Lautsprecherdurchsagen - Impressionen aus dem Gänsehäufel

Ein Badesonntag Ende Juli 18, die Marke von 35 Grad ist fast erreicht. Hitzepol wie immer in Hohenau an der March. Ich in den Wochenend-Zeitungen lesend, lagernd im löchrigen Schatten von mageren Pappeln und Erlen. Wenn die Sonne durchs Laub kommt, muss ich mit meinem Tuch in einen anderen Schatten wandern. Herrliche Ruhe, die FKKler sind dezente Leute. Ein leichter Wind, die wirklich blaue Alte Donau in Blickweite, Schwäne und Nil-Gänse schaukeln leicht auf den Wellen, Möwen darüber, eine Entenmutter watschelt mit drei Jungen angstlos durch den Dschungel aus Decken, Taschen und Floaties. Ich muss immer öfter ins Wasser rein und danach lange unter die kalte Dusche. Das Wasser der Alten Donau ist badewannenwarm, 28 Grad. Vom kühlen Nass kann schon lange keine Rede mehr sein. Wann kippt sie? Eine Frage der nächsten Tage. Das Wasser ist schlierig, wirft verdächtige Bläschen, und das Wassergras schwappt einem durch Mund und Zehen.

Danach schreckt mich in der Zeitung eine Kleinmeldung auf:
Die Korallenriffe der Ozeane von Sonnencreme und Kinderlulu zerstört! Ich bin alarmiert. Ähnlich wie die Verdauungspuhs der Kühe. Endlich die größten Feinde erkannt! Kleine Erlösung, nicht das Erdöl und das böse PVC sind‘s. Ein Glück, die Alte Donau hat keine Korallenriffe, aber sicher viel vom anderen. Mehr Idylle als im Gänsehäufel-FKK geht nicht. Für alle Sinne. Wer im Sommer Wien verlässt, ist ein Idiot. Selber schuld.

Da bricht die Realität über uns herein. Gegen zwei Uhr kracht und rauscht es aus dem Lautsprecher:
Ach-tung- Ach-tung (Betonung auf U mit einem K am Ende) - hch- eine Durch-sakee (Betonung auf A- was für eine Sage wird das noch?) - die vierjährige Jolana - sucht- seinen- Papa. Hch. Papa - kommen - bitte - zur Info. Danke! Ihre Info!
Jeweils zweimal hintereinander. Wiederholung nach 10 Minuten. Beim Ausschalten wieder Krachen. Es ist kein Sprechen, sondern ein Zerhacken von Silben, als würde sie einen ihr unverständlichen Text herunterbuchstabieren, so wie wenn ich etwas auf Rumänisch oder sonstwas, das ich nicht kann, vorlesen müsste.

Diese Frauenstimme bömakelt in echt, perfekter, als es sich Fritz Muliar je für Braver Soldat Schwejk antrainiert hat. Dabei dachte ich immer, er ist genial. Er ist genial, aber von der Durchsagefrau hätte er noch etwas lernen können. Sie hat die Funktion einer Kartenabreißerin und Kasterlschlüsselausgeberin am Eingang (ich liebe Wien besonders für solche Posten. Die Badewaschel sind fast alle Ex-Jugos, die Masseurinnen Philippininnen). Ich habe die Info-Frau persönlich gesprochen, als ich einmal bei ihr eine verlorene Sonnenbrille abgegeben habe. Sie ist wirklich eine Tschechin, eine neue Österreicherin.

Im Abstand von 10 Minuten wird die Durchsage je zweimal wiederholt, mit Varianten. Da ist die Jolana einmal dreijährig und sucht ihre Mama. Dann wieder den Papa. Zum Glück irgendwann die ganzen Eltern. Gespickt mit Fehlern und Pausen, in denen man Seufzer und Räusperer hört, warum auch immer. Welche Tragödie sich bei der Info abspielt, mag ich gar nicht wissen. So geht das ungefähr eine Stunde lang. Zweimal dazwischen etwas Neues: Die fünfjährige Lena sucht seinen Papa, Ausgang bitte kommen.

Bei Info. Die sechsjährige Jolana sucht tringent ihren Papa. Bitte melden.
Was sind das für Energieüberschneidungen? Gerade als die Jolana (ein populärer tschechischer Name) lautsprechermäßig gesucht wird, lese ich in Pavel Kohouts genialer Echtzeit-Politsatire Wo der Hund begraben liegt von seiner wilden Nichte Jolana. Ich habe das 500 Seiten starke Buch aus dem Jahr 1988 am Tag davor in einer Wühlkiste am Hohen Markt um 2 Euro erstanden. Geniere mich, dass ich es nicht früher gelesen habe. 30 Jahre Genuss-Verlust. Das Buch ist gespickt mit Schwejk-Zitaten, die ich lese wie einen Kommentar zum Lautsprecher.

Dann sehe ich, dass der vor genau 50 Jahren, zehn Jahre nach der sowjetischen Invasion, von den Neostalinisten nach Österreich ausgebürgerte Tscheche in diesen Tagen 90 geworden ist. Ich habe, hoffe ich, alle seine Stücke in Theatern gesehen, in verschiedenen Ländern, in verschiedenen Sprachen. Dieses Buch kannte ich nicht. Das treibt mir einen Sonnenbrand vor Scham über den Körper.
Hoffentlich hat dem Bundespräsidenten AVDB ein geschichtsbewusster Mitarbeiter eingesagt, dass man Pavel Kohout gratulieren muss. Gelesen habe ich nur einen Artikel in den Salzburger Nachrichten.
Vom jetzigen Bundeskanzler erwarte ich das eher nicht. Der damalige hieß Bruno Kreisky. Er hat die tschechoslowakische Charta 77 offen unterstützt, hat Pavel Kohout und seine Mitstreiter nach Österreich eingeladen.

Bei jeder der Doppeldurchsagen wird die Stimme abgehackter, lauter und dringlicher, fast gehetzt, zuletzt kippt sie ins Hysterische mit einem Hustenanfall der Stimme und des Lautsprechers. Arme Frau, womit kämpft sie mehr, der deutschen Sprache oder leidet sie mit Jolanas Schicksal mit oder geht ihr in der Hitze, so wie uns allen, die Luft aus? Es ist ja heute wirklich sehr heiß. Dann klingt die Lautsprecherdurchsage nur noch wie ein verzweifelter Schluckauf. Bömakeln mit Schnackerl! Gott, wie hätte das den seligen Muliar inspiriert! Jemand hat mir erzählt, dass nicht das legendäre Prager-Deutsch, sondern das Bömaklerische die lingua franca in der k. u. k. Monarchie gewesen sein soll, zumindest in Wien.
Bei Josef Roth beschwert sich ein Feldmeister mit schwerem Pinzgauer Dialekt, dass die alle nit Deutsch kennen.

Ich gehöre nicht zu denen, die über Bucklige lachen und Blinden ein Bein stellen. Aber wer vom Bömakeln seinen Lachreiz gekitzelt fühlt, muss sich dafür nicht genieren (Neudeutsch: fremdschämen), er befindet sich in bester Gesellschaft. Bei Stefan Zweig böhmelt oder serbelt es häufig. Er rät der deutschen Sprache, sich zu rächen, indem sie zurückböhmelt, wobei ich im Moment der Lautsprecherdurchsage nicht weiß, wie das geht. Soll er ein Vorbild sein, wie er das in fast rassistischer Manier macht, zum Beispiel in der Schachnovelle, wo er das verhunzte Dötsch der Ungarn und das Deitsch der Slawen in der Monarchie auf die Schaufel nimmt.
Ich bin gespannt, wie lange es noch dauert, bis der Oberst Bubenic in aufrichtigster Political Correctness aus Ungeduld des Herzens rausgesäubert wird.

Besonders gespenstisch wird es, weil ich da, wo ich im durchlässigen Schatten einer Pappel sitze, den Lautsprecher mit Echo höre. Also ungefähr so: Achtachtuntung, einne Dudurchsaage, didie viervierjährigejährige Jolanana suchtsucht ihrihren Papapapa. Bittebitte meldmelden beibei Ininfo! Dandankeee! Wobei das Bömaklerische das letztendende e besonders in die Länge zieht.
Schwejk mit seinem Seufzer klingt im Ohr: Deitschee Sproch, schweree Sproch.

Apropos Verdoppelung. Vor kurzem im Zug von Wien-Hauptbahnhof nach Bratislava-Petržalka. Kurz nach Gramatneusiedl ertönte aus dem Lautsprecher die kryptische Ansage: Sehr geehrte Damen und Herren! Aufgrund des Verkehrsaufkommens wird in Bruckanderleitha der Zug verdoppelt. Knapp und präzise, diese Information. Ohne Bömakeln, echt Burgendländerisch. Trotzdem hatte ich Schwierigkeiten, mir eine Verdoppelung des Zuges vorzustellen. Und von wegen Verkehrsaufkommen? Was spielt sich da ab? Kommt uns der zweite Zug entgegen, schleicht er sich von hinten an, biegt er in Bruckanderleitha einfach so auf unser Gleis ein und verdoppelt unseren Zug? Und müssen wir den verdoppelten oben auf dem Dach als zweistöckigen Zug bis nach Bratislava-Petržalka mitschleppen? Und überhaupt, was sollen wir mit dieser Information machen? Sitzenbleiben, aussteigen, nachschauen, mithelfen bei der Verdoppelung?

Zurück ins Gänsehäufel. Rund um meinen Platz heben die Lagernden die Köpfe und schauen, so wie ich, fragend und belustigt umher. Vielleicht geht bei ihnen so etwas herum wie in meinem Kopf: Na, was für Eltern sind denn das, die nicht nach ihrer Jolana suchen? Wer mögen der Papa und die Mama sein, denen ihre Jolana so lange nicht abgeht? Die diese Durchsagen nicht hören? Schauen oder hören sie ihr Smartphone mit Stöpseln in den Ohren? Vielleicht verstehen sie die Tschechin am Mikro nicht?
Welche Sprache spricht die drei- oder vierjährige Jolana? Gemeinsame Sprache ist immer etwas Gutes. Oder, oh Gott, sollen sich diese Rabeneltern insgeheim gefreut haben, auf elegante und unauffällige Weise ihre abenteuerlustige Tochter loszuwerden? Eine Kindesentsorgung? Auf so elternlästerliche Gedanken kann man bei solchen Durchsagen kommen.
Und was muss sich erst bei der Info abgespielt haben?
Tränen, Verzweiflung. Vielleicht war die Polizei schon da und suchte mit einer WEGA-Hunde- oder Kickl-Pferdestaffel nach den Jolana-Eltern?

Gegen drei Uhr dürfte die Familie wieder zusammengefunden haben, denn die Tschechin von der Info macht eine neue Durchsage, wieder mit dem wunderbaren Bömakeln, diesmal aber ruhig, mit der Ankündigung des Kasperltheaters. Wie immer an Sonntagen, genau um 15 Uhr. Hoffentlich kann Jolana dieses genießen, und – wiedervereint mit ihren Eltern – den Trennungsschmerz vergessen. Beim Kasperl, seinem Prügel und dem Krokodil. Der Kinderchor der entzückten Angstlustschreie dringt herüber bis zum FKK-Strand. Seid ihr alle daaa? Jaaa! Alles in Ordnung. Kasperl funktioniert noch. Vielleicht war das mit Jolana und ihren Eltern nur ein dramatisches Vorspiel zum Kasperltheater?

Gegen fünf ziehen im Westen dunkle Wolken auf, es grollt immer bedrohlicher, und der Wind raschelt lebhafter mit den Pappel- und Eschenblättern. Meine Zeitungen flattern. Der Himmel in den anderen drei Richtungen ist noch strahlendblau, gesprenkelt mit herzigen Schäfchenwölkchen. Zieht vorbei. Ich bleibe, bin ja nicht aus Zucker. Da rauscht es wieder aus dem Lautsprecher, und eine weibliche Stimme erschallt verdoppelt heraus, diesmal eindeutig auf Donaustädterisch: Aufgrund einer Gewitterwarnung bitten wir um besondere Vorsicht! Ihre Info.
Geheimnisvoll. Vorsicht gut, aber wie? Raus aus dem Wasser, nicht unter die Bäume stellen? Schwierig, im Gänsehäufel sind überall Bäume. Deswegen geht man ja hin. Schnell einpacken und heim? Wenn das alle 25 000 Besucher machen, gibt‘s ein Massaker. Alle Köpfe wenden sich nach oben, dunkelschwarz im Westen. Bald ist genau abgegrenzt der Regenvorhang zu sehen, wie die Silhouetten der Brücken, Türme und Schlote verschwinden und wieder auftauchen – ein schnell ziehendes Gewitter. Der Wind gewinnt Sturmstärke. Ich stehe im Wasser, und eine Frau neben mir fragt, mit Blick in den geteilten Himmel: Kummt‘s oda kummt‘s ned? Das Gewitter.

Gemma oder bleima? Sehr philosophisch. Wie der Roseggerische Regenschirm. Mitnehma oda dolossn. Niminmit, lossindo. Mir wär‘s recht, dann muss ich heute nicht gießen. Ich denke eher praktisch.

Jetzt tragen die Wellen der Alten Donau weiße Kronen, laufen gegeneinander und brechen sich, und das Wasser ist so dunkel wie das Schwarze Meer. Ich frage mich, wo ich bin. Die Schwäne, Enten und Nil-Gänse lagern in der Bucht hinter der Mazzes-Insel. Die Badewaschel laufen gekonnt gelassen die Ufer entlang und pfeifen die Schwimmer immer heftiger aus dem Wasser. Nebenbei: Ich entdecke dabei die erste (1.!) Badewaschlerin, Badewaschelin, Badewaschleurin, ich weiß nicht, wie man sie richtig gendert, auf jeden Fall eine braungebrannte Frau in der weißen Uniform der Wiener Bäder mit der Trillerpfeife um den Hals. Sieg! Wieder eine Bastion erobert! Ah, auf Hochdeutsch Bademeisterin.

Noch einmal dieselbe Durchsage mit dem Aufruf zur Vorsicht aufgrund der Gewitterwarnung. Danke! Ihre Info! Weil ich noch immer nicht weiß, wie man aufgrund der Gewitterwarnung im Gänsehäufel Vorsicht walten lässt, die Blätter der Pappeln und Erlen trotzdem immer lauter rauschen – ich im Kopf: Pappeln – schlechtes Holz, sie biegen sich nicht, sondern splittern oder fallen gleich als Ganzes um. Decken, Handtücher, Pappteller und Nylonsackerl fliegen durch die Gegend, über dem Eskimo-Eis-Stand segelt ein Reklame-Plakat für das heurige Mode-Eis Grande durch die Luft, gleich danach wird der ganze Ständer von einer Böe ausgehoben. Wie die Nackerten jeden Alters und jeder Form ihren Sonnenschirmen und Handtüchern nachjagen, ist ein besonders köstlicher Anblick.

Da fallen die ersten Tropfen auf meine Wochenendbeilage EXTRA der Wiener Zeitung (schlechter, hingeschluderter Artikel über den monarchistischen Widerstand gegen Hitler von dem renommierten österreichischen Historiker M. R.). Wegen meiner Abneigung gegen Pappeln im Sturm entschließe ich mich, wie sehr viele andere auch, zum Aufbruch. Klar, danach Staus allüberall. Im Bäderbus wienerisches Motschgern und Gedrängel.
Die könnten a mea einstönn. Anstatt dankbar zu sein, dass es überhaupt so ein kostenloses Bäderservice gibt. Autos sperren den Bäderbus. Die Eiskäufer beim Italiener ebenfalls. Die U1 übervoll.
Als ich deswegen erst eineinhalb Stunden später daheim aus der U-Bahn steige, stehen die lieblichsten Schäfchenwolken am Himmel über der Favoritenstraße, rosa-goldumrahmt von der untergehenden Sonne, wie zum Hohn. Und der Boden ist staubtrocken. Für mich heißt das eindeutig: Gießen!

Wien, 30.7. 18

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 18140

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert