Die kurze Schlüsselgasse mündet in die untere Wiedner Hauptstraße und bildet auf der rechten Seite des Gehsteiges eine Halbinsel. Die Wiener sagen dazu „Ohrwaschl“. Dort steht vor einem Rabatt mit immergrünen Büschen unter einer Linde eine Bank. Fußgänger rasten dort gerne. Manche machen ein Picknick, andere rauchen eine Zigarette, trinken ein Bier oder schauen in einer Shopping-Pause auf den immer fließenden Verkehr. Zwei Straßenbahnlinien, der 1er und der 62er, die Badner Bahn und der Badner Bus. Der Autostrom sowieso. Ich sitze auch manchmal dort und erfreue mich am meisten an der Lindenallee – der längsten von Wien, wie die Wiedener gern behaupten. Während der Blüte, drei Wochen Ende Mai, Anfang Juni, duften sie so atembetörend stark, dass sie sich sogar gegen den Verkehrsgestank durchsetzen.
Das der Halbinsel am nächsten liegende Geschäft mit dem irreführenden Namen ist das Friendly House. Eine ehemalige Konsum-Filiale. Es verkauft Zubehör für Musiker und DJs. Vor der Tür herrscht immer reges Treiben von Zigaretten rauchenden jungen Männern, die die Kippen noch immer auf den Gehsteig oder in die Büsche werfen. Gleich daneben eine Palmers-Filiale mit ihren ausgestellten Frauen-Verhöhnungen. Dazwischen liegt der Eingang zu meinem Wohnhaus. Von welcher Seite ich auch immer mich nähere, komme ich an dieser Bank vorbei und sehe, wer dort sitzt. Ein neugieriger Augensheriff.
Manchmal lässt sich auf dieser Bank ein Mann nieder, ein Sandler, ein alter Mann mit einem Supermarkt-Wagerl. Dort befindet sich sein Haushalt, fein säuberlich geordnet in verschiedenen Plastiksackerln. Wahrscheinlich ist das seine Wohnungseinteilung: Ein Kleiderzimmer, eine Küche, ein Badezimmer.
Ich habe ihn noch nie anders da sitzen gesehen: der Oberkörper eingeknickt, der Kopf tief auf der Brust und in allen Gliedern völlig bewegungslos. Und das lange Zeit.
Nach oben die Straße zu Bank und Post, dann der Optiker, gegenüber das Haushaltswarengeschäft „Zur goldenen Kugel“, daneben ein kleines Kaffee, der Spar-Gourmet, auf meiner Seite der russische Schuster, die tschechische Kosmetikerin, die albanische Schneiderin, der Bilderrahmenmacher aus Steyr, wieder das Palmers-Geschäft und endlich verschwinde ich in meinem Haustor. Der Sandler bleibt draußen.
Er sitzt noch genau so da wie zuvor, als ich das Haus wieder verlasse.
Er scheint zu schlafen oder zumindest tief zu meditieren. Wäre das nicht die Wiedner Hauptstraße im 4. Wiener Gemeindebezirk, könnte man meinen, einen Säulenheiligen in der leeren Wüste vor sich zu haben. Mit unsichtbaren Erscheinungen und Erkenntnissen, vollkommen nach innen gerichtet. Ich habe ihn noch nie mit jemandem sprechen gesehen oder beobachtet, dass er dem Treiben auf der Wiedner Hauptstraße seine Aufmerksamkeit zugewendet hätte, nie beobachtet, woher er kommt und wohin er geht. Sicher ist, er bettelt nicht, streckt keine Hand vor, hat keine Flasche, keine Bierdose, keinen Becher, keinen Hut und keinen hungrigen Hund bei sich. Bei aller sichtbaren Verkommenheit hat er etwas so Würdiges an sich, dass ich noch nie gewagt habe, ein Wort an ihn zu richten.
Wer und was ist er? Ein ruhender Flaneur? Ein Philosoph, ein Guru? Vielleicht sieht und hört er alles? Vielleicht kennt er die Antworten auf alle Weltfragen?
Oder, schießt es mir durch den Kopf, hat er einmal in seinen besseren Zeiten in einem dieser herrschaftlichen Häuser der unteren Wiedner Hauptstraße gelebt? Würde ich in seiner Situation dorthin zurückkehren oder eher auf dem Verschubbahnhof von Simmering in einem abgesandelten Waggon meine Zeit verbringen? Vielleicht geht sich beides aus?
Die langen, grauen Haare kringeln sich um den Hals, und der weiße Bart bedeckt fast das ganze Gesicht. Was man davon sieht, ist sonnenverbrannt und von tiefen Furchen durchzogen. Er dürfte eine markante Nase haben. Sie hängt noch extra lang über den eingefallenen Brustkorb. Alter – unbestimmbar alt. Seine Kleidung besteht bei jedem Wetter, auch in diesem heißen Sommer, aus einem löchrigen Pullover und einer schlabbrigen, schwarzen Wollhose. Daran ist auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches, ein Obdachloser, wie man ihn an vielen Orten sehen kann. Meine Blicke hat aber sein Schuhwerk angezogen; es sind graue Crocs aus Plastik, groß wie Boote, und zwei Paar dicke Wollsocken.
Die Beine mit diesen Schuhen hat er entspannt vorgestreckt, eine Hand hat er am Griff des Einkaufswagens, neben ihm liegt auf der Bank ein Billa-Sackerl.
Was es genau war, weiß ich nicht mehr. Einmal packte mich irgendetwas an seinem Anblick, wahrscheinlich waren es diese Plastikschinakeln mit den zwei Paar Socken im Sommer bei fast vierzig Grad. Kurz zögerte ich, aber dann konnte ich es nicht lassen: Ich lief ein paar Häuser die Wiedner Hauptstraße hinunter zum Laden der Volkshilfe und kaufte um Euro 12,90 ein Paar Männer-Turnschuhe der Größe 44. Dann sprang ich rüber und raffte beim Spar in einen Sack sechs Semmeln, ein Kranzerl Extrawurst, einen Becher Fruchtjogurt und eine Flasche Mineralwasser zusammen.
Warum hatte ich Herzklopfen, als ich zu ihm zurückkehrte und die Sachen neben ihn auf die Bank stellte? Das ist für Sie. Sprach ich es aus oder dachte ich das nur? Es gab keinerlei Reaktion von der Bank. Die Angst, ihm die Ehre zu nehmen und seinen Stolz zu rauben. Er bettelt ja um nichts, er sitzt einfach nur da, ruht sich aus, von was auch immer, wie jeder andere Passant auch. Auf jeden Fall, er schaute nicht auf und rührte sich in keinem Glied. Ich bekam schwache Knie und einen flauen Magen, flüchtete geradezu in mein Haustor und begann mich zu schämen. Verdammt, das ist nicht gut angekommen. Ich kann‘s aber nicht ändern. Schnell viele Gießkannen schleppen und die Blumen im Hof gießen. Darüber war der Mensch von draußen vor dem Tor wieder weg.
Heute um 18 Uhr 30, gerade als ich von Trafik, BIPA und Spar zurückkomme und auf mein Haustor zustrebe, sehe ich ihn nach langer Zeit wieder. Er sitzt nicht auf der Halbinsel der Schlüsselgassen-Mündung, sondern auf der Bank vor dem Rahmenmacher. Für die Rückkehr in die menschliche Gesellschaft hat er sich einen besonderen Platz erwählt. Trotz des Schattens der Lindenallee erkenne ich ihn sofort, oder das Abbild von ihm.
Aufrecht, der Rücken kerzengerade an der Lehne, ohne Einkaufwagen, kein einziges Plastiksackerl um ihn herum, das Haar halblang geschnitten, der Bart auf Kinnlänge gestutzt, ein Sakko mit einem bunten Hemd darunter, die Kragen über die Revers ausgeschlagen, die Stoffhose irgendwie anders, gerader, weniger wabbelig, vielleicht sogar mit einer Bügelfalte, in der Hand eine Zigarette. Was für ein Gesicht, Antlitz, könnte man sagen, schön, immer noch braungebrannt, am Kinn und den unteren Wangen heller, ein hervorragendes Kinn, mit der langen, runden Nase perfekt harmonierend. Ein Typ wie ein Ozeanforscher oder ein Bergfex. Cousteau und der alte Luis Trenker sind die ersten Assoziationsblitze. Und überrascht, er ist gar nicht so alt.
Ich starre sekundenlang blöd in die Palmers-Auslage, drehe mich doch noch einmal um: Der elegant ausgefahrene Ellbogen und die gespreizten Finger paffen an einer Zigarette in einem stolz erhobenen Gesicht. Ein anderer Mensch und doch derselbe.
Aber an den übereinandergeschlagenen Füßen noch immer die Plastiklatschen. Keine Spur von meinen blauen Turnschuhen mit den dreifachen Streifen aus dem Volksladen. Verkauft oder getauscht auf irgendeinem Sandler-Schwarzmarkt? Oder nur wegen der Hühneraugen und Frostbeulen? Die zu lange nicht gestutzten Nägel eingewachsen? Falsche Größe, falscher Geschmack? Sie können doch alles damit machen, auch sofort im Kanaldeckel, im Müllcontainer versenken oder verbrennen. Geschenkt ist geschenkt.
Keine wirkliche Beruhigung bei den unangenehmen Fragen.
Wie kam er zu dieser festen Persönlichkeit, so wie er jetzt da saß und aussah, ein eleganter Flaneur, solange man nicht auf die Crocs sah. Was war passiert?
Irgendetwas war passiert, aber es waren sicher nicht die Streifenschuhe der Nummer 44. Die Wiedner Hauptstraße hat ein Geheimnis mehr.
Und versteckt es noch immer. Nach den Hitzetagen war er lange verschwunden.
Aber heute gegen Mittag, als der Regen gerade heftiger wurde, schütteten die Linden auf der Wiedner Hauptstraße ihre letzten gelben, grünen und orangen Blätter auf den Gehsteig. Da sah ich ihn wieder, seinen Einkaufswagen sorgfältig mit einer Plane abgedeckt, wie er die Bank am Ohrwaschl der Schlüsselgasse ansteuerte. In seinem altbekannten Pullover, der Bart wieder bis auf die Wangen hinaufgewachsen, die graue Haarsträhne im Nacken, jetzt schon nass. Die Füße in den alten grauen Crocs, die durch die Blätter und Lacken schlapfen. Man verändert sich eben nicht mehr so gern ab einem gewissen Alter.
7.8. und 21.10.17
Fortsetzung 1
Mein Sandler auf der Wiedner Hauptstraße
Heute, 18.12., ca. 10 Uhr 30, sonnig und kalt, nach langer Zeit den Mann wieder gesichtet, auf der Wiehau unterhalb der BAWAG, mit seinem Supermarkt-Wagerl, das mit einer grauen Decke bedeckt ist. Was er dort mit sich führt, ist nicht zu sehen. Wahrscheinlich sein gesamter Haushalt, wie im Sommer vor meinem Haus. Auf der Decke oben liegt ein graues, undefinierbares Plastiksackerl. Nicht von Billa, Spar, Hofer oder Lidl. Er kommt von oben und schiebt den Wagen ziemlich schnell die Wiedner Hau hinunter, wirkt zielgerichtet, schreitet weit aus und hält den Wagen fest umklammert. In einem leichten Mantel, nicht gerade winterlich, er schlottert um seinen mageren Körper, ein Rollkragen-Pullover ist im Ausschnitt zu sehen, aber kein Schal, keine Handschuhe, Kappe, Mütze oder Hut. Der faltige Hals so braun. Die zu kurze Hose gibt die Knöchel frei. An den Füßen seine alten, dunkelgrauen Plastiklatschen wie im heißen Sommer, noch dunkler seine Füße, schmutzfleckig, dunkelbraun und NACKT, ohne Socken. Nur die Fersen, die hinten herausschlappen, sind heller, fast weiß-rosa. Die Haarmähne ist kürzer als im Sommer, auch der Bart, fast fassioniert. Schnell erfasst, alles in einem schnellen Blick im Vorübergehen, ein Schnappschuss meiner Augen, aus den Augenwinkeln.
Es hat heute ein Grad über dem Gefrierpunkt. Ich spüre das wie den ersten Frost. Aber die Rosen blühen noch.
Ich friere in meinem Daunenmantel mit dickem Schal und Mohairmütze, Lederhandschuhen und den Waldviertler Schafsocken in den hohen Lederstiefeln.
Ich haste zu meinem Bank-Termin und habe keine Gelegenheit, ihn näher zu betrachten, nicht einmal nach ihm umdrehen kann ich mich. Könnte ich, hätte ich können, wenn ich nicht auf die Bank konzentriert gewesen wäre.
Woher kommt er, wohin geht er? Was hat er vor? Welche „Weihnacht“ steht ihm bevor?
18.12., der Tag der Angelobung der neuen antisozialen Regierung. Will er zum Ballhausplatz? Da käme er nicht durch, nicht einmal ich, wie viele andere auch nicht.
Nur eines ist sicher: Meine Bankprobleme hat er nicht.
Am Rückweg sehe ich ihn nicht mehr.
Veronika Seyr
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