Der Gefangene von Schloss Weyerburg

Nachdenken über Rache, die Fälle Skripal, Litwinenko, Beresowski u.v.a.

Es ist eine dunkle, stürmische Novembernacht des Jahres 1717. Vier Kutschen rasen aus der Reichshauptstadt hinaus durch die Ebene nach Norden. Die erste, ein Militärtransporter mit schwarzem Doppelgespann von kräftigen Rössern, ist voll besetzt mit Soldaten. Die zweite eine reichverzierte Staatskarosse, die dritte Kutsche ist mit schwarzen Tüchern verhangen, auf dem Kutschbock sitzen Soldaten, und auch auf den Trittbrettern sind ungarische Husaren postiert. Die vierte ist so wie die erste ein Armeetransporter. Eine geheime Staatsaktion. Wer versteckt sich in diesem seltsamen Begleitzug zu nachtschlafener Zeit? Warum diese Eile? Was ist das Ziel der Fahrt?

Dahinter verbirgt sich eines der monströsesten Kapitel der an Schrecknissen wahrlich nicht armen Geschichte Russlands. Die Verfolgung und die Ermordung des Zarewitsch durch seinen eigenen Vater, Peter den Großen. Der Familienkonflikt beginnt schon in der Kindheit. Peter erkennt früh, dass Alexej von Natur aus missraten ist und stellt ihm strenge Erzieher zur Seite, die ihm aber nichts beibringen außer Duckmäuserei, Verstellung, Heuchelei und Intrigenspinnen. Alexej will nichts lernen, interessiert sich nicht für Politik und Militär, was dem Zaren am meisten am Herzen liegt. Ausschließlich die Religion hat es ihm angetan, beeinflusst von seiner frommen Mutter. Er versenkt sich in katholische Mystiker wie Thomas von Kempten und liebäugelt einmal mit den geächteten Altgläubigen, einmal mit dem verhassten Katholizismus.

In seiner Umgebung treiben sich allerhand zwielichtige Popen herum, die ihn gegen die Reformen seines Vaters aufstacheln. Er gefällt sich darin, dass ihn das Volk als wiedergekehrten Demetrius feiert. Bald vermutet der Zar Verschwörungen gegen sich und schickt den Zarewitsch auf Reisen. Gegen seinen Willen wird er mit einer hässlichen, protestantisch-deutschen Prinzessin verheiratet, die er ignoriert, wenn er sie nicht misshandelt. Sie stirbt nach nur fünf Jahren Ehe, nachdem er die Schwangere getreten und eine Treppe hinuntergestoßen hat.
Er nimmt sich eine Mätresse ins Haus, huldigt Völlerei und Sauferei im Palast und in den Vorstädten. Dort sammelt er das Moskauer Volk um sich im Widerstand gegen die neue Hauptstadt und Peters Staatsumbau. Bald droht ihm der Vater an, ihn von der Thronfolge auszuschließen, ihm seine Mätresse zu nehmen und ihn ins Kloster zu schicken. Seine verstoßene Mutter hat Peter schon früh nach Susdal zu den Nonnen verbannt. Als Alexej sie einmal heimlich besucht und Peters Spione das herausfinden, bestraft er den Sohn derart mit Prügeln und Auspeitschen, dass der nur knapp überlebt.

In seiner Not flüchtet der Zarewitsch zu Kaiser Karl VI. nach Wien. Der kann den lästigen Gast nicht einfach abweisen, weil Alexej über seine verstorbene Frau Charlotte von Braunschweig-Wolffenbüttel mit den Habsburgern verwandt ist. Verkleidet als polnischer Offizier Kremenetzky steigt er zusammen mit seiner Mätresse Afronisia, einer leibeigenen Bauernmagd, ihrem liederlichen Bruder und einem idiotischen Diener im Gasthof zum Schwarzen Adler beim Freihaus ab. In Breslau, Frankfurt/Oder, Dresden und Prag hat er sich noch als Oberstleutnant Kochanowski mit Frau und Bediensteten ausgegeben. Es ist zehn Uhr abends, der Vizekanzler Schönborn ist schon im Schlafrock und will sich zu Bett begeben, als „Kremenitzky“ hereinstürmt, sich auf die Knie wirft, zittert und stottert, Speichel fließt aus dem Mund, und ihn anfleht, dass der Kaiser ihn vor dem schrecklichen Vater und Herrscher retten soll. Es ist der 10. November 1717.

Kaiser Karl VI. erteilt seinem Vizekanzler Schönborn den Befehl, den ungebetenen Gast schnellstens verschwinden zu lassen, möglichst ohne Spuren und Wissen anderer. Graf Friedrich Karl Schönborn hat zwei Jahre zuvor eine Burg im Weinviertel erstanden, die Weyerburg in der Nähe von Hollabrunn. Das ist nur eine kurze Strecke von der Hauptstadt entfernt, die Burg ist schwer befestigt, hat dicke Mauern und tiefe Keller, Verliese und Tunnelsysteme. Die Umgebung ist nur dünn besiedelt, und es konnte gut sein, dass niemand etwas von diesem Gast mitkriegen würde. Der Kaiser hat sich noch nicht endgültig entschieden, wie er sich gegenüber der Forderung des Zaren, den Flüchtling auszuliefern, verhalten soll.
Peters Botschaft ist eindeutig: Sollte der Kaiser seinem Wunsch nicht nachkommen, würde er seine Truppen in die österreichischen Länder Böhmen und Schlesien verlegen. Oder sich den ungehorsamen und verräterischen Sohn selbst holen. Also Krieg. Staatskrise. Blamage vor ganz Europa. Für Karl eine ganz besonders unangenehme Lage. Also, der Schönborn soll sie lösen. Ab nach Weyerburg, den Flüchtling dort lebendig begraben und Gras über die Sache wachsen lassen. Habsburgisch.

Der Zarewitsch soll sich in einer schönen, ruhigen Weinviertler Burg ausrasten, nicht zuletzt braucht auch die schwangere Afronisia Erholung. Alexej und seine bunte Entourage werden in die Weyerburg verfrachtet. Wie beschaulich die Ruhepause war, ist nicht bekannt, sie dauerte aber nicht länger als sechs Wochen.
Karl hat nicht mit dem unaufhaltbaren Zorn und Rachegelüsten des Zaren gerechnet. Der lässt nicht locker und schickt seine Agenten nach Wien. Sie sind reichlich mit Geld und Spitzeln ausgestattet und können einen Bediensteten in der Hofburg bestechen. Bald tauchen fremde Gestalten um die Weyerburg auf. Es ist klar, Alexej ist dort nicht mehr sicher. Der Zar bombardiert den Kaiser mit Briefen und mit immer dreisteren Forderungen und Drohungen.

Wieder ein geheimer Transport bei Nacht und Nebel, diesmal in die Festung Ehrenberg in Tirol. Eine uneinnehmbare Burg auf einer einzeln stehenden Felsnadel ohne Zugang in einer unwirtlichen Berglandschaft.
Die Bewohner werden über Körbe an Seilen versorgt. Sogar trainierte Falken und Seeadler werden eingesetzt, um notwendige Güter über Ehrenberg abzuwerfen. Alexej und seine Gesellschaft hausen in Felszellen mit Gittern vor den Fenstern. Es nützt alles nichts. Peters Jäger und Spürhunde nehmen die Fährte auf. Die Geheimdienstoffiziere Wjesselowski, Rjumanzew und Tolstoj sind unermüdlich und fintenreich. Wieder können sie einen Referendar der Hofkanzlei bestechen und erfahren, dass Alexej in Tirol verborgengehalten wird. Karl will keinen Krieg wegen einer Person, die für ihn nicht wichtig ist und die er verachtet, er will jeden Skandal vermeiden und nicht zum Gespött Europas werden.

Im Bezirk Reutte werden die Menschen schon unruhig, weil so viele fremde Gestalten auftauchen. Sie schleichen um die Burg herum und machen die ganze Gegend unsicher. Zwielichtige Personen treiben sich herum, mit falschen Pässen jüngstens Datums, fraglicher Nationalität und verteilen Geld. Russische Spione wollen den Zarewitsch entführen, berichtet der Staatssekretär Kühl, für einen Beamten ungewöhnlich aufgeregt, nach Wien.
Die Feste in Tirol ist nicht mehr sicher.
Große Achtung vor Peters Jagdaktionen hat der Kaiser nicht. Zorn steigt in Karl hoch, und er fühlt sich in seiner Ehre gerührt. So schreibt er an Prinz Eugen von Savoyen auf Französisch:
Keiner dieser barbarischen Moskowiter soll sich des Zarewitschs bemächtigen oder Hand an ihn legen. Diese Schurken – und das sind diese Moskowiter allesamt – sind zu allem fähig.
Bei Prinz Eugen denkt er natürlich an die Armee.

Am liebsten wäre ihm, wenn der Sohn die Verzeihung des Vaters erlangen könnte und schreibt in diesem Sinne an Peter.
Kaiser Karl denkt nach und wendet sich an den Vizekönig von Neapel, den Grafen Daun. Sie beraten sich miteinander.
Du Daun, ich hab da eine russische Wanze im Pelz. Der missratene Sohn vom moskowitischen Peter. Barbaren, Barbaren durch und durch. Hast du dort irgendetwas, wo ich diese Ratte verschwinden lassen kann. Nicht wirklich wichtig, aber sehr lästig. Wanze, Laus, Moskowiter eben.

Ja, Daun hat etwas. Das Schloss Sant'Elmo auf einer Felseninsel im Golf von Neapel.
Von Mantua an sind die Jäger ganz nahe an den Flüchtlingen, von Station zu Station. Bis nach Neapel, bis nach Sant‘Elmo. Daun tut, was er kann, aber die Agenten belagern die Burg und bestechen halb Neapel. Peter droht in endlosen Briefen an Kaiser Karl weiter und immer intensiver. Einmal kündigt er sogar an, von Petersburg aus durchzumarschieren bis nach Neapel, um sich seinen Sohn mit der Armee zurückzuholen. Sein heiliges Recht, als Vater und Alleinherrscher, wie er meint. Der Vater- und Staatsverräter muss gerichtet werden. Was kann mich aufhalten? Karl knickt ein. Für einen Trottel und Unhold wie Alexej, den missratenen Zarensohn, will er nicht mehr riskieren. Schließlich gelingt es Peters Agenten, die schwangere Afrosinia zu kaufen, die Alexej zur freiwilligen Rückkehr bewegen kann. Sie verrät ihren Liebhaber. Was man ihr bei Widerstand alles angedroht hat, kann man sich leicht vorstellen.

Das Ende ist so unendlich schrecklich, dass die russische Geschichtsschreibung darüber hinweggeht, die die Romanows in eine ungebrochene Geschichtstradition stellt. Unter Putin, der sich gern als moderner Peter sieht, ist das wieder besonders modisch geworden.

Peter holt schließlich seinen Sohn aus Sant‘Elmo heraus, mit Hilfe der Spione und von falschen Versprechungen auf Verzeihung und Milde. In Moskau wirft er ihn ins Gefängnis, lässt ihn foltern und unterzieht ihn einem grausamen Prozess. Dann darf ihn die Kirche öffentlich aburteilen. Eines Tages liegt Alexej tot in seiner Zelle. Herzversagen. Manche sagen, Peter, der Vater, hat ihn eigenhändig stranguliert. Auch die Rechtmäßigkeit dieser Art von Bestrafung lässt er von der Kirche absegnen. Er richtet ein pompöses Begräbnis aus und gleich danach ein Volksfest mit Feuerwerk, Zirkus, Flüssen von Freibier und Wodka. Die Moskowiter dürfen auf Alexejs Grab tanzen.

23.3.18

Veronika Seyr
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