunft dieses hervorragenden Kenners der Region in ihrer Absicht bestätigt, dieses Stück Land für sich vereinnahmen zu wollen, sofort tapfer drauf zu, stolz, sich mit einem Einheimischen so wunderbar verstanden zu haben. Erst als sie gegen siebzehn Uhr völlig aufgelöst und kraftlos, mühsam auf ihre Wanderstöcke gestützt, mit den praktischen Fahrradklingeln dran, zurückkamen, um gerade noch die letzte Bahn nach unten zu kriegen, beschwerten sie sich bei der Wirtin, sie wären drei Stunden gelaufen, und die Auskunft dieses Mannes da sei nicht korrekt gewesen.
Unerhört das, man verließe sich sonst auf solche Informationen, hieß es! Solche Wanderstöcke, auch Alpenstangen genannt, mit st, nicht scht, setzten die deutschen Gäste übrigens sehr gerne gegen die auf der staubigen Straße Richtung Falzeben oftmals allzu eiligen Vespa- oder Autofahrer ein, und hielten sie quer über die Fahrbahn, sodass die Fahrer jäh abbremsen mussten. Das führte immer wieder zu Ärger mit den Einheimischen, die ja nicht nur zum Vergnügen auf diesem Wege unterwegs waren. Man kann sich denken, dass sich die Touristen dadurch bei ihnen nicht gerade beliebt gemacht hatten und so kam es immer wieder zu handfesten Auseinandersetzungen, die auf der einen Seite mit „Scheißpiefke, stellt’s aus“, also weicht aus, oder „Geht’s holt oubn aufm Woldweag, eis Oaschlächa!“, (nicht übersetzbar) und auf der anderen Seite „Bloß nich’ so dolle hier, ja, jute Leutchen! Wir wolle’ hier staubfrei!“ ausfielen. Die erschöpften Touristen aber taten der Muata (Mutter), auch Moidl genannt, was so viel wie Maria bedeutete, nicht unbedingt immer leid und so lachte sie nur aus vollem Hals und wünschte ihnen eine gute Reise hinunter nach Meran.
Mein Gott, was habe ich dieses Idyll geliebt! Die Muata hatte mich sofort ins Herz geschlossen. Und mehr noch, als ich mich nicht nur bloß als unnützer Fresser, sondern obendrein noch als geschickter Maler und Erneuerer der Hausfassade erwies. Dieser traditionelle Tiroler Blockbau hatte nicht zuletzt zahlreiche kunstvoll geschnitzte Holzsäulen an den verschiedensten Ecken vorzuweisen, sondern auch unzählige Fensterläden und jede Menge anderes Holzzeug, das nach frischem Lack verlangte. Mir war ohnehin langweilig und so hatte ich eine würdige Beschäftigung gefunden, indem ich lustig den Pinsel in Grün und Weiß tauchte, um dieses höchst ehrwürdige Denkmal bodenständiger Alpen-Architektonik so gut ich es verstand zu verschönern. In diesen Dingen bin ich ziemlich geschickt. Die Muata honorierte meine Arbeit nicht allein durch Lob, sondern ließ sich auch nicht lumpen und steckte mir in nicht allzu langen Intervallen immer wieder Zwei- oder Drei- oder Fünftausend-Lire-Scheine zu, für mich damals eine unglaubliche Menge Geld, welches ich in diversen Jeansboutiquen oder Buch- und auch schon mal Tabakläden in Meran sinnvoll anzulegen verstand.
Nach getaner Arbeit am Vormittag und einem opulenten Knödel-Mahl pflegte ich mich mit meiner Lektüre und einer Lesepfeife in Huckleberry-Finn-Manier in den im schattigen Garten des Anwesens aufgestellten Liegestuhl niederzutun und Karl May zu lesen, vorwiegend jene Romane, die im Morgenland und auf dem Balkan handelten, und zu denen mein Tschibuk also besonders gut zu passen schien, auch wenn mir beim Rauchen dieses filterlosen Kokshammers höllisch die Zunge brannte und mich ein trockener Husten quälte, so als hätte ich schon Tuberkulose.
Die eben erwähnte traditionelle Knödelspeise pflegte man hierorts jeweils in zweierlei Gestalt zu nehmen, einmal zu Wasser, also in der Suppe, und andererseits zu Land, etwa mit Geselchtem oder Gemüse. Dass es sich dabei um Speckknödel handelte, muss für Kenner der Region wohl nicht extra erwähnt werden.
In diesem Liegestuhl ward das Träumen geboren. Wenn ich heute die Augen schließe und mir vorstelle, wie das denn gewesen sei, dann fühle ich vorerst einmal die Sommersonne, wie sie unbarmherzig auf mich herabbrannte. Schließlich wollte ich eine knackige Farbe mit nach Hause bringen. Wenn ich es schaffte, angestrengt durch die engen Sehschlitze meiner Augen die Helligkeit des Lichts zu durchdringen, dann sah ich unter mir die Stadt in sirrendem Dunst liegen, ihre Silhouette in diffuses Licht getaucht. Dahinter die blauen Berge Richtung Mailand.
Noch schöner und fantasieanregender im Licht der frühen Abenddämmerung. Diese Stimmung trug ganz besonders dazu bei, mein Fernweh aufs Äußerste zu strapazieren, und ich sah mich schon mit Schlafsack und Gitarre auf dem Rücken in Richtung Rom unterwegs und dann nach Marokko und eben dorthin, wohin die damaligen Hippies in diesen Jahren normalerweise zu reisen pflegten. Das hatte ungeheuren Nachahmungscharakter, dem man sich nur schwer entziehen konnte. Mich brennt’s in meinem Reiseschuh, hatte ein Freund damals gesagt. Und schon wurde er per Interpol in halb Europa gesucht. Dort war er aber nicht. Schließlich wurde man seiner in Delhi fündig, und er wurde auf Intervention der Österreichischen Botschaft nach Hause zurückgebracht.
Auf diese Weise wollte ich nicht e n d e n ! Obwohl – aber das ist eine andere Geschichte. Vielleicht komme ich darauf noch einmal zurück. Aber vorerst musste ich einmal hier bleiben, trotz meiner Grundausstattung für Tramper, mit der ich schon einmal probeweise angereist war, unter elterlichem Schutz und deren Obsorge, untergebracht im vornehmsten Hotel vor Ort, dem Belvedere. Im großen Saal dieses Hauses sollten dann ja auch schließlich die Hochzeitsfeierlichkeiten stattfinden. Das Hotel stand direkt am Ende des Felsmassivs, welches geradewegs nach Meran hinunter abfiel. Eine Art Adlerhorst, so wie ich es empfand und genoss.
Von da an wusste ich, ich würde nur mehr an erhöhter Stelle wohnen, weil der Blick von oben immer erhabener ist als der von unten hinauf.
Norbert Johannes Prenner
www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16081