Karl Roßmann kam nicht bis Oklahoma

Was der Dichter schafft, das muss so hingenommen werden, wie er es geschaffen hat… So wie er die Welt gemacht hat, so ist sie.
J.W. Goethe

1.
Als der sechszehnjährige Karl Roßmann – ein andermal ist er siebzehn – am Morgen eines Apriltages im Jahre 1912 mit der „Sibylle“ der Hamburg-Amerika-Line in den Hafen von New York einfuhr, stand er mit seinem Koffer an der Reling. Wie alle anderen Auswanderer aus dem Zwischendeck erblickte er zum ersten Mal die Freiheitsstatue. Eine Göttin mit Schwert, schien sie ihm, so hoch, staunte er, um sie wehen die freien Lüfte, sagte er sich, so also riecht Freiheit. Seine Nase witterte eine Mischung aus Rauch, Diesel, Tang und Fischöl. Er wurde fast ohnmächtig und begann zu phantasieren. Die Menge schwoll immer mehr an und drückte ihn gegen das Bordgeländer. Die Männer lüpften Hüte und Mützen, die Frauen schwenkten Tücher und Regenschirme.
Wie ein einziger Schrei drang Jubel aus tausenden Kehlen, das Ausatmen eines lange ausgesetzten Einatmens, vereint in einer unartikulierten Sprache, der Sprache der Hoffnung. Jeder an Deck, auch Karl Roßmann, meinte richtig gesehen zu haben, dass die Liberty ein Schwert hielt, glühend wie flüssiges Metall. Aber diese Armen wussten es nicht besser, es war Aurora, die Morgenröte, die die Fackel in der ausgestreckten Hand färbte und zu einem Schwert umformte. Schwert oder Fackel – das macht den Unterschied in den Vorstellungen von der Freiheit aus. Kampf oder Licht? Die europäische Geschichte kann es durchdeklinieren. Seit einer gewissen Wahl am 8. November weint sie und lässt die rußende Fackel nach unten sinken.

Weil Karl sich im Augenblick stark fühlte, hob er im Übermut seinen Koffer auf die Achsel. Er hatte keinen Regenschirm verloren, weil er keinen bei sich hatte. Ein sechszehnjähriger Provinzler pflegt keinen Regenschirm mit sich zu tragen, wenn er nach Amerika verfrachtet wird. Vor der Abreise war ihm zumute gewesen wie einem, der ins Wasser geht Seine Familie hatte ihn verstoßen, wie eine räudige Katze vor die Tür geworfen, ihn dafür bestraft , die dreiunddreißigjährige Köchin Johanna Brummer verführt zu haben. Karl glaubt sich zu erinnern, dass es umgekehrt war. Ist die schwarze Köchin da? Ja, ja, ja! Er muss nicht unbedingt von der Reling in den Schiffsbauch zurückgekehrt sein, nicht seinen Regenschirm vergessen und daher auch weder den Heizer, noch Franz Butterbaum noch den ungerechten Kassierer Schubal, keine Köchinnen, Matrosen und Offiziere und auch keinen Kapitän getroffen haben.

Mit Mühe das Gleichgewicht haltend und mit dem Koffer auf der Schulter ausbalancierend, wurde er in der festen Menschenmasse die steile, schwankende Fallreep hinuntergeschoben, vorne und dahinter von tausenden tappenden Menschenfüßen begleitet. Alle diese Körper drängten in einer umgekehrten Sisyphus-Bewegung in die Tiefe. Glück für die Ordnungshüter, in dieser Enge konnte niemand umfallen und Unordnung verursachen. Gepäck und Kleinkinder konnten schon verloren gehen, aber niemand wurde danach gefragt und niemand beschwerte sich.

Zum letzten Mal verschmolzen die Auswanderer, die die Hölle des Zwischendecks überlebt hatten, zu einem einzigen Körper wie die Sandkörnchen in der brodelnden Glasblase. Das schiffbrüchige Europa meinte, endlich im Paradies angekommen zu sein.
Bevor sie von der „Sibylle“ den Fuß auf den Boden Amerikas setzten, baumelten die Passagiere am Fallreep über dem Nichts, eine Ameisenstraße auf einem Grashalm, auf Trittseilen die Bordwand entlang steil hinunter. Karl träumte vor sich hin, dass die Menschen Gummibänder an den Füßen hätten, die sie, wenn sie von der Fallreep herunterpurzelten, wieder hochschnellen ließen. Das könnte man unzählige Male wiederholen. So ginge niemand verloren, und manche hätten sogar noch Spaß dabei. Der erste Weg in die Freiheit führte zuerst einmal in den Abgrund. Seit dem Untergang der Titanic waren erst acht Wochen vergangen, und die Leichen der Ertrunkenen kamen gerade bei Neufundland angeschwemmt . Die von der Lusitania sollten erste drei Jahre später an den atlantischen Küsten anlanden. Klein wie ein Froschteich ist das Mittelmeer dagegen. Was hat Amerika zu Amerika und groß gemacht?

Amerikanische und jüdische Fundamentalisten glauben, dass die Arche Noah nicht am Berg Ararat gestrandet ist, sondern 7000 Meilen weiter westlich, und das wäre genau in New York, auf der Insel Mana-hata der Algonquin-Indianer, ihrem „hügeligen Land“, oder im Nieuw Amsterdam der Niederländer. Da aber bisher keinerlei prähistorische Überreste gefunden wurden, steht uns die große Flut vielleicht noch bevor.

2.
Die „Sibylle“ hatte Glück, sie musste keine gelbe Flagge aufziehen, wie zuvor die Schwesternschiffe „Normannia“, „Moravia“ und „Riga“. Diese wurden weit draußen, sieben Meilen vor der Südspitze Manhattens in der Lower Bay vor Anker gesetzt. Gelbe Flagge hieß Seuchengefahr, Cholera. Eindeutig lautete die Warnung des Polizeichefs: Wer von Bord geht, wird erschossen. Kriegsschiffe bewachten die Auswanderer. Je länger sie dort lagen, desto mehr Passagiere stürzten sich von Bord der arretierten Schiffe. Kaum einer der Emigranten aus Süd- und Osteuropa konnte schwimmen. In der Stadt wollten die Bewohner keinen Fisch mehr essen. Trotzdem starben in New York jeden Tag neun Menschen an der Cholera. Die Furcht vor Seuchen weitete sich zu einer allgemeinen Hysterie aus. Wie der Erreger in die Stadt gelangt war, blieb ein Rätsel.

Die „New York Times“ forderten, die „schmutzigen Italiener, besoffenen Iren und verlausten Juden“ nicht mehr ins Land zu lassen.
Doch wer daran die Schuld trug, glaubten die Amerikaner zu wissen: die Ausländer.
Sie waren arm, krank, lebten in Slums, hatten keine Arbeit und verpesteten die Stadt. Die alten Amerikaner hassten die Immigranten aus vollem Herzen, die Presse hetzte offen. Sie sahen in ihnen minderwertige, halb menschliche Wesen und hielten sie sich möglichst vom Leib. Schlimmer als räudige Hunde und Ratten, druckten die NYT und gaben damit die Anregung, wie mit ihnen umzugehen sei. Vielleicht bringen sie nicht nur Seuchen und Ungeziefer, sondern auch Unfrieden? Soziale und kulturelle Konflikte waren vorgeplant.
In den frühen Jahren der europäischen Migration brachten viele Männer auch noch ihre Pferde mit, was vor allem in den Städten zu Chaos führte, wenn sie nicht schnell genug nach Westen weiterziehen konnten. Es gehört zu den Kuriositäten der Geschichtsvergessenheit, dass der angeblich uramerikanische Mythos vom Cowboy auf die Pferde der Einwanderer zurückgeht.
Vor allem den Immigranten aus Süd-Osteuropa wurde attestiert, nicht assimilierungswillig zu sein und aus Mangel an Kultur grundsätzlich unfähig, die amerikanische Welt zu verstehen. Wertekurse wurden damals nicht angeboten. Von allen Immigranten wurden nur die Deutschen einigermaßen willkommen geheißen, wegen des ihnen nachgesagten höheren Bildungsniveaus, ihres Arbeitseifers und strengen Familienzusammenhalts.

In der NYT wird ihre ausgeprägte „Achtung vor dem Staat und dem Gesetz“ hervorgehoben. Vor allem im Mittelwesten und in den New Yorker Stadtteilen Bronx und Queens bildeten sie kompakte Ansiedlungen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Hälfte der New Yorker Bürger nicht in dieser Stadt geboren. Donald Trumps Großvater Friedrich, ein Friseur aus der Pfalz, kam 1892 mit solch einem Transport an. Eine Schwester und ihr Mann lebten schon in New York, später noch eine Schwester mit Mann, Friedrich selbst brachte seine Frau aus Deutschland und eine dort geborene Tochter ins Land. Die Trumps hatten weitere familiäre Beziehungen zu den Heinzs und Krafts, die in der Lebensmittelindustrie Markennamen und Vermögen machen sollten. Seinem Sohn Fred konnte Friedrich schon ein Millionenvermögen hinterlassen, das er in der Immobilienbranche gemacht hatte. Am 8. November 2016 ist Trump, der III., Donald, zum 45. Präsidenten der USA gewählt worden. Der tuberkulöse Karl Roßmann hat von seinem Schicksal weniger Chancen zugemessen bekommen.

3.
Um die Massen nicht unkontrolliert ins Land strömen zu lassen, richtete man ab 1892 auf Ellis Island rund zwei Kilometer vor der Spitze von Manhattan auf einem elf Hektar großen Areal eine gigantische Selektions- und Kontrollfabrik ein. Der „Immigration Act“ verfügte, dass Verbrechern, Kranken und Schwachen die Einreise verweigert wird. Im Schnitt werden zwanzig Prozent dieser Prozedur unterworfen. Sie werden abgesondert, es folgt tagelanges Warten und die Verfrachtung auf ein Schiff zurück nach Europa. Die Kosten müssen die Reedereien tragen, die sie nach Amerika gebracht haben. Manche Familien werden zerrissen, wenn die Mutter wegen eines kranken Kindes zurückfahren muss und der Vater in den USA bleiben darf. Wegen dieser ständigen Tragödien wird Ellis Island auch die Träneninsel genannt. Galgen-Insel hieß dieser Flecken Land unter den Holländern, weil hier Piraten aufgehängt wurden. Wie schön noch der Name, den ihr die indianischen Ureinwohner gegeben hatten: Kiosqu – Möweninsel.

Die Neue Welt zeigt sich zunächst abweisend. Wer durch die erste Sortierung kommt, gerät in eine gigantische Maschinerie, in ein militarisiertes System von Schleusen, Käfigen und Fließbändern. Er muss in der 1800 m² großen und acht Meter hohen Registrierhalle auf langen Bänken Platz nehmen und auf den Aufruf seines Namens warten. Stundenlang, tagelang, immer in Angst, ihren Namen zu verpassen oder eine Anweisung nicht zu verstehen. Sie wissen nicht, wie lange sie in dieser Zwischenhölle bleiben müssen und was mit ihnen geschehen wird. Die Halle ist in Schlangenlinien durch Eisengitter getrennt und hat einen Galeriengang, von dem aus die Medizinstudenten das Geschehen beobachten können.

Das System ist brutal und effizient: Als Erstes werden die Geschlechter getrennt, dann Fragen nach Name, Herkunft, Beruf, Zielort, Unterschrift. Analphabeten werden sofort beiseite geschafft. Als Intelligenztest – ein neuer Zugriff der damals noch jungen Disziplin der Psychiatrie - muss der Immigrant ein einfaches Puzzle aus Klötzen legen können und allerhand obskure Fragen beantworten: „Wenn ein Junge seine Eltern aufisst, was ist er dann?“ Nicht Kannibale, sondern Waise, ist die richtige Antwort. Oder: „Wenn Sie zwei Pferde, drei Kühe und vier Schafe hätten, wie viele Tiere hätten Sie?“, wird ein osteuropäischer Bauer gefragt. Er kann zwar nicht zusammenzählen, gibt aber eine logische Antwort: Wenn ich so reich wäre, hätte ich nicht auswandern müssen. Der Bericht eines Psychologen bestätigt den Russen, Italienern und Ungarn zu achtzig Prozent „Schwachsinn“.

Wird eine ansteckende Krankheit festgestellt, kommt er in eine Spezialklinik.
Tuberkulose, Diphtherie, Keuchhusten und Masern sind am häufigsten. Manch einem Ankömmling hat die Quarantäne aber auch das Leben gerettet, vor allem Kindern und Jugendlichen.

Durch die Hände der uniformierten Ärzte und Sanitäter gehen täglich bis zu 12 000 Menschen. Brutal und effizient. In der Kinderstation hängen Schilder an den Wänden „Don‘t kiss the patients!“, eine Warnung, sollten die Krankenschwestern von Mitleid überwältigt werden. Zur Zeit, als Karl Roßmann von Bord gehen wollte, kamen jährlich ungefähr 500 000 Immigranten in New York an. In den dreißig Jahren der Nutzung von Ellis Island trafen zwölf Millionen Menschen ein. Bis zur großen Krise Ende der 20-er Jahre konnte die amerikanische Wirtschaft die fremden Arbeitskräfte leicht aufnehmen. Im 2. Weltkrieg diente Ellis Island als Internierungslager für enemy aliens, die Staatsbürger der Kriegsgegner.

1954 wurde Ellis Island geschlossen und ist seit 1965 ein Museum. Die Auslese der Einwanderer erfolgt seither an den US-Botschaften oder wird ihnen durch ein Präsidenten-Dekret untersagt. Es gibt wahrscheinlich keine andere Stadt der Welt, die so sehr von den Einwanderern geprägt ist wie New York. Der Besuch von Ellis Island mit Hafenrundfahrt zur Freiheitsstatue gehört zu den beliebtesten Touristenattraktionen am Big Apple.

4.
Von all dem ahnten die Passagiere der „Sibylle“ im April 1912 nichts. Karl Roßmann glaubte bei seiner Ankunft noch, dass er direkt vom Pier von seinem steinreichen Onkel Jakob abgeholt wird. Seine Eltern, die ihn als Strafe für eine verwerfliche Tat allein weggeschickt hatten, wussten nichts von dem unerbittlichen System auf Ellis Island. Vom Nadelöhr der Quarantänestation hat keiner der Emigranten etwas gehört und nichts von den undurchdringlichen Gesetzen ihres Sehnsuchtslandes. Die damaligen Schlepper – die Schifffahrtsgesellschaften – gaben aus Gründen der Gewinnmaximierung keine Informationen weiter. Sie füllten ihre Zwischendecks mit so vielen Passagieren, dass die Schiffe gerade nicht untergingen.

Karl Roßmann ist jung und übersteht die Todespassage ohne Schaden, wie er selbst dem Kapitän versichert. Aber er trifft keinen Heizer, keine Köchinnen, keine Kehrer, keinen verbrecherischen Kassier Schubal, keinen Franz Butterbaum, keine Kassierer, keine Schiffsoffiziere, keinen Kapitän und auch erst recht nicht seinen steinreichen Onkel Jakob, den selbsternannten Senator Edward Jakob, der vom Jakob Bendelmayer zum stolzen Amerikaner geworden war. Karl betritt keine von Kafkas Treppen, keine Gänge, Küchen, Heizräume und Kapitänskajüten. Er besteigt keinen Kahn mit Matrosen, die ihn im Auftrag des Kapitäns zusammen mit dem Onkel ans Ufer rudern sollen. Er wird nie in Jakobs Firma aufgenommen, nie im gigantischen Hotel Occidental als Liftboy dienen, auch nie die perverse Sängerin Brunelda kennenlernen und in ihre Dienste treten, nie das „Große Naturtheater von Oklahama“ sehen, nie ein berühmter Hundetrainer werden und auch kein Engel mit Posaune. „Die Idylle von Oklahama“, die Arthur Holitscher in seinem Buch von der Neuen Welt anführt und von der Kafka die falsche Schreibung von Oklahama übernimmt, ist in Wirklichkeit eine Fotografie einer Lynchjustizszene an einem Schwarzen, umringt von vergnügungssüchtigen Weißen.

Weil die Fahrt der „Sibylle“ am Pier von Ellis Island endet, wird er nie seinen Fuß auf Manhattan setzen. Im Labyrinth der Träneninsel verliert sich die Spur des Karl Roßmann. Den Verschollenen können die Verwandten nach einer bestimmten Frist für tot erklären lassen. Er hat von zu Hause ein Mitbringsel im Gepäck, die Tuberkulose. Sein unaufhaltsamer Abstieg von der Fallreep nach Ellis Island wird sein einziger bleiben, und von Amerika hat er nicht mehr gesehen als das falsche Schwert der Liberty.

1.6.17

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 17151

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Ein Gedanke zu „Karl Roßmann kam nicht bis Oklahoma

  1. robert müller

    inhaltsbezogen:
    na ja, ist vielleicht ein wertvoller gemütsdämpfer für übermütige menschen, und ggf. wird auch jemand, dem es schlecht geht, nach der lektüre meinen, dass er es vergleichsweise eh noch gut hat.
    aber ansonsten weder spannend noch unterhaltend noch wertvolle inhalte vermittelnd. dass die welt keine geburtstagsjause ist hätte man vorher auch gewusst.
    geschrieben ist das gekonnt und trostlos zielführend.

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