Ich glaube an die Magie der Orte.
Franz Kafka über Müritz, Juli 1923
Vom Sonnenschein angelockt, rüstete ich mich gegen Mittag zum ersten Gang durch die Stadt. Die Schrecken der Nacht würden sich unter dem blauen Himmel auflösen, so die Hoffnung. Ein paar Schritte von der Haustüre die enge Gasse hinunter kreuzt sich meine Via Monte Grappa mit der Via Settembrini und der Galileo Galilei – wunderbare Schutzheilige, denke ich mit Befriedigung. Die Kirche San Rocco ist so groß, dass sie auf jedem Platz Mailands stehen könnte, der anschließende Corso Emmanuele I. ebenfalls. Immer wieder diese Freude und Sentimentalität der Alpenländlerin, wenn unter den Kugelbäumen vom Sturm abgeschüttelte Orangen liegen und nicht angefaulte Mostbirnen oder zerdeptschte Zwetschken. Das ist schon mal der Anfang von der Italieneta!
Als Erstes im Tabacchi Zigaretten kaufen, suche nach Schulheften und Kulis, sollten meine mitgeführten Vorräte nicht reichen, Il Giorno von gestern für die Aufbesserung meines eingerosteten Italienisch, Ansichtskarten gibt es keine zu dieser touristenfreien Jahreszeit. Oder ist die freundliche, aber sehr runde Angestellte nur zu bequem, diese aus dem Lager herauszukramen? Wahrscheinlich wirke ich auf sie zu komisch und exotisch, dass sie wie gelähmt ist.
Als ich mit meinen Schätzen wieder auf den Corso heraustrete, steuert eine alte Frau ausgerechnet auf mich zu – eindeutig die einzige Touristin außer mir – und fragt mich – mich? Warum? Schaue ich italienisch aus? – in fünf gebrochenen Italien-Worten nach dem Weg zum Meer. Sie sieht aus wie eine weißhaarige Virginia Woolf, und ich antworte daher auf Englisch, gebe ihr die vage Richtung an, nach Süden, soviel ich vom Balkon aus hatte sehen können.
Sie schenkt mir ein so dankbares Lächeln, als hätte ich sie von irgendetwas erlöst.
Ich will eigentlich auch dorthin, durchquere aber zuerst die Stadt der Länge nach. Erst als sie in Felder überzugehen beginnt, nehme ich die Straße nach Punto Maria della Leuca, das ist dem Führer nach das Kap mit dem Leuchtturm und der Wallfahrtskirche.
Die Ausfahrtsstraße ist gesäumt von verschlossenen Villen, eingewinterten Gärten, zerfressen von Gewerbeparks – Industriekeramik, Teppichland, Fliesenland, Grabsteinland, Autozubehör, Tankstellen. Auch die grindige Pizzaria Vesuvio und eine Bäckerei haben geschlossen. Ich bemühe mich, mir die Schönheit dieser Gegend im Sommer vorzustellen. Das ist gerade schwer. Der Wind stößt mich ruppig vorwärts, manchmal zur Seite. An einer schmalen Stelle des Gehsteiges fegt mich eine Windböe auf die Straße. Zum Glück kommt gerade kein Auto daher, aber der Schock ist so heftig, dass ich in die nächste zur Stadt zurückführende Gasse einbiege und meinen Gang zum Meer auf besseres Wetter verschiebe.
Die Sonne ist da, aber sie ist so kalt, dass ich mir ein warmes Kaffeehaus herbeiwünsche. Nix da, gibt‘s nicht, ein einziges Café am Ende des Corso ist offen, drinnen und davor schwarz vor alten Männern. Also setze ich mich mit einem Fingerhut von Espresso – so schmeckt Kaffee! – an einen der Tische vor dem Lokal, dazu einen unübertroffenen Fruttone, ein mit Mandelcreme und Quittenmarmelade gefülltes Törtchen. Mich umschwirrt ein Männergeschwätz, in dem ich kein einziges italienisches Wort erlauschen kann. Die apulische Sprache soll wie das Sizilianische angeblich durchsetzt sein mit Gaben aus dem Altgriechischen, Albanischen und Arabischen, wer weiß was noch Afrikanisches. Viele Orte sind griechische Gründungen, die Nachkommen nennen sich Greki. Der Sonnenseite des Corso entlang stehen Männer an die Hauswände gelehnt – aha, nicht nur mir ist kalt, auch sie wärmen sich.
Zeit für meinen ersten Großeinkauf, beim ersten Queren bin ich an einem Supermercato Sigma vorbeigekommen. Ich raffe zusammen, was an Italianita ich bei mir in meinem Wohnturm haben will: Kaffee, Tee, Parmesan, Schinken, Gorgonzola, Yoghurt, Gläser mit Carceofini, Sugo, Kapern, Oliven, Mayonnaise, Honig, Marillenmarmelade, eingelegte Tomaten, Paprika und Silberzwieberl, schwarzen Pfeffer unbedingt, weil der wirklich nach Pfeffer schmeckt. Dann Orangen, Mandarinen und frisches Gemüse. Alles etwas teurer als bei uns, wie machen sie das? In einer außertouristischen Saison?
Lange Reihen mit dem üblichen europäischen Schrott von Danone und dänischer Butter, von Schokoriegeln und Katzenfutter. Jetzt noch Wein. Lange suche ich in der großen Auswahl, vergleiche Herkunft und Preise, die einheimischen Marken sagen mir nichts, sie haben aber schöne Namen wie Negroamaro oder Aleatica, und natürlich prüfe ich die Hälse ausgiebig nach Stoppel/Korken und Rillen. Endlich finde ich eine passende weiße und eine rote Flasche mit barbarischem, aber praktischen Schraubverschluss. Ich kaufe einen rosso um sagenhafte 7,90 Euro, einen Sanpietrana aus Brindisi, und einen billigeren bianco aus Tarento.
Jetzt noch schnell beim Panificio vorbei, ein paar Panini und einen kleinen Laib Schwarzbrot, und zurück in den Wohnturm zu meinem ersten italienischen Essen. All das gibt es natürlich auch in Wien zu kaufen, aber hier schmeckt es hundertmal besser. Warum nur? Weil die Sehnsüchte so stark sind. Trotz eines starken Kaffees überkommt mich beim Lesen des Il Giorno schnell der Schlaf – die Nacht hat ja nicht viel davon hergegeben.
Als ich aufwache, ist es schon dämmrig im Zimmer. Die Sonne ist noch nicht untergegangen, aber von grauen Wolkenbänken über dem Meer verdeckt. Schlechte Aussichten für den nächsten Tag. Das Wetter kommt ja immer aus dem Westen. Die Palmen und Eukalyptusbäume im Garten gegenüber werden gebeutelt und neigen sich bedrohlich zu Boden. An den Mauern haben die Rosen und Bougainvilleas noch Blüten, werden aber wie Lorbeer und Feitschi arg durchgeschüttelt. Eine schwarz-weiße Katze schleicht geduckt über eine Steinmauer. Weil es draußen auf dem Balkon zu kalt und windig ist, hole ich den kleinen Tisch ins Zimmer und genieße, geschützt, aber bei offener Türe, Mahl und Aussicht.
Es kann nicht mehr schöner werden, ich habe alles, wovon ich im Wiener Winter geträumt hatte.
Aber oje, die Flasche hat einen Korken, was ich nicht bemerkt habe, weil die Schlaumeier künstlich Rillen in den Plastikbezug des Flaschenhalses gemacht haben. Das kann nicht sein, ein italienischer Haushalt ohne Stoppelzieher? Ich suche die beiden Zimmer systematisch ab, den Geschirrschrank, die Bestecklade im Esstisch, die Küche – vergeblich, bis ich auf dem Sims des offenen Kamins fündig werde. Aber oh Schreck, es ist ein italienischer Korkenzieher, den Kellner so genial einhändig händeln können, aber Laien wie ich nicht beherrschen. Ich kann, wenn überhaupt, nur mit dem zweiarmigen Hebelkorkenzieher umgehen. Ich hole mir Blasen an den Fingern, aber der Korken hält, beste italienische Qualität. Vielleicht der teure Rote? Nix da, der gleiche Trick, wieder künstliche Rillen und ein fest sitzender Korken, in den ich die Spirale zuerst fast nicht hineinkriege, die aber dann auch noch unbeweglich stecken bleibt.
Bevor die Enttäuschung in Verzweiflung umschlägt, laufe ich schnell zum freundlichen Panificio und frage nach einem Geschäft mit Haushaltsgeräten, nicht ohne dass ich zuvor die paar Worte aus dem Wörterbuch herausgesucht und auf einem Zettel notiert hatte. Dove posso trovare cavatappi? Vorrei casalinghi, vorrei cavatappi, ich suche ein Haushaltswarengeschäft, einen Korkenzieher. Der Bäcker ist noch freundlicher und erklärt mir wort- und gestenreich den Weg zu einem Laden mit dem wunderbaren Namen Fortunato. Ich verstehe nur sempre diritto bis zu einem Platz und dann sinistra, gleich an der Ecke ist der negotio von senior Fortunato. Da renne ich also durch die dämmrigen Gassen und finde den Fortunato auch wirklich. Ein Gemischtwarenladen, eine Greißlerei, wie ich sie bei uns schon lange nicht mehr gesehen habe, von allem ein bisschen was. Dove, vorrei, uno cavatappi. Ich habe immer memoriert – cavatappicavatappi mit jedem Schritt – hchhch, das Herz schlägt.
Da ist Fortunatuo! Fortunatus Wurzel, denke ich natürlich. Wo kommt der her? Nestroy oder Raimund? Es ist zu kalt dafür. Er bietet einen Riesen um 8,95 und einen bescheidenen um 3,95 an. Den ich kaufe, dazu noch Zwiebeln, Knoblauch, Ricotta, Eier, Nudeln, Sugo, eine Melone und eine dicke Schnitte Speck. Fortunato schüttelt wortlos den Kopf, weil ich für all das noch zweimal zurückkomme.
Kochen, aufdecken, essen. Ist das ein Fest! Ich habe ein paar Stängel gelber Blumen am Straßenrand gepflückt und in eine Vase gestellt, nehme an, Klee. Hübsch, aber sie knicken sofort ein. Jetzt nur noch der Wein! Aber ich kriege den Stoppelzieher nicht aus der Verpackung, verdammt. Versuche es mit meiner Nagelschere, Feile, mehreren Messern aus der Bestecklade, nichts geht. Er ist atombombenfest in Plastik eingeschweißt – Made in Taiwan. Die Wohnung ist so karg eingerichtet, dass es nichts mehr zu untersuchen gibt. Endlich die Erlösung, im Kamin finde ich eine Axt, die ansonsten sicher nur zum Holzspalten dient. Mit ihr kann ich das Korkenzieher-Gehäuse zertrümmern, aber breche dabei gleich einen Arm ab. Den Sanpietrino kann ich doch noch öffnen.
Ich bin erschöpft, aber Anspannung und Kälte gleiten allmählich in allgemeines Wohlbefinden über. Dann will ich das auf dem großen Holztisch ausgebreitete Stillleben mit meinen Einkäufen fotografieren, die beiden Korkenzieher im Vordergrund und den befreiten Sanpietrino dahinter. Da zeigt meine Kamera blinkend an, dass sie keinen Saft hat. Und das Aufladekabel ist zu Hause geblieben. Wer denkt schon an so was? Wer hat überhaupt noch eine aufladbare Kamera? Also morgen eine neue Suche aufnehmen, beim Bäcker anfangen bis zum Fortunato, vielleicht.
Da höre ich ein Klopfen unten an der Tür, es ist eher ein Donnern, da tief unten eine Eisentür. Rocco fragt, wie es mir geht. Alles in Ordnung? Tutto bene, grazie, vabene. Grazie! Mein Italienisch ist so gut wie bei Donna Leon. Selig, Abreise noch einmal aufgeschoben.
Wien, 7.3.18
Veronika Seyr
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