Zu Besuch
„Und, hilft er wenigstens im Haushalt mit?“ Birgit seufzt. Diese Frage stellt ihr jeder, seit sie mit Arif einen 16-jährigen syrischen Flüchtling bei sich aufgenommen hat. Die Skepsis, die ihr entgegenschlägt, kommt von allen Seiten. Von ihrer eigenen Familie erfährt sie diese genauso wie von Arbeitskollegen oder Nachbarn.
Am Anfang war der Tenor zu ihrem Engagement noch sehr positiv, aber nachdem sich die Medienberichterstattung seit den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht im Jahr 2015 völlig gewandelt hatte, ist nicht mehr viel übrig geblieben von der Nächstenliebe und dem sozialen Denken.
„Hast du nichts von dem Mädchen gehört, das von einem Flüchtling vergewaltigt und danach erschlagen wurde? Hast du keine Angst, dass dir das auch passieren könnte?“
Nicht alle Geschichten, die erzählt werden, sind Vorurteile oder Lügen. Manches davon ist auch wahr. Aber Birgit hat keine Angst. Sie braucht Arif nur in die Augen zu sehen, um zu wissen, dass in ihm eine gute Seele steckt. Sie glaubt nicht daran, dass ihr Arif jemals eine Falle stellen könnte.
„Nein, er hilft nicht mit im Haushalt. Er sitzt die meiste Zeit herum und starrt auf sein Handy. Sein einziger Freund ist zwei Stunden entfernt von uns in Wien. Arif sitzt dagegen bei mir in einem Vorort von Linz fest und hat den ganzen Tag nichts zu tun“, sagt Birgit.
Die junge Mutter ist stets ehrlich, wenn die Familie sie nach Arif fragt. Nur bei den Menschen, die sie auf der Straße auf ihren Hausgast ansprechen, zuckt sie auf solche Fragen lediglich mit den Schultern.
„Ja lernt er denn kein Deutsch?“
„Der nächste freie Kurs ist im Herbst.“
„Spielt er mit deinen Kindern?“
„Eher selten. Er ist sehr nach innen gekehrt.“
„Das macht dir keine Sorgen?“
„Nein. Er hat viel durchgemacht. Man muss ihm Zeit geben.“
„Schreibt er auf Arabisch?“
„Ja, das ist seine Muttersprache.“
Die Fragen enden schnell. Die Familienmitglieder tauschen ein paar sorgenvolle Blicke untereinander aus. Das Thema wird gewechselt. Niemand will Birgit ihr Engagement ausreden, aber Bewunderung erntet sie dafür auch keine. Die Skepsis bleibt.
Zu Hause
Arif sitzt in seinem Zimmer und schreibt mit seinem Freund Hassan Nachrichten am Smartphone hin und her. Hassan erzählt ihm, dass er gestern im Park Fußballspielen war mit anderen Buben aus Syrien. Sie hatten dafür endlich einen echten, runden Ball verwendet und keine selbstgefertigte Kugel, die sie aus alten Lebensmittelkartons gebastelt hatten. Es hat Spaß gemacht, schreibt Hassan. Arif lächelt. Er freut sich für seinen Freund, den er vergangene Woche in Wien besuchen war. Birgit fährt alle zwei Wochen mit ihm nach Wien, damit sich die beiden treffen können. Arif ist ihr dafür unendlich dankbar.
Hassan ist sein einziger Freund aus Syrien. Er hat es ebenfalls bis nach Österreich geschafft. Hassan ist die letzte Verbindung zu Arifs Heimat. Ohne Hassan wäre er ganz alleine auf dieser Welt. Mit Hassan spielte er schon, als sie beide noch ganz klein waren. Wenn Arif Hassan sieht, erinnert er sich an den Staub auf den Straßen, den sie aufgewirbelt hatten, als sie Ball spielten. Oder an den süßen Geruch von Kuchen, den sie gemeinsam aus dem Ofen von Hassans Großmama gestohlen hatten, kurz bevor er fertiggebacken war.
Plötzlich stürmt Birgits kleiner Sohn, der achtjährige Martin, ins Zimmer. Er öffnet die Tür ungefragt. Arif zuckt zusammen. Sofort fühlt er sich zurückversetzt in eine Stadt, die niedergebombt wurde. Nicht nur eine Rakete ist direkt im Nachbarhaus eingeschlagen. Arif hat viele Leichen gesehen. Und er hat ständig Angst, dass auch hier plötzlich eine Rakete neben ihm einschlagen könnte. Sein Trauma sitzt tief.
„Arif, willst du mir helfen? Schau, was wir meine Tante geschenkt hat! Einen kleinen Computer zum Basteln!“
Martin versteht nicht, dass Arif seine Sprache nicht kann. Er spricht mit ihm trotzdem Deutsch, und Arif tut auch immer so, als würde er es verstehen. Er will den kleinen Buben nicht enttäuschen. Auch dieses Mal nicht. Doch als Arif dieses Mal aufblickt, beginnen seine Augen zu leuchten.
Arif sieht, dass Martin einen kleinen Raspberry Pi in seinen Händen hält. Der Raspberry Pi ist ein billiger Einplatinencomputer ohne Gehäuse, von dem bereits mehr als sieben Millionen Geräte weltweit verkauft worden sind – auch nach Syrien. Arif hatte vor ein paar Jahren auf dem Raspberry Pi das Programmieren gelernt. Es war der einzige Computer, den er je besessen hatte. Er bastelte damals auch selbst eine Hülle für das Teil. Und lernte die Programmiersprache Python.
Arif beugt sich zum kleinen Martin herab und nimmt ihm behutsam die Platine aus der Hand. Gemeinsam geht er mit dem Jungen in sein Zimmer, um sie dort für ihn zu verkabeln, am Bildschirm anzustecken, das Betriebssystem zu installieren und in Betrieb zu nehmen. Als der kleine Computer zu surren anfängt und läuft, freut sich Martin und klatscht.
„Ja, du hast es geschafft. Danke!“
Ein paar Stunden später sitzen die beiden noch immer gemeinsam vor dem Bildschirm. Arif hat damit begonnen, den Raspberry Pi mit einfachen Befehlen dazu zu bringen, Songs, die Martin gefallen, abzuspielen. Als Birgit das Zimmer betritt, sieht sie sofort, dass sich etwas geändert hat. Bei Arif und Martin. Sie sieht Arifs Begeisterung, sein Strahlen in den Augen. Er blickt konzentriert auf den Bildschirm, und seine Finger bewegen sich blitzschnell über die angeschlossene Tastatur. Sie sieht auch die Freude in Martins Augen und den Stolz auf ihren Hausgast.
„Mama, Mama, Arif ist ein Computergenie! Er hat das neue Gerät von Tante Greta zum Laufen gebracht. Und schau, es spielt Helene Fischer ab!“
„Das ist ganz toll, Martin.“
Arif schreibt Martin ein Programm, das ein einfaches Ping-Pong-Spiel mit dem Lieblingssong des Jungen sowie den Figuren aus dem offiziellen YouTube-Video kombiniert. Der kleine Bub umarmt ihn. Arif lässt die Nähe zu. Er zuckt nicht weg und er lächelt. Es scheint ihm gutzutun. Noch nie zuvor hatte Birgit den syrischen jungen Mann lächeln sehen, außer wenn er mit seinem Freund Hassan gespielt hat. Die Mutter ist beeindruckt. Der zuvor so verloren wirkende 18-Jährige blüht dank des Computers regelrecht auf.
Neben Arabisch beherrscht Arif also noch andere Sprachen fließend. Sprachen, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Programmiersprachen wie Python, HTML und Java.
Birgit erkundigt sich im Dorf, ob jemand Arifs Fähigkeiten gebrauchen kann. Dann würde sich Arif vielleicht ein wenig nützlicher vorkommen, denkt sie. Und ihr Plan geht auf. Arif programmiert dem Bäcker seine Webseite. Zum Dank bringt er jetzt jeden Morgen frische Croissants vorbei und winkt Arif zu. Arif winkt zurück und lächelt.
Zu Besuch
Als Birgit das nächste Mal gefragt wird, ob „ihr Flüchtling“ denn mittlerweile im Haushalt mithelfe, antwortet sie: „Nein, aber er programmiert meinem Sohn fast jeden Tag ein neues Spiel. Und dem Bäcker die Webseite. Und dem Schuster hat er dabei geholfen, seinen Rechner neu aufzusetzen.“
Schweigen und Staunen. Keiner weiß, was er darauf sagen soll.
„Arif ist ein Computergenie“, sagt Birgit. „Er spricht viele Sprachen. Programmiersprachen. Aber auch sein Deutsch wird immer besser. Weil er den Drucker des Lehrers wieder zum Laufen gebracht hat, unterrichtet ihn dieser jetzt einmal pro Woche kostenlos. Er ist Arif so dankbar, weil er sich mit dem Gerät davor schon seit Monaten herumgeärgert hat. Und Martin ist auch ganz begeistert. Er hilft Arif jetzt ebenfalls beim Deutschlernen. Danach darf er immer seine frisch programmierten Spiele auf dem Raspberry Pi spielen, den du ihm geschenkt hast, Greta.“
„Hoffentlich sind das keine Killer-Spiele?“
„Doch, eines heißt sogar 'Fallen', also, falls es um dein Englisch nicht so gut bestellt sein sollte, das heißt: 'gefallen'. Da geht es darum, ängstliche Tanten und Omas abzuschießen. Das wolltet ihr doch hören, oder?“
Entsetzte Blicke und Stille. Birgit seufzt. Ihr Sarkasmus steigt automatisch mit dem Grad an Dummheit der anderen. Manche, denkt sich die junge Mutter, lernen's einfach nie.
Barbara Wimmer
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wundervoll, pointiert, toll !