Es ist 22 Uhr 24. Grell. Der Schein meiner Schreibtischlampe irritiert mich. Seit genau einer Stunde starre ich nun auf das leere Blatt Papier vor mir. Nichts. Immer noch nichts. Eine Stunde und nichts. In ziemlich genau zwanzig Minuten wird sie nach Hause kommen, und ich muss meine Arbeit beenden. Gezwungenermaßen. Sie hält nicht viel von meinen Geschichten. Vermutlich zu Recht. Charakterlose Figuren in seelenlosen Räumen mit fragwürdigen Motiven, die langweiligen Tätigkeiten nachgehen. Unspektakulär. Mit einem Wort: real. Sie erkennt sich in meinen Erzählungen wieder, deswegen kann sie nichts mit ihnen anfangen. Absurd eigentlich. Als würde man in einen Spiegel sehen und sein Gegenüber nicht wahrhaben wollen.
22 Uhr 26. Ich drehe meine kleine Stereoanlage auf das Maximum der minimalen Lautstärke, um meine Lieblingsstelle im „Schwanensee“ von Tschaikowsky einigermaßen genießen zu können. Ich schalte die Lampe aus und schließe die Augen. Dunkelheit. Tschaikowsky, immer noch zu leise, im Hintergrund. Augen auf, Lampe wieder an. 22 Uhr 27, falsche Stelle. Grell. Ich muss mich erst wieder an das Licht gewöhnen. Eine Weile blicke ich einfach auf den Zettel vor mir, bis ich die Anlage schließlich zurück auf ein Minimum stelle. Mit klassischer Musik habe ich eigentlich nicht viel am Hut. Mozart, Beethoven und Bach. Die drei Großen ihrer Zeit kenne ich natürlich. Oder waren es Bach, Mozart und Haydn? Ich weiß es nicht. Aber Tschaikowsky finde ich trotzdem schön.
Ich prüfe die Spitze meines Bleistifts. Perfekt. Nicht zu spitz, sodass er abbrechen könnte, sobald man ihn auf das Papier setzt. Genau richtig. Wenn mir jetzt nur irgendetwas einfallen würde. Etwas Großes. Es muss schon etwas Großes sein. Natürlich ist mir klar, dass ich weder Tolstoi noch Hemingway noch Schnitzler bin, aber Kehlmann würde ich hinkriegen. Vielleicht. Oder nicht? Von ihm ist doch dieser Roman über die beiden Herren, die durch die Welt reisen und etwas abmessen sollen? So oder so ähnlich, glaube ich. Oder war der von Köhlmeier? Jedenfalls soll die Geschichte ziemlich gut gewesen sein. Aber wer möchte sich schon mit anderen vergleichen. Man ist schließlich einzigartig. Und so sollen auch meine Texte sein. Nicht so wie von diesem Kehlmann oder Köhlmann.
Ich lehne mich zurück, lege den Kopf in den Nacken. Obwohl die Musik läuft, höre ich das unablässige Ticken der Uhr. Tick, tick, tack, tick, tack, tick, tick, tick, tack. Einmal tief einatmen und ausatmen. Weiter geht‘s. Nur womit? Es gibt noch nicht einmal einen Anfang. Beunruhigt wandert mein Blick auf die silberne Taschenuhr, die ich vor mir auf den Tisch gestellt habe. 22 Uhr 33. Zumindest einen Absatz möchte ich heute schaffen. Einen kurzen. Ein paar Sätze nur. Meinetwegen etwas Banales, wie die Fahrt in der Straßenbahn. Oft sind die langweiligsten Einstiege die mit der besten Geschichte im Gefolge. Ich setze den Stift auf das Papier und halte die Luft an. Wieso? Grell. Das Licht ist beinahe unerträglich. Wenn sie nach Hause kommt, werde ich sie um eine neue Lampe bitten. Unmöglich, so zu arbeiten. Mit einem Stoß lasse ich die Luft wieder aus meinen Lungen. Mein Glaube, dass mit der Luft auch die Ideen aus mir herauskommen würden, hat sich leider nicht verwirklicht. Trotzdem versuche ich es immer wieder. Tick, tick, tack. Der Schwanensee ist aus. Die Aufnahme ist relativ kurz. Ich habe gehört, dass sie eigentlich viel länger ist. Ich wüsste gerne, was fehlt.
Immer noch liegt die Mine des Bleistifts am Papier auf. Aber viel mehr als ein Punkt ist es noch nicht. Weit entfernt davon, ein Wort zu sein. Wie beginnt noch gleich Vernes „In achtzig Tagen um die Welt“? „Im Jahr achtzehnhundertirgendwas wohnte in dem Haus, in dem jemand gestorben war, ein Mann namens Phileas Fogg.“ So ungefähr war das doch. Auch kein bahnbrechender Anfang. Aber es ist einer. Und wer hätte damals gedacht, dass dieser simple Satz der Beginn eines der erfolgreichsten Werke der klassischen Literatur werden würde? Verne selbst vermutlich nicht. Wie lange das wohl gedauert hat? Diesen ersten Satz zu schreiben, meine ich. Ob er auch so lange überlegt hat? Gut Ding braucht eben Weile, sagt man doch.
Ich hätte vorher Ideen sammeln, meine Gedanken aufschreiben sollen. Viel zu selten mache ich mir Notizen. Und was ich notiere, findet selten Verwendung. Wenn ich nur einen klaren Gedanken fassen, ihn formulieren könnte. Mein Blick wandert im Raum umher. Viel gibt es nicht zu sehen. Nur wenig erinnert mich überhaupt an irgendetwas. Auch in den Schubladen meines Schreibtischs werde ich nicht fündig. Unnötiger Krimskrams, sonst nichts. Ich lege den Bleistift weg und nehme den kleinen Papierkranich, der viel mehr wie ein Pferdchen mit Flügeln aussieht, in die Hand. Ein paar Mal drehe ich ihn herum, dann lege ich ihn wieder zurück. Ich sehe ihn weiter an. Eine Erinnerung, die ich nie vergessen werde. Vor langer Zeit hat ihn mir jemand geschenkt. Einfach so war er in meiner Westentasche, den Moment weiß ich noch genau. Plötzlich war es in meinem Leben, das Mädchen, von dem ich dachte, dass ich niemals einen Tag ohne es sein könnte. Das letzte Mal habe ich es vor fünf oder sechs Jahren gesehen. Wann und wo, weiß ich nicht mehr. Wie wichtig diese ersten Male sind, während das letzte Mal oft keine Bedeutung hat. Irgendwann ist es einfach so weit. Ohne es zu merken, ist der wichtigste Mensch in deinem Leben gar nicht mehr so wichtig und nur noch eine Erinnerung auf einem Bild an der Wand oder eben ein Origami auf deinem Schreibtisch. Vielleicht sollte ich das aufschreiben.
22 Uhr 41. Jede Sekunde könnte ich den Aufzug hören, den Schlüssel, das Schloss dreht sich um, Tür auf, sie steht in der Wohnung, in meinem Zimmer. Nein. So weit darf es nicht kommen. Ich möchte sie heute nicht mehr sehen. Sobald ich den Lift höre, sofort Licht aus und ins Bett unter die Decke, Augen zu und ruhig atmen, wenn sie die Zimmertür aufmacht, soll sie glauben, ich schlafe. So mach ich das. Tick, tack, tick, tick, tack.
Man sollte meinen, heutzutage besitzt man keine Taschenuhr mehr und wenn, dann ist es ein Erbstück oder ein Geschenk vom Großvater oder Ähnliches. Ich wünschte, ich hätte eine tolle Geschichte zu dieser Uhr, hab ich aber nicht. Vor einem Jahr etwa habe ich sie in einem Uhrengeschäft gekauft, kein Second-Hand-Laden, sie ist neu, schlicht, ohne großartige Verzierungen, innen ist ein einfaches Ziffernblatt. In regelmäßigen Abständen muss man sie aufziehen. Wenn mich die Leute danach fragen, erzähle ich, sie sei von meinem Urgroßvater, der sie im ersten Weltkrieg einem gefallenen Soldaten abgenommen hat. Alle glauben sie mir. In Wahrheit weiß ich gar nicht, ob einer meiner Urgroßväter oder Großväter in irgendeinem Krieg gekämpft hat. Darüber werde ich wohl nicht schreiben.
Mein Blick haftet wieder am Papier, der Stift ist in meiner Hand. Je einfacher, desto besser. Einen Moment schließe ich meine Augen, mein Kopf ist völlig leer. Die Sekunden verstreichen. Dann öffne ich sie wieder. Und es geht los. Endlich habe ich eine Idee. Ein Wort, eine Phrase, ein Satz nach dem anderen. Ich kann gar nicht aufhören. Wie ich es geplant hatte, beschreibe ich die Menschen, die Räume, die Absichten dieser Menschen, so wie ich sie kenne. Es soll möglichst realistisch sein. Keine Fantastereien. Eine Milieustudie sozusagen. Längst sind aus einem Absatz zwei, sogar drei oder vier geworden. Der Bleistift ist immer noch spitz genug, von ihr keine Spur. Normalerweise ist sie pünktlich. Genau um 22 Uhr 47 schließt sie für gewöhnlich die Wohnungstür auf. Seit ich mich erinnern kann, war das nie anders. Jeden Mittwochabend. Sie steigt um 22 Uhr 24 in die Straßenbahn, fährt achtzehn Minuten bis zur Endstation und von dort geht sie die restlichen fünf Minuten zu Fuß bis zu unserem Haus, in unsere Wohnung. Ich lege den Bleistift zur Seite. Drehe meinen Kopf in Richtung Uhr.
Ein Knall. Ich schrecke auf. Grell. Das Wasserglas, das ich auf den Schreibtisch gestellt habe, ist zu Boden gefallen und zerbrochen. Wasser überall. Ich muss eingeschlafen sein. Das Licht blendet mich. Mein Blick fällt auf das Blatt Papier. Es ist leer. Es wäre zu schön gewesen. Die Stille um mich herum beunruhigt mich. Ich schaue auf die silberne Taschenuhr vor mir. 22 Uhr 41. Die Uhr tickt nicht mehr. Sie muss stehengeblieben sein. Meine Augen brennen. Ich schalte das Licht aus.
Anna Bartl
www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen | Inventarnummer: 17162